Driessen | Geschichte Belgiens | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Kulturgeschichte

Driessen Geschichte Belgiens

Die gespaltene Nation

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Reihe: Kulturgeschichte

ISBN: 978-3-7917-6241-8
Verlag: Friedrich Pustet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Hätten Sie gedacht, dass Gent im Mittelalter größer war als London? Dass Belgien aus einem Opernabend hervorging? Oder dass Brüssel nur deshalb EU-Hauptstadt ist, weil B der zweite Buchstabe des Alphabets ist? Die Geschichte Belgiens ist surreal wie ein Bild von René Magritte und dabei spannend wie ein Krimi mit Hercule Poirot. Dennoch wurde sie bisher in Deutschland völlig vernachlässigt – dieses Buch ist die erste Gesamtdarstellung überhaupt. Christoph Driessen führt seine Leser in die frühkapitalistischen Städte des Mittelalters, auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs und in die Regenwälder von Belgisch-Kongo. Illustrationen, Kurzporträts von Pieter Bruegel bis Jacques Brel und Stichwörter von "Comics" bis "Pommes frites" lockern die Darstellung auf. Ein Buch, das in jeder Hinsicht überrascht!
Driessen Geschichte Belgiens jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


KAPITEL 2
Unter fernen Herren – Die Frühe Neuzeit
Invasion der Schneemänner.
Die habsburgischen Niederlande
Brüssel, im Januar 1511. Auf dem Coudenberg thront der Palast der Herzöge von Brabant, ein riesiger Gebäudekomplex, umgeben von den Herrenhäusern der Hochadeligen. Das ist das eine Machtzentrum. Das andere befindet sich in der Unterstadt am Grote Markt, später auch Grand-Place genannt: Es ist das Rathaus mit seinem eleganten spitzen Turm. Oben im Palast spricht man Französisch, unten in der Stadt Niederländisch. Brüssel ist tief verschneit in diesem Winter. Alles wirkt fremd und verwandelt. Und dann geschieht etwas geradezu Märchenhaftes. Überall in der Stadt tauchen Schneemänner auf. Sie stehen auf dem Coudenberg, auf dem Grote Markt und im Hurenviertel an der Stadtmauer. An die 50 Schneemann-Gruppen mit insgesamt 110 Figuren bevölkern die Stadt. Einige bleiben mehr als drei Wochen lang stehen, denn es dauert bis zum 12. Februar, ehe Tauwetter einsetzt. Bis dahin gucken sich die Brüsseler die Augen aus dem Kopf – mehrfach wird in diesen Wochen über Arbeitsversäumnis geklagt. Ein Vorläufer des Manneken Pis aus Schnee pinkelt einem Mann in den geöffneten Mund. Ein Mann und eine Frau liegen in einem Springbrunnen, „al naect“ (ganz nackt), und betreiben in aller Öffentlichkeit die Liebe. Ebenfalls nackt sind Adam und Eva, die schöne Bathseba, die mitten in Eis und Schnee ein Bad nehmen will. In der Nähe des Brüsseler Beginenhofs Den Wijngaerd hält eine Begine einem Wilden Mann – berüchtigt für seine nie versiegende Begierde – einen Topf hin: Sie will Sex. An der Stadtmauer bietet sich eine Prostituierte mit einem Hund zwischen den Beinen an: nackt auch sie, mit gewaltigem Hintern und rund geformten Brüsten. Vor dem Rathaus wachen eine Magd, ein Löwe und die Heiligen Drei Könige. Am Fluss Senne reckt der Schutzheilige von Brüssel, St. Michael, sein Schwert in die Höhe. Aber es gibt auch eine Kuh, ein Schwein, einen Elefanten und vor dem herzoglichen Palast ein Einhorn. Ein doppelgesichtiger Riese erhebt sich aus der weißen Watte, ein Zentaur, Trolle und ein Meermann. All diese Schneeskulpturen sind natürlich nicht von Kindern erbaut worden, dafür sind sie viel zu kunstvoll, frech und raffiniert. Hinter den Figuren stecken Erwachsene – stolze Renaissance-Menschen, die damit ihre umfassende Bildung und ihr unabhängiges Denken ausstellen. Das Schneeskulpturen-Festival ist Ausdruck einer selbstbewussten städtischen Gesellschaft. Es steht für etwas Neues. Die Geschichte der habsburgischen Niederlande ist die Geschichte einer Konfrontation zwischen einem Fürsten und den regionalen Eliten seines Herrschaftsgebiets. Der Fürst wollte die Macht in seiner Hand zentralisieren und die verschiedenen Territorien zu einem Staat zusammenschweißen, und die Eliten wollten das nicht. Sie verteidigten ihren Anteil an der Macht und damit zugleich die Eigenständigkeit ihrer Region. Zur Zeit der Brüsseler Schneemann-Invasion konnte noch niemand ahnen, welche Ausmaße diese Auseinandersetzung im Laufe des Jahrhunderts noch annehmen würde. Die habsburgischen Niederlande entsprachen ungefähr den heutigen Benelux-Staaten plus einem Stück von Nordfrankreich. Man muss sich aber davor hüten, die heutige Einteilung in Nord und Süd – Niederlande und Belgien – auf die damaligen Territorien zu übertragen. Wenn schon, dann wäre eher eine Unterscheidung in West und Ost sinnvoll. Der Osten wurde vom Adel beherrscht, der Westen auch von Bürgern und Patriziern. Der Osten war landwirtschaftlich geprägt, der Westen eine Städtelandschaft. Antwerpen war gar die bedeutendste und reichste Handelsmetropole Europas. In den 1560er-Jahren zählte sie 100 000 Einwohner. Bis zu 2500 Schiffe mit insgesamt etwa 250 000 Tonnen Ladung steuerten Antwerpen im Jahr an. Das war das Vierfache des Londoner Schiffsverkehrs und das Zwölffache der Amerikaflotte, die jährlich in Sevilla ankam. Antwerpen war der wichtigste Umschlagplatz für englische Tuche ebenso wie für Wein und Metalle aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Gleichzeitig entwickelte sich die Stadt zum Verteiler-Zentrum für die Waren der Kolonialmächte Spanien und Portugal. 1501 legte das erste portugiesische Schiff mit Pfeffer und Muskatnüssen am Scheldekai an, 1508 eröffnete eine Filiale der Lissaboner Zentralbehörde für den Überseehandel, Casa da India, und 1540 kamen bereits mehr als 300 portugiesische Schiffe nach Antwerpen. Es mag zunächst überraschen, dass Lissabon die Rolle des großen Verteilers nicht selbst spielen konnte, doch lag Portugal zu weit von den Hauptabsatzmärkten für Pfeffer und andere Spezereien entfernt: Neun von zehn Abnehmern lebten im Norden Europas, vor allem im dicht bevölkerten Frankreich und im späteren Deutschland. Antwerpen, Ausgangspunkt großer Handelsstraßen nach Paris sowie Nürnberg und Augsburg, war näher am Kunden. Es profitierte davon, dass ein Großteil der asiatischen Gewürze nun nicht mehr über den Landweg und die Mittelmeer-Route nach Europa gelangte, sondern über den Atlantik. Die portugiesischen Kaufleute fanden in Antwerpen auch gleich das aus deutschen Bergwerken angelieferte Silber, mit dem sie die Spezereien in Asien bezahlten. Ähnlich die Spanier: Zum Aufbau eines Kolonialreiches, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte, waren ungeheure Mengen an Holz, Teer, Weizen, Roggen und Stoff erforderlich. All das bekamen sie in Antwerpen, wo sie umgekehrt ihre Kolonialprodukte wie Zucker, Silber und Farbhölzer verkaufen konnten. So verdankte Antwerpen seinen Rang als frühmoderne Weltstadt dem Umstand, dass es der bevorzugte Standort auswärtiger Kaufleute war. Eine eigene Handelsflotte von Bedeutung besaß die Stadt dagegen nicht. Der französische Historiker Fernand Braudel hat einmal gesagt, die Stadt habe sich ihre Vormachtstellung nicht erkämpft, „sie ist eines schönen Tages an der Spitze der Welt erwacht“. Insgesamt zählten die Niederlande zur Habsburgerzeit etwa drei Millionen Einwohner, was ungefähr der Bevölkerungszahl von England und Wales entsprach. Sie waren also kein kleines Land, wobei man sie im Grunde kaum als ein Land betrachten konnte. Im Plural die Niederlande ist die Unterschiedlichkeit bereits enthalten. Bei Karls Regierungsantritt 1515 fielen noch nicht einmal alle niederländischen Gebiete in seinen Herrschaftsbereich. Die Provinzen im Nordosten waren noch unabhängig. Es war sein erklärtes Ziel, dies zu ändern und alle Provinzen unter sich zu vereinen. Die erste Gelegenheit dazu bot sich, als der Bischof von Utrecht, Heinrich von der Pfalz, mit Unruhen zu kämpfen hatte. Karl stellte für ihn die Ordnung wieder her, und dafür übertrug ihm Heinrich 1528 die weltliche Herrschaft im Bistum Utrecht. Danach folgten auch Overijssel, Drenthe, Groningen und Friesland. Geldern hielt noch aus, doch 1543 eroberte Karl das widerspenstige Herzogtum schließlich mit einer erdrückenden Übermacht und beendete seine Selbstständigkeit. Nunmehr sprach man von den 17 Provinzen, wobei diese Zahl eher symbolisch war: Zu den Niederlanden zählten vier Herzogtümer, sieben Grafschaften und zehn Herrlichkeiten. Die Bezeichnung Provinzen erinnerte an das römische Reich, das unter Karl V. in neuer Form wiedererstanden schien. Ein Gebiet, das weiterhin außerhalb des habsburgischen Herrschaftsbereichs blieb, war das Fürstbistum Lüttich. 1548 wurden die 17 Provinzen im Burgundischen Vertrag (Vertrag von Augsburg) weitgehend aus dem Heiligen Römischen Reich herausgelöst. Wenn sie auch formal weiter dazugehörten, unterlagen sie fortan doch nicht mehr der Gesetzgebung und Rechtsprechung des Reiches. Nachdem im Damenfrieden von Cambrai 1529 bereits die Ablösung von Frankreich vollzogen worden war, nabelten sich die Niederlande nun auch vom deutschen Reichsverband ab, wobei dieser Prozess erst mit dem Westfälischen Frieden von 1648 seinen Abschluss finden sollte. Diesem Emanzipationsprozess stand jedoch das Aufgehen im Habsburgerreich gegenüber, und damit war ein durchaus schmerzhafter Bedeutungsverlust verbunden: In Burgund hatten die Niederlande den unbestrittenen Mittelpunkt gebildet, jetzt waren sie nurmehr eines von mehreren wichtigen Gebieten. Immerhin betrachteten die Niederländer Kaiser Karl noch als einen der ihren, als „natürlichen Erbprinzen“, weil er in Gent geboren und in Mechelen aufgewachsen war. Wie wichtig ihm das selbst war, zeigt sich darin, dass er 1522 für den Fall seines Todes verfügte, ebenso wie seine burgundischen Vorfahren in Dijon begraben zu werden – obwohl diese Stadt seit der Einverleibung des ursprünglichen Herzogtums Burgund zu Frankreich gehörte. 1520 versicherte er in Brüssel, während seines vorangegangenen Aufenthalts in Spanien sei sein Herz „immer hüben“ – also in den Niederlanden – gewesen. Anfangs fühlten sich gerade die Spanier von den „Burgundern“ – also den Niederländern – dominiert, da diese Karls Hofstaat beherrschten....


Christoph Driessen, Dr. phil., geb. 1967 als niederländischer Staatsbürger in Oberhausen, 14 Jahre Auslandskorrespondent in
Den Haag, London und New York, ist Leiter des Kölner Büros der dpa.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.