E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Edition Blau
Désérable Mein Meister und Bezwinger
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-03973-008-7
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Edition Blau
ISBN: 978-3-03973-008-7
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
François-Henri Désérable, 1987 in Amiens geboren, war zehn Jahre lang professioneller Eishockeyspieler. Nach ersten Novellen erschienen 2015 und 2017 seine Romane Évariste und Un certain M. Piekielny. Der zweite Roman, eine Hommage an den Schriftsteller Romain Gary, wurde in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschien er unter dem Titel Ein gewisser Monsieur Piekielny 2018 bei C.H.Beck. Für seinen jüngsten Roman Mon maître et mon vainqueur wurde François-Henri Désérable 2021 mit dem Grand prix du roman de l'Académie française ausgezeichnet.
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Schweigen. Von Tina habe ich als Erstes ein Schweigen gehört. Sie war eines Morgens im Radio eingeladen, um Werbung für ihr Theaterstück zu machen, der Moderator hatte sie gerade gefragt, ob das Theater die Wirklichkeit nur abbilde oder ob es sie transzendiere, um etwas Universelles zu erreichen, eine Frage, auf die man meistens nur eine abgedroschene Antwort erhält – nicht so bei Tina, die beschlossen hatte, wirklich darüber nachzudenken, als würde sie innerlich jedes ihrer Worte abwägen.
Ergebnis: Stille, eine lange Stille, die der Moderator füllte, so gut er konnte, indem er noch mal die Uhrzeit sagte (9:17 Uhr), den Namen des Senders und den seines Gastes, ihr Alter (achtundzwanzig), ihren Beruf (Schauspielerin), dann den Titel des Stückes (Zweieinhalb Tage in Stuttgart), in dem sie eine Hauptrolle spielte und das ihr eine Molière-Nominierung eingebracht hatte (als beste Nachwuchsdarstellerin), und schließlich, worum es darin ging (die letzte Begegnung zwischen Verlaine und Rimbaud, die zweieinhalb Tage, die sie im Februar 1875 zusammen in Stuttgart verbracht hatten), bevor er seine Frage anders formulierte (also, das Theater – Mimikry oder Mimesis?).
Ich war zu Hause, im Bad, das Radio stand auf der Waschmaschine, ich putzte mir die Zähne und konnte deutlich das Reiben der Borsten auf dem Zahnschmelz hören, ich konnte hören, wie der dünne Wasserstrahl rann und vor allem, vor allem Tinas Schweigen, ja, ich hörte Tinas Schweigen, und ich dachte, man sollte eine Typologie des Schweigens entwickeln, die verschiedenen Formen beschreiben, sie dann kategorisieren, vom suggestiven Schweigen bis zum beklemmenden Schweigen, vom feierlichen Schweigen bis zum betrübten Schweigen, vom monotonen Schweigen irgendwo auf dem Land im Winter bis zum gottesfürchtigen Schweigen der Gläubigen in der Kirche, vom tränenerstickten Schweigen der Totenzimmer bis zum kontemplativen Schweigen der Vollmondliebhaber, alle sollte man sie beschreiben, bis hin zum radiofonen Schweigen von Tina.
Zehn Minuten ging das so, ein quasi vollkommenes Schweigen, nur unterbrochen von den Fragen des Moderators, der sich inzwischen fast dafür entschuldigte, eingeschüchtert von Tinas nachdenklichem Schweigen, einem langen, im Radio ungewöhnlichen Schweigen, dessen Intensität durch die Versuche des Moderators nur noch gesteigert wurde. Sie hatte mich zunächst aufmerksam werden lassen, dann hatte sie mich genervt. Sie schien sich beim Nichts-Sagen zuzuhören, so wie andere sich beim Reden zuhören. Schließlich ließ der Moderator ein Chanson laufen: Ton héritage von Benjamin Biolay – ich erinnere mich, als wäre es heute Morgen gewesen, ich hörte es zum ersten Mal, großartig, dieses Chanson. Si tu aimes l’automne vermeil, merveille, rouge sang, habe ich angestimmt, sagt Ihnen das was? Nein? Na gut.
Jedenfalls hat Tina nach dem Chanson von Biolay angefangen zu reden.
Nicht von sich, nicht von ihrem Stück, nicht, um auf die Fragen des Moderators zu antworten: Sie begann, Gedichte zu rezitieren. Wie viel Zeit haben wir noch, hat Tina gefragt, zehn Minuten, oder? Also lassen Sie mich Ihnen ein bisschen Verlaine, ein bisschen Rimbaud schenken, lassen Sie mich Ihnen Gedichte rezitieren. Und zehn Minuten lang hat sie live im Radio zur besten Sendezeit Verse gesprochen, sie hat mit einem Sonett aus den Poèmes saturniens begonnen, und als sie fertig damit war, hat sie, ohne den Moderator auch nur dazwischengehen zu lassen, mit einem anderen Gedicht weitergemacht, diesmal von Rimbaud: Au Cabaret-Vert, über dessen letzten Vers sie gesagt hat, hören Sie, hören Sie die Alliterationen, der kräftige Krug, mit schimmerndem Schaum / vergoldet von letzter verbliebener Sonne, hören Sie gut zu, und sie hat den Vers wiederholt und dabei jede Silbe einzeln ausgesprochen und jedes Phonem betont, und übergangslos haben wir noch das Bateau ivre bekommen, mit den fünfundzwanzig Vierzeilern, die sie von Anfang bis Ende durchsprach, so wie sie immer gesprochen werden müssten, mit einer gesetzten und bedächtigen Stimme, die nicht an den Stimmbändern entsteht, nicht durch das Reiben der Luft aus der Lunge am Kehlkopf entlang, sondern weiter weg, tiefer, im Herzen, den Eingeweiden, dem Unterleib, was weiß ich, einer Stimme, die einen die klatschende, tobende Tide hören lässt, die einen die Sonnenflechten und den azurnen Schleim sehen lässt, die schwarzen Seepferdchen, die ragenden Archipele, und während man auf einem konkurrierenden Sender einen lokalen Abgeordneten hören konnte, wie er ein von einer Bande von Unfähigen in Hinterzimmern ausgehecktes, zusammengeschustertes Reformprojekt anprangerte, das die Finanzen der Kommunen belasten würde, und auf einem anderen einen Minister ebendiese Maßnahme verteidigen hörte, die in der aktuellen Konjunkturphase notwendig sei, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, das Wachstum anzukurbeln und so wieder das Vertrauen der privaten Haushalte zu gewinnen, und auf noch einem anderen einen Gewerkschaftsführer, der den Regierungschef warnte, der versicherte, er sei entschlossen, Kurs zu halten, wolle aber den gesellschaftlichen Dialog wieder aufnehmen, und auf einem weiteren schließlich einen Imitator, der all diese Leute imitierte, worüber der Moderator der Morgensendung immer wieder bemüht lachte, rezitierte Tina Gedichte, und ich stand da, in meinem Badezimmer, lehnte an der Waschmaschinentrommel, und wie eine Million andere Zuhörer atmete ich an jenem Morgen nur noch bei der Zäsur zwischen zwei Hemistichien.
Ich fand sie abwechselnd affektiert und aufrichtig, angeberisch, dann anrührend, ich wusste nicht, woran ich mich halten sollte, ich wusste nicht, ob ich fasziniert oder verärgert oder beides zugleich war, aber sie hatte mir Lust gemacht, sie und ihre Aufführung zu sehen. Es gab nur noch ein paar Plätze in der Kategorie 4, zu achtunddreißig Euro und mit »eingeschränkter Sicht«. Ich dachte naiv, sie sei teilweise eingeschränkt, diese Sicht, geradezu lächerlich eingeschränkt, ich dachte, zu dem Preis könnte ich mindestens zwei Drittel der Bühne sehen und sogar, wenn ich mir die Mühe machte, mich ein bisschen vorzubeugen, warum nicht, die ganze Bühne – nun war jedoch das, was ich für eine harmlose Warnung gehalten hatte, ein Euphemismus und zugleich echter Betrug: Ich fand mich auf einem Klappsitz hinter einer Säule wieder, was sage ich, einem Pfeiler, einem tragenden, enormen, massiven Pfeiler, und wenn Sie ihn weggenommen hätten, diesen Pfeiler, so wäre zweifellos das gesamte Gebäude in sich zusammengestürzt, und in dem Moment hätte ich nichts dagegen gehabt, es über den Dreckskerlen zusammenstürzen zu sehen, die mir diesen Platz verkauft hatten, denn ich konnte mich noch so sehr verrenken, ich konnte den Hals noch so sehr hinter den meines Nachbarn strecken, nichts. Von Zweieinhalb Tage in Stuttgart habe ich nichts gesehen. Achtunddreißig Kröten, habe ich gesagt. Und siebzig Kröten Osteopathie. Für den steifen Hals.
Das heißt, als ich dort rausging, hatte es mir gründlich die Petersilie verhagelt. Zugegeben, Sie werden mir sagen, dass mich das nicht daran gehindert hat, alles zu hören, vom ersten bis zum letzten Satz – dem authentischen Satz, den Verlaine sagte, als er von Rimbauds Tod erfuhr –, aber dieses nach den Worten von Le Point »sensible und atemlose« Stück von »verblüffender Wirklichkeitsnähe« (Le Monde), »getragen von zwei Schauspielerinnen auf dem Höhepunkt ihrer Kunst« (Télérama), mit der »jungen Lou Lampros, meisterhaft in der Rolle des Rimbaud« (L’Officiel des spectacles), und »der Entdeckung des Jahres in der Rolle von Verlaine« (Elle, die also von Tina sprach), dieses Stück hätte ich dann doch ganz gern gesehen. Zwiespältig war nur die Meinung des Figaro: »Ein Monument an Geschwätz, in einem Bühnenbild ohne Anmut, nur halb gerettet von der gewollt mutigen Besetzung (die beiden Dichter gespielt von zwei Frauen, was für eine Idee!)« – ein Satz, der leider ein wenig zu lang war, um ihn in extenso auf das Plakat zu drucken, wie die Produzenten des Stückes befunden hatten, den sie aber doch teilweise hatten wiedergeben wollen: »Ein Monument (…)!« (Le Figaro).
So stand es da, in Großbuchstaben, auf dem Plakat am Eingang des Theaters: »EIN MONUMENT (…)!« (Le Figaro), und direkt darüber der Titel des Stückes, und noch darüber die Gesichter der beiden Schauspielerinnen, Lou und Tina, Rücken an Rücken, und ich weiß nicht, warum, aber ich war wie gebannt von Tinas Blick, Tinas Augen – Augen, die …
Die Ihr Freund in einem Gedicht thematisiert, sagte der Richter.
mein ständiges
wachsein
störendes
grübeln
stetiges
konzert
meiner nächte:
unerhörtes...