Exerzitien für die Endzeit
E-Book, Deutsch, 209 Seiten
ISBN: 978-3-86393-643-3
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Dries, geb. 1976, promovierte u?ber Gu?nther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas. Als Wissenschaftler an den Universitäten Freiburg und Basel sowie Vorstandsmitglied der Internationalen Gu?nther Anders-Gesellschaft (www.guenther-anders-gesellschaft.org) hat er zahlreiche Bu?cher und Aufsätze zu Anders publiziert.
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Wie man philosophische „Schreckbilder“ malt. Zu Günther Anders’ Theoriebegriff und Methode
Seit den Anfängen philosophischen Denkens ist die Frage nach der Wirklichkeit und Wirkmächtigkeit von Theorie nicht minder virulent als die theoretische Reflexion von Wirklichkeit und Praxis.1 Zur Gretchenfrage zugespitzt wurde sie im Zeitalter der Industrialisierung und des Pauperismus, als die geistigen Erben der Aufklärung die Realität entfremdeter Verhältnisse mit dem emanzipatorischen Programm ihrer idealistischen Väter konfrontierten. „Was ist jetzt der Gegenstand der Kritik?“, fragt Bruno Bauer im gleichnamigen Aufsatz von 18442 und liefert – in einem anderen Text – selbst die polemische Antwort: „Um doch etwas Großes zu haben, hat man neuerlich die Masse auf das Schild gehoben.“3 Bauer selbst hielt an Hegels Primat des Bewusstseins und der Wissenschaft, am dialektischen „Prinzip der Kritik und des Fortschritts“ fest.4 Sein einstiger Protegé und baldiger Kontrahent Karl Marx hingegen projizierte dieses Prinzip in die Masse und überbot Bauer „und Consorten“ wenig später in seinen Thesen „ad Feuerbach“ mit dem wohl meistzitierten Aphorismus der Philosophiegeschichte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“5 Verstehen, deuten, kritisieren – schön und gut, heißt es bei Marx; was zählt, ist Praxis, nicht die reine Kritik, die von den junghegelianischen Diadochen Bauer’scher Provenienz als vermeintliche Fundamentalprovokation gegen Staat und Kirche geführt wurde und doch nie mehr sein konnte als die von Marx und Engels verhöhnte „kritische Kritik“: radikal, aber zahnlos, weil ohne jeden Effekt auf die verkehrten Verhältnisse, deren ‚Schleier‘ sie allein mit Worten (Marx und Engels: „Schwindeleien“) wegzureißen gedachte.6 Die Praxis dieser Theorie war in den Augen des Autors der Feuerbach-Thesen ein Bauen von Gedankengebäuden ohne Mörtel und ohne Tür zur wirklichen Welt. „In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen“,7 schrieb Marx 1845 in sein Notizbuch. Wie jene Praxis genau aussehen könnte, blieb dabei (allerdings folgerichtig) unbestimmt.8 Schon der junge Marx griff daher in seinen Pariser Manuskripten ersatzweise auf poiesis zurück.9 Ein theoretischer Registerwechsel mit fataler Fernwirkung auf alle marxistisch-leninistischen Ideologen, deren Gedankengebäude, an polytechnischen Oberschulen errichtet, sich praktisch haltbarer zeigten, wenn man sie als stacheldrahtbewehrte Sozialtechnologie konzipierte. Den Bauschutt entsorgten jene, die den Gesellschaftsplanern der neuen Welt im Weg standen. Anschließend an die 11. Feuerbachthese formuliert: Wer im Geist hobelt, lässt die Späne im Gulag zusammenkehren. Glücklicherweise sind jene totalitären Großbaustellen (vorerst) Geschichte; den Kalten Krieg des vergangenen Jahrhunderts hat nur ein einziges Wirtschaftssystem überdauert. Dessen kommunistische Transformation, das heißt die Überführung der permanenten Revolution des Kapitalismus in eine Assoziation, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ ist,10 war das Ziel der von Marx propagierten praktischen Kritik der Verhältnisse. Materielle Voraussetzung und Motor der erhofften Umwälzung sollte die volle Entfaltung der kapitalistischen Produktivkräfte sein, vulgo: technologisches Know how. Der Anthropologe, Sozialphilosoph und Technikkritiker Günther Anders, von Marx, Husserl und Heidegger gleichermaßen inspiriert, hat an dieser Stelle heftig widersprochen.11 Zu Zeiten, in denen die Differenz von Theorie und Praxis qua angewandter Wissenschaft beziehungsweise Technologie, das heißt durch die Produktivkräfte selbst aufgehoben ist, wurde ihm die Interpretation der daraus resultierenden Veränderungen erneut zur ersten Philosophenpflicht, sprich zur kritischen Praxis par excellence. In seiner Glosse „Verändern genügt nicht“ aus dem Band Visit beautiful Vietnam von 1968 polemisiert er, Revolutionäres gebe es heute „in Hülle und Fülle“ (BV, S. 178), in erster Linie im Bereich der technologischen Entwicklung, die für Anders zur eigentlichen, Epoche machenden politischen Gewalt, zum „Subjekt der Geschichte“ (AM 2, S. 9) wird. Wie der Kapitalismus bei Marx ist bei Anders die Technik revolutionär, das heißt in beständiger Umwälzung, Veränderung und Erneuerung begriffen, was freilich nicht bedeutet, dass dadurch genuin politische Revolutionen obsolet wären. Im Gegenteil: „Nichts ist heute dringlicher als sie – wozu gehört, daß der Begriff von ‚Revolution‘, und zwar aufs revolutionärste, neu interpretiert werde“, mahnt Anders: Was heute fällig ist, mindestens ebenso fällig wie die Veränderung der Welt, ist die wirkliche Interpretation jener Veränderungen, die malgré nous, auch im Lager unserer Gegner, vor sich gegangen sind und vor sich gehen. Wenn es uns gelänge, die Bewandtnis und die Effekte dieser Veränderungen (z. B. die Bewandtnis derjenigen ‚Entfremdungen‘, die nicht Eigentumsverhältnissen entspringen, sondern der Technik […]) wirklich zu deuten, so würde gerade diese Deutung etwas ungleich Revolutionäreres sein und ungleich mehr ‚Aktion‘ darstellen, mindestens auslösen, als jene tausende von Aktionen, die die tägliche technologische Revolution unserer Welt ausmachen. Nur wenn wir diese technologische Revolution interpretiert haben werden, wird es wieder klar werden können, auf was die politische Revolution abzuzielen hat. Und das von neuem zu wissen, wäre revolutionär. Was wir vor allem nötig haben, ist Interpretation, d. h. Theorie, weil allein sie wirkliche Praxis möglich macht. Diejenigen, die sich damit bescheiden, in unserer heutigen sich täglich verändernden Welt blindlings und mit abgewetzten Begriffen weiterzuwurschteln, die sind um nichts weniger reaktionär als die von Marx bemängelten, die sich darauf beschränken, eine stationäre Welt mit täglich changierenden Kategorien anzuleuchten. Praxis ohne Theorie ist nicht minder stur und nicht minder leer, vielleicht sogar sturer und leerer, als Theorie ohne Praxis. (BV, S. 179) Übertreibung und Montage
Auf den ersten Blick riecht Anders’ Plädoyer für „wirkliche Interpretation“ nicht nur für marxistisch geschulte Nasen, die hinter theoretischen Geltungsansprüchen ideologische Reinigungs- und Verfremdungsprozesse wittern, ziemlich verdächtig.12 Einmal mehr scheint sich hier, ausgerechnet zur Hochzeit der Studentenrevolten, der Bürgerrechts- und Friedensbewegungen, ein Denker vom Getümmel der Welt in den klassischen locus amoenus der Philosophen zurückziehen zu wollen: auf das exklusive, a-politische Plateau der vita contemplativa. Doch eine solche Unterstellung träfe Anders nicht. Schon Heidegger hatte ihm in jungen Jahren vielmehr umgekehrt vorgeworfen, er wolle – für einen Philosophen unerhört! – in die Praxis „desertieren“ (AM 2, S. 12). Im Laufe seines Lebens wurde Anders schließlich zur idealtypischen Verkörperung der Figur des engagierten Intellektuellen. Von den Nationalsozialisten 1933 aus dem Deutschen Reich vertrieben, bereits in den 20er Jahren durch den Kontakt zu Bertolt Brecht und zum marxistischen Milieu Berlins politisiert, mischte er sich nach seiner Rückkehr nach Europa 1950 über Jahrzehnte hinweg in politische Auseinandersetzungen um die atomare Wiederbewaffnung der BRD, den Vietnam-Krieg und die sogenannte ‚zivile Nutzung‘ der Atomenergie ein, schrieb Leserbriefe, Pamphlete, Grußworte und Protestadressen. Beide Register – politisches Engagement und philosophische Reflexion – sind bei Anders nicht voneinander getrennt. Im ZEIT-Interview mit Fritz J. Raddatz entgegnet er auf die Frage „Sie meinen also, daß Ihre Arbeit Praxis ist? Sie trennen nicht zwischen einem Ostermarsch und Ihrer schriftstellerischen Arbeit?“ vehement: „So wenig wie zwischen Kochrezept und Schnitzelessen. – Glauben Sie vielleicht, nach Hiroshima sei ich ‚als Theoretiker‘ geflogen? Oder gar ‚qua Theoretiker‘?“ (BR, S. 10) Und so geht es Anders nicht um eine Form von Deutung, die sich im Sinne der Marx’schen Kritik an den Junghegelianern einbildet, politisch maligne Verhältnisse durch deren „kritische Kritik“, das heißt mit ausschließlich theoretischen Provokationen zu kurieren, um den Purismus der Kritik nicht zu beflecken. Leitziel aller theoretischen Anstrengungen ist auch für ihn die Veränderung eines als dringend veränderungsbedürftig diagnostizierten Weltzustands – freilich unter der...