E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Reihe: Arabische Welten
Dschabra Der erste Brunnen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-941-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Kindheit in Palästina
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
Reihe: Arabische Welten
ISBN: 978-3-85787-941-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In seinem autobiographischen Bericht beschreibt Dschabra Ibrahim Dschabra, einer der grossen Dichter und Romanciers der zeitgenössischen arabischen Literatur, seine Kindheit im Bethlehem der zwanziger Jahre. In diesem Schmelzpunkt dreier Weltreligionen, aber auch Ort des immerwährenden Konflikts zwischen Orient und Okzident, wuchs der Autor als Sohn armer arabischer, der christlichen Tradition stark verbundener Eltern auf. Eindrücklich und farbig schildert er seinen ersten Lebensabschnitt, der für ihn 'eine magische Anziehungskraft besitzt, die ewig rätselhaft bleiben wird'.
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Zum Geleit
Eigentlich wollte ich eine vollständige Autobiographie schreiben. Immerhin habe ich selber die Schriftsteller meiner Generation dauernd dazu aufgefordert, ihre Lebenserinnerungen zu Papier zu bringen. Sie sollten den Wandel, die Entwicklung, den Kampf festhalten, die Dinge, die ihr Leben, das Leben jedes einzelnen von uns, ja unser ganzes Zeitalter geprägt haben. Doch ich musste feststellen, dass ich dazu nicht in der Lage war, ohne auf eine ungeheure Menge Aufzeichnungen aus all den Jahren, vor allem Briefe, zurückzugreifen. Und das sind Tausende, auf arabisch und englisch, aus aller Herren Länder. Unmöglich, sie alle durchzusehen! Ausserdem habe ich nur einen Teil aufgehoben. Ich musste einsehen, dass ich ohne all diese Briefe auf nichts weiter als auf meine lückenhaften Erinnerungen, auf ungeordnete Bruchstücke angewiesen wäre. Also beschloss ich, lediglich die ersten Jahre meines Lebens aufzuschreiben, beginnend mit den ersten Kindheitserinnerungen bis hin zum Studium in England. Als ich anschliessend nach Jerusalem zurückkehrte, den Hitzkopf voller widersprüchlicher Ideen, war ich gerade vierundzwanzig Jahre alt. Doch dann hatte ich das Gefühl, dass allein meine Studienjahre in Exeter, Cambridge und kurzzeitig auch in Oxford einen ganzen Band füllen würden, wenn ich ehrlich und genau sein wollte. Deshalb sagte ich mir: Ich schreibe lieber erst einmal alles bis zu meinem neunzehnten Lebensjahr auf. Das ist das Alter – auf zwei Wochen genau –, in dem ich Jerusalem verliess, um in England zu studieren. Das Ende eines Lebensabschnitts und der Beginn eines neuen. Wie dem auch sei, jene ersten Jahre meines Lebens waren so reich an Erlebnissen und persönlichen Erfahrungen, dass sie durchaus eine zusammenhängende Darstellung verdienen. Darüber zu schreiben könnte spannend werden, aber auch schwierig, und vielleicht würde ja die Schilderung der Kindheit den Einstieg in den folgenden Lebensabschnitt erleichtern. Als ich jedoch die allerersten Eindrücke meiner Kindheit aufschrieb, fand ich, dass ich mich sehr beschränken und vieles weglassen müsste, um zu einem Ende zu kommen. Noch einmal musste ich feststellen, dass die Etappe, die ich mir zu schildern vorgenommen hatte, viel zu lang war. Die Kindheit ist eine Sache, das Erwachsenwerden eine andere. Obwohl das eine im Grunde nur die Fortsetzung des anderen darstellt – unter einem weiteren Blickwinkel eben –, ist es doch selbst so reich und vielfältig mit seinen Wonnen und Schmerzen, Liebesgeschichten und Freundschaften, dass dem nur mit einem zweiten Buch Genüge getan werden kann. Daher habe ich mich entschlossen, es bei den ersten zwölf Jahren meines Lebens bewenden zu lassen, genauer gesagt bei sieben oder acht davon, bis zum Jahre 1932, als ich mit meinen Eltern von Bethlehem nach Jerusalem zog – ein Ereignis, das für alles Weitere entscheidend war. Als ich mich mit den Ereignissen meiner Kindheit zu beschäftigen begann, merkte ich, dass ich nach mehr als vierzig Jahren Schriftstellerei eine Menge davon bereits in Artikeln, Kurzgeschichten und besonders in meinen Romanen verarbeitet hatte. Sollte ich einiges davon als erläuternde oder erzählende Passagen im neuen Rahmen einer Autobiographie verwenden? Nein, das würde ich nicht tun. Das, was ich über meine Kindheit in Erzählungen und Romanen geschrieben hatte, sollte so bleiben, wie es war. Die Leser mochten es interpretieren, wie es ihnen gefiel. Ich musste nehmen, was ich noch nirgendwo festgehalten hatte. Und das war nicht wenig. Ich erinnere mich an einen Tag im Jahre 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In einem Café in Jerusalem lernte ich eine charmante, intelligente Frau kennen. Heidi Lloyd hiess sie. Sie erzählte mir, dass sie Bildhauerin sei und in Bagdad studiere. Ihr Mann sei ein bekannter Archäologe. Zu jener Zeit war ich gerade Präsident des Künstlerclubs und Dozent für englische Literatur an der Raschîd-Schule. Ich veröffentlichte auch Lyrik auf englisch. Es stellte sich heraus, dass sie einiges von mir gelesen hatte. Materiell ging es mir damals nicht gerade gut, und so war es mir jedesmal unangenehm, wenn ich darauf angesprochen wurde. Als unser Kaffee kam, forderte sie mich plötzlich auf: »Erzählen Sie mir aus Ihrem Leben! Man sagt, Sie hätten schon immer ein aufregendes Leben gehabt.« Ich musste lachen: »Ein aufregendes Leben? Ich bin nicht gerade ein Held. Falls Sie das noch nicht wussten.« »Nein, nein«, sagte sie, »das meine ich nicht. Sondern wie Sie sich so fühlen: körperlich, seelisch, geistig. Ihr Gefühlsleben eben.« Erlebnisse aus meiner Kindheit, meiner Jugend und meiner Zeit in England schossen mir durch den Kopf. »Wenn Sie das meinen, schön, aber nicht jetzt. Denn das ist eine lange Geschichte, eine sehr lange Geschichte.« »Dann darf ich hoffen, eines Tages ihre Autobiographie zu lesen?« »Ich fürchte, das kann noch lange dauern. Aber jetzt erzählen Sie mir von Ihrer Bildhauerei. Erzählen Sie mir von Bagdad!« Wenn ich damals jünger gewesen wäre, hätte ich wohl irgendwie gespürt, dass dies alles eine viel längere Geschichte werden würde. Und was soll ich nun sagen, wo sich die Sache noch ganze vierzig Jahre hingezogen hat. Jene Künstlerin musste wirklich lange warten. Ich habe sie übrigens nie wieder gesehen, auch nicht, als ich drei Jahre später nach Bagdad ging. Kann man sagen, dass sie die erste war, die mich darauf gebracht hat, in irgendeiner Form über mein Leben zu berichten? Ich möchte allerdings keine Chronik jener Zeit niederschreiben. Es gibt klügere und fähigere Leute, um jene Ereignisse der zwanziger und beginnenden dreissiger Jahre in Palästina zu dokumentieren. Auch will ich keine Familienchronik anlegen. Das ist eine andere Sache. Und ich glaube auch nicht, dass ich dazu in der Lage wäre. Ebenso wenig möchte ich eine soziologische Studie über einen Ort in Palästina schreiben, der damals noch ganz klein war, nicht mehr als fünftausend Einwohner und eine Handvoll Grundschulen besass, die meisten davon unter kirchlicher Obhut. Mittlerweile hat sich jener kleine Ort zu einer wirtschaftlich und politisch bedeutenden Stadt entwickelt. Immerhin hat er heute fast achtzigtausend Einwohner, viele Schulen und sogar eine Universität mit Dutzenden von Absolventen jedes Jahr. Was ich hier aufschreibe, ist rein persönlich. Meine Kindheit. Es geht lediglich um mich selbst, wie ich mein Ich beobachten, erfühlen und begreifen lernte. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Ratlosigkeit restlos verschwand. Um mich nicht in einer weitverzweigten, wenn auch interessanten Familienchronik zu verlieren, habe ich es vorgezogen, Schritt für Schritt jenes Dasein zu schildern, das ich zunehmend kennen und verstehen lernte. Mit all seiner Unschuld, an der ich mich festklammerte, bis ich sie dann doch verlor. Dieses Leben war freilich nicht losgelöst von seiner Umgebung, sondern ein Teil jener Häuser und Bäume, Hügel und Täler, ein Teil der Sonnenstrahlen und Regentropfen, der Stimmen und der Gesichter, die immer da waren, die seine Wertvorstellungen bestimmten und allesamt Schönes und Hässliches, Glück und Trauer verhiessen. Absichtlich oder auch unabsichtlich machte ich aus meinem Ich und meinem Umfeld manchmal zwei miteinander austauschbare Dinge, das eine zum Spiegel des anderen, ja sogar zu einer symbolischen Inkarnation. Und weil alles irgendwann einmal dem Untergang geweiht ist, versuche ich nun, es mit einem Netz aus Wörtern einzufangen und festzuhalten. Damit es auf keinen Fall verlorengeht! Manchmal standen mein Ich und meine Umwelt auch auf völlig entgegengesetzten Seiten. Das Ich wollte sich um alles in der Welt nicht in seiner Umgebung wiedererkennen oder gar seine aggressive Haltung aufgeben. Das ging so lange, bis es gewillt war, sich zu beherrschen und zu verändern. Vielleicht ist das die Geschichte des Erwachsenwerdens oder zumindest ein Teil davon, eben die Zunahme von Wissen und Willenskraft, analytischem Verstand und Phantasie. Ja, es ist die Geschichte von der verlorengegangenen Unschuld und dem Versuch, sie zurückzugewinnen. Da fällt es einem plötzlich ein, dass die Kindheit – wie weit sie auch zurückliegen mag – mit all den grossen Veränderungen in ihrem Umfeld vielleicht nie richtig eingeordnet wird, wenn man sie von der Folgezeit losgelöst betrachtet. Die Kindheit ist im Grunde keine Geschichte an sich. Sie besteht vielmehr aus vielen verschiedenen Einzelgeschichten, die man – selbst wenn sie aufeinander folgen – oftmals nur durch literarische Techniken miteinander verknüpfen kann. Sie drängt sich einem stets irgendwie auf, besucht einen des Nachts in den Träumen in immer anderem Gewand und erscheint auf einmal in Tagträumen, und dies nicht als blosse Erinnerung. Die Geschichten der Kindheit sind also eine Mischung aus Erinnerungen und Träumen, ein Verschmelzen von Wahrheit und Dichtung, ein Zusammenspiel von Rationalem und Irrationalem. Ein buntes Allerlei, das irgendwo ganz tief in unserer Seele sitzt und das nie richtig interpretiert wird, wie sehr sich unser Geist auch anstrengen mag, es zu entwirren. Die meisten Autoren von Autobiographien, ganz gleich aus welcher Zeit und welcher Kultur sie stammen, neigen wohl eben wegen dieser Schwierigkeiten dazu, die Kindheit unberücksichtigt zu lassen. Wenn sie dennoch ihr Augenmerk auf sie richten, dann blicken sie darauf aus einer gewissen Distanz, die sie ihrem Alter und ihrer geistigen Entwicklung verdanken. Ereignisse aus der Vergangenheit dienen ihnen lediglich dazu, die Gegenwart zu rechtfertigen. Indem sie frühe Erfahrungen für ihre späteren Handlungen verantwortlich machen, entziehen sie ihren Kritikern den Boden. Sie haben nie viel über...