Drewes | Jüdischer Adel | Buch | 978-3-593-39775-7 | sack.de

Buch, Deutsch, 467 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 574 g

Drewes

Jüdischer Adel

Nobilitierungen von Juden im Europa des 19. Jahrhunderts

Buch, Deutsch, 467 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 215 mm, Gewicht: 574 g

ISBN: 978-3-593-39775-7
Verlag: Campus


Kaum bekannt ist, dass es im 19. Jahrhundert auch Adlige jüdischen Glaubens gab. Kai Drewes untersucht diesen blinden Fleck in der Bürgertumsforschung für Preußen, Österreich und Großbritannien. Er fragt nach der Attraktivität staatlich-monarchischer Auszeichnungen, der Zugänglichkeit von Adelstiteln für Juden und dem Titeltransfer über Ländergrenzen hinweg. Gezeigt wird: Die Nachfrage nach Adelstiteln war noch um 1900 in ganz Europa hoch, auch bei Juden. Der facettenreiche Einblick in Selbst- und Fremdwahrnehmung jüdischer Großbürger mit Adelswunsch berichtigt und ergänzt die Bürgertums- und Adelsforschung wie auch die jüdische Geschichte.
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Inhalt
1 Einleitung 11
Thema und Fragestellung 11
Forschungsstand 17
Methodische und begriffliche Bemerkungen 22
Quellen 33
Aufbau 35

2 Adelswünsche 37
2.1 Der Topos vom jüdischen Adelsverweigerer im wilhelminischen Deutschland 39
Das Undenkbare denken: Gerüchte über Adelsverleihungen im Kaiserreich 41
Titel unerwünscht: nachträgliche Opposition gegen den Kaiser 47
Die Tücken des Familiengedächtnisses: Erinnerungsliteratur nach dem Holocaust 56
Historiker auf dem Holzweg: Der Topos setzt sich durch 61
Adelsverweigerung auf Hochkonjunktur 71
Nichtjüdische Adelsverweigerer 77
Exkurs: Adlig in Hamburg 82
2.2 Deutschlands vergessene jüdische Adlige 85
Jüdische Adlige in Preußen 86
Jüdische Adlige im Dritten Deutschland 95
2.3 Judentum, Bürgertum und Distinktion um 1900 111
Adlig werden können 112
Bankier, Konsul und Baron 119
Aristokratisierung oder Distinguierung? 125
2.4 Fazit 136

3 Adlig werden 143
3.1 Jüdische Adelsfähigkeit in der Frühen Neuzeit 148
3.2 Judentum, Nobilitierung und Emanzipation 159
Adlige und kirchliche Widerstände in Europa 161
Die ersten Adelsverleihungen an Juden in ihren Kontexten 167
Adelstitel und Bürgerrechte zusammen gedacht 186
Kein jüdischer Adel im christlichen Preußen 197
Preußens liberales Zeitfenster 207
3.3 Judentum und Nobilitierung im Fin de Siècle 213
Verschiedene Erfahrungen und Erwartungen: Jüdischer Adel und Jüdische Frage in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts 214
Ungeliebte, aber gesuchte Stützen des Staates: Jüdische Neuadlige in Österreich-Ungarn 222
Anerkennung mit Verzögerung: Der erste jüdische Lord 236
Die Verweigerung von Anerkennung als preußischer Normalfall 247
3.4 Fazit 271

4 Adelstitel auf Wanderschaft 277
4.1 Habsburgs jüdische Adlige im Ausland 281
Adelsverleihungen als Mittel der Außenpolitik 281
Ungarische Österreicher und österreichische Ungarn 295
Exkurs: Die "Adelsfabrik" Portugal 302
4.2 Adelsanerkennung als Problem 308
Foreign Titles in Britain: unerwünscht, doch geduldet 310
Preußische Maßnahmen zur Abwehr ausländischer Adelstitel 323
4.3 Fazit 346

5 Resümee und Ausblick 351

Anhang 373
Anhang 1: Nobilitierungen von Juden in Österreich 376
Anhang 2: Nobilitierungen von Juden in Großbritannien 386
Anhang 3: Nobilitierungen von Juden in Preußen 391
Abkürzungen 395
Quellen und Literatur 397
Dank 445
Namensregister 447


1 Einleitung
Die Zeit war damals strenge, wie man weiß. Aber sie erkannte Ausnahmen an und liebte sie sogar. Es war einer jener wenigen aristokratischen Grundsätze, denen zufolge einfache Bürger Menschen zweiter Klasse waren, aber der und jener bürgerliche Offizier Leibadjutant des Kaisers wurde; die Juden auf höhere Auszeichnungen keinen Anspruch erheben konnten, aber einzelne Juden geadelt wurden und Freunde von Erzherzögen; die Frauen in einer überlieferten Moral lebten, aber diese und jene Frau lieben durfte wie ein Kavallerieoffizier. (Es waren jene Grundsätze, die man heute "verlogene" nennt, weil wir so viel unerbittlicher sind; unerbittlich, ehrlich und humorlos.)
Joseph Roth, Radetzkymarsch (1932)
Thema und Fragestellung
Rastlos arbeitete Theodor Herzl 1895 in Paris an seinem Judenstaat. Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre stellte er auch in seinem Tagebuch und bis ins Detail Pläne für einen jüdischen Staat an. Am 10. Juni notierte er:

Auch werde ich durch Adelsverleihung grosse persönliche Opfer geleistet bekommen.
Für Geld darf bei uns weder Adel, noch Orden zu haben sein. Ich werde die bis zur Reichsgründung anderwärts erworbenen, ohne Rücksicht auf ihre Erlangung nostrificiren.
Später nur mehr die auch anderwärts auf wirklich adelswürdige Weise. Ein Jude wird sich nicht das portugiesische Marquisat kaufen, und bei uns nostrificiren können. Aber wenn er in Portugal für glänzende Themen (die ja auch auf uns zurückstrahlen) geadelt wird, erkenne ich ihn daheim an.
Immer wird das vom Adelsamt genau zu prüfen sein, individualisiren.
Bemerkenswert hieran sind weniger Herzls Allmachtsphantasien als die Selbstverständlichkeit, mit der er für ein jüdisches Staatswesen außerhalb Europas das vertraute System persönlicher und erblicher Auszeichnungen berücksichtigte: ein Adelsamt für den Judenstaat.
In der Frühphase der zionistischen Bewegung war es sogar Herzls Absicht, den neuen Staat als konstitutionelle Monarchie zu verfassen, wenn auch als Zugeständnis in Form einer Wahlmonarchie. Die Fürstenwürde antragen wollte Herzl der Familie Rothschild als sozusagen ungekrönter jüdischer Königsfamilie Europas (was manches ihrer Mitglieder ganz genauso sah ). Sein Konzept einer Rede an die Rothschilds, woraus der Judenstaat hervorging, sah noch die werbenden Sätze vor:

Wir machen Sie gross [sic], denn wir nehmen unseren ersten Wahlfürsten aus Ihrem Hause. Das ist die glänzende Laterne, die wir auf den beendigten Eiffelthurm Ihres Vermögens setzen. Der ganze Thurm wird in der Geschichte aussehen, als wäre er darauf angelegt gewesen.
Herzls Meinung von den tatsächlichen jüdischen Adligen seiner Zeit wie Lord Rothschild in London, Baron de Rothschild in Paris und Baron Moritz von Hirsch sollte sich allerdings bald drastisch verschlechtern, da diese sich unempfänglich für seine weitreichenden Pläne zeigten. Auch musste Herzl erkennen, dass wichtigen Mitstreitern in der zionistischen Bewegung die Idee einer "Verpflanzung des Adels missfiel", so dass er am 18. August 1895 die Konsequenz zog: "Ich werde also den Adel fallen lassen". Doch nur drei Monate später heißt es im Tagebuch begeistert über die Töchter des mit Herzl sympathisierenden britisch-jüdischen Obersten Goldsmid (welcher mit der jüdischen Adelsfamilie dieses Namens entfernt verwandt war): "Schon hatte ich die jüdischen Aristokratinnen der kommenden Zeit vor mir. Feine Wesen, mit einem orientalischen Zug, sanft und träumerisch." Und im Abschnitt "Verfassung" des Judenstaats (1896) sprach Herzl sich auch öffentlich als "überzeugter Freund monarchistischer Einrichtungen" für eine "aristokratische Republik" nach venezianischem Vorbild aus. Denn die von ihm favorisierte "demokratische Monarchie" könne auf Grund der so lange ausgesetzten jüdischen Staatlichkeit nicht an das antike Königtum anknüpfen.
Herzl, der selbst zu gern "ein preußischer Altadeliger" gewesen wäre, mochte also für sein jüdisches Utopia nicht, wenn auch in der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung nicht unwidersprochen, auf ein klassisches Adels- und Auszeichnungssystem verzichten. Dies sollte nicht über Gebühr verwundern: Die Monarchie war in Europa um 1900 noch immer die klar vorherrschende Staatsform, wenn auch zusehends durch Verfassungsbestimmungen und institutionelle Gegengewichte eingehegt. Das ganze 19. Jahrhundert über waren die Gründungen neuer Staaten fast ausnahmslos mit der Errichtung von Monarchien einhergegangen, in den wenigsten Ländern stand vor dem Ersten Weltkrieg eine Abschaffung von Monarchie und Adel ernsthaft zur Debatte. Das deutsche Kaiserreich als verfassungsmäßiger Sonderfall umfasste sogar 22 eigenständige Monarchien, darunter vier Königreiche. Überall in Europa gab es noch immer - je nach Land sowie innerhalb der einzelnen Gesellschaften stark ausdifferenziert - den Adel als einen gesellschaftlich, teils auch gesetzlich herausgehobenen Stand. Da "das 19. Jahrhundert eine Art von Goldenem Oktober des europäischen Adels, vor allem seiner höheren Ränge" war (Jürgen Osterhammel), konnten "Männer mit Kapital […] Status und Ehre immer noch nur dann erreichen, wenn sie sich den Einfluss mit Königen, Aristokraten, Landbesitzern und Bürokraten teilten […]" (Christopher Bayly). Was auch für jüdische Großbürger galt.
Nun mögen Judentum und Adel jeweils sehr vielgestaltig gewesen sein, nichts aber liegt aus deutscher Perspektive ferner, als eine jüdisch-adlige Schnittmenge zu vermuten. Dies umso weniger für das Kaiserreich mit seinem starken bürokratischen Antisemitismus. Wobei der (preußische) Adel bis 1918 und teils noch darüber hinaus eine führende Rolle in der Leitung von Staat und Militär zu behaupten verstand, Judenfeindschaft von oben also nicht zuletzt von adligen Verwaltungsspitzen und Offizieren ausging.
Fritz Stern äußert in seiner Doppelbiographie über Bismarck und Gerson (seit 1872 von) Bleichröder denn auch angesichts des zunehmenden Antisemitismus im Kaiserreich völliges Unverständnis für das Streben des jüdischen Bankiers nach Auszeichnungen, das in der Nobilitierung seinen Höhepunkt fand. Schemenhaft zeichnet Stern Bleichröder als einen "Parvenü" auf "Titel- und Ordenjagd", welcher "nach jeder Auszeichnung hungerte, die in Sicht kam". Nach dem deutschen Sieg über Frankreich und der Reichsgründung sei Bleichröder, so Stern, vom Nationalismus infiziert gewesen, beabsichtigt habe er seine "nunmehr komplette Deutschwerdung" und deren äußere Manifestation bis hin zum Adelstitel. "Die Versuchung der Assimilation", "der Anlauf zur Angleichung" habe ihn jedoch nur dem Judentum entfremdet, während ihm von Nichtjuden nichts als Ablehnung und Spott entgegengeschlagen sei. Anders Großbritannien. Nathaniel de Rothschilds Erhebung zum ersten Lord jüdischen Glaubens 1885 sei von den britischen Juden mit Recht enthusiastisch begrüßt worden, habe sie doch den Abschluss ihrer Emanzipation zum Ausdruck gebracht: "Abseitsstehende" seien dort respektiert worden, während "man [in Deutschland] auf gesellschaftliche Angleichung größten Wert legte".
Sterns Bleichröder-Biographie ist in Deutschland mehrfach (zuletzt 2008) neu aufgelegt worden und hat einen kaum zu unterschätzenden Einfluss bis hin zu den großen Meistererzählungen. Wenn auch die Mehrheit der Historiker heute ganz anders über Nobilitierungen deutscher Großbürger denkt als vor 30 oder 40 Jahren (siehe Kap. 2.1): Das Bleichröder verpasste Etikett "Parvenü" ist haften geblieben. Der vorliegenden Untersuchung liegt dagegen die Annahme zu Grunde, dass sein Streben nach einem Adelstitel für einen deutschen Großbankier seiner Zeit, ob Christ oder Jude, alles andere als ungewöhnlich war.
Bleichröders Adelswunsch steht vielmehr für ein europaweites Muster: Im gesamten 19. Jahrhundert, so eine zentrale These dieses Buchs, war die Nachfrage nach Adelstiteln in ganz Europa hoch, und offensichtlich waren auch Juden, die ihrem Glauben treu blieben, für Adelstitel und andere prestigeträchtige monarchische und staatliche Auszeichnungen empfänglich, nicht mehr und nicht weniger als Christen. Die zweite These lautet: Die unbestreitbaren Länderunterschiede liegen vor allem im Titelangebot von monarchisch-staatlicher Seite begründet. These Nummer drei: Die Initiative zu einer Nobilitierung ging in der Regel von dem zu Adelnden aus, nicht vom Monarchen, der Regierung oder Bürokratie. Was einfach klingt, entspricht nicht unbedingt der vorherrschenden Forschungsmeinung. Dass noch um 1900 und sogar in Deutschland ausgerechnet Juden in nennenswerter Zahl nach Adelstiteln strebten, scheint kaum vorstellbar.
Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist eben jener so ungewöhnlich erscheinende Umstand, dass es im 19. Jahrhundert Neuadlige nicht bloß jüdischer Herkunft, sondern jüdischen Glaubens gab. Denn auch nach Überwindung einer Deutschland- und vor allem Preußen-zentrierten Sicht gilt: Dieses Randphänomen in der Geschichte des europäischen Judentums und Adels bedeutete in einer christlich dominierten Umwelt eine bemerkenswerte Besonderheit, so dass die Beschäftigung damit eine Reihe von Anknüpfungspunkten für weitergehende Fragen bietet.
Offensichtlich war für weite Teile des europäischen Großbürgertums die Aufnahme beispielsweise in Offizierskorps, Adel oder Oberhaus bis ins 20. Jahrhundert hinein auf Grund ihrer Verheißung von Aufstieg und Zugehörigkeit sehr erstrebenswert. Zugleich waren exponierte und nicht zuletzt geadelte Juden Projektionsfiguren für Juden wie Nichtjuden. Daher kann der Blick auf die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von Adligen jüdischen Glaubens interessante Rückschlüsse gewähren auf den Umgang europäischer Gesellschaften beziehungsweise vor allem ihrer Monarchen und (adligen) Eliten mit jüdischen Minderheiten. Gleiches gilt anders herum für nobilitierte Juden selbst wie auch für die jüdischen Gemeinschaften, denen sie entstammten und deren prominente, wenn nicht prominenteste Mitglieder sie häufig waren.
In der vorliegenden Arbeit wird im Sinn einer kulturwissenschaftlich erweiterten Sozialgeschichte das Phänomen jüdischer Adel erstmals als eine jüdisch-nichtjüdische Beziehungsgeschichte im europäischen Zusammenhang untersucht. Sie soll damit zur Bürgertums- und Adelsforschung wie zur europäischen und transnationalen Geschichte beitragen. Als grenzüberschreitende Untersuchung von Adelsverleihungen an Juden verspricht sie auch allgemein einigen Aufschluss über Beschaffenheit und Bedeutung des europäischen Adels- und Auszeichnungssystems vor 1914.


Kai Drewes, Dr. phil., Historiker und Bibliothekar, lebt in Göttingen.


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