Doyle | Professor Zamorra - Folge 1103 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1103, 64 Seiten

Reihe: Professor Zamorra

Doyle Professor Zamorra - Folge 1103

Die tickende Stadt
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-3620-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die tickende Stadt

E-Book, Deutsch, Band 1103, 64 Seiten

Reihe: Professor Zamorra

ISBN: 978-3-7325-3620-7
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Benoît Laval, seines Zeichens Uhrmacher aus Traditionsgründen, liebt seine Arbeit und seinen Laden. Besuch bekommt er allerdings selten. Doch eines Tages betritt eine Dame sein Geschäft, die ihn angenehm an seine Frau erinnert.

Doch die vermeintliche Kundin erweist sich als eine ganz besondere Herausforderung, denn ihre Wünsche kann Laval nicht ohne Weiteres zufriedenstellen ...

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Draußen war es schon dunkel geworden, als das altmodische Glöckchen über der Ladentür noch einmal zu bimmeln begann. Es hatte einen durchdringenden und doch lieblichen Klang, der Benoit Laval an bessere Zeiten erinnerte.

Laval, seines Zeichens Uhrmacher in siebter Generation, hörte mit halbem Ohr hin, konzentrierte sich aber zunächst weiter auf die Arbeit, die er noch vor seinem heutigen Feierabend abschließen wollte.

Bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts reichte die Geschichte seines Ladens zurück, und in einem der hinteren Räume des Gebäudes, das Laval auch privat bewohnte, befand sich noch die original ausgestattete Werkstatt, mit der sein Vorfahr Guillaume Laval im zarten Alter von 24 Jahren die Familientradition begonnen hatte.

»Tick-tack«, sagte eine freundliche Frauenstimme.

Benoit Laval, bis dahin in die Operation »am offenen Herzen« einer rhythmusgestörten Taschenuhr vertieft, sah nun doch von seiner Arbeit auf und ließ die Lupe, die er sich ins Auge geklemmt hatte, routiniert in die offene Hand fallen. Den Schraubendreher, den er in der anderen hielt, legte er zusammen mit der Lupe irritiert vor sich auf der Arbeitsplatte ab.

»Excusez-moi«, sagte er. »Wie meinten?«

Es war nicht das erste Mal, dass jemand glaubte, eine launige Bemerkung machen zu müssen, wenn er das tickende Refugium betrat. »Tick-Tack« war neu, beeindruckte den Uhrmacher aber nicht wirklich. Seinen Unmut ließ er sich dennoch nicht anmerken. Benoit Laval wahrte souverän die Höflichkeit, mit der er seit Jahrzehnten seiner Kundschaft begegnete. Das Lächeln auf seinem Gesicht erschien wie angeknipst. Was ihm allerdings auch keine Anstrengung bereitete, da das Erscheinungsbild der Frau mittleren Alters, die mit vorsichtigen Schritten näherkam, fast augenblicklich mildernde Umstände in die Beurteilung der Person einfließen ließ. Sie war auf ganz eigene Weise attraktiv, wenngleich es ihr fraglos an Farbe fehlte. Buchstäblich, wie Laval bei genauerem Hinsehen feststellte. Sie war unglaublich blass, selbst die Lippen tendierten zu einem schwachen Grau hin, von Röte keine Spur. Dazu passend ihre Kleidung, die sich ausschließlich auf unaufdringliche Hell-Dunkel-Töne beschränkte.

Der Uhrmacher seufzte, weil er sich trotz der fast besorgniserregenden Blässe insgesamt – und keineswegs unangenehm – an seine Frau erinnert fühlte. Außerdem glaubte er sich zu erinnern, die Besucherin schon ein paar Mal gesehen zu haben; allerdings hatte sie da draußen vor dem Schaufenster gestanden, und sobald sich sein Blick mit dem ihren gekreuzt hatte, war sie unverrichteter Dinge davon geeilt. Dabei hatte sie zuvor jedes Mal sehnsuchtsvoll, wie es ihm vorkam, auf all die Uhren gestarrt, mit denen sein Laden dekoriert war.

Mit seinen 69 Jahren hätte er sich längst zur Ruhe setzen und die Jahre, die ihm noch blieben, in dem kleinen Häuschen in der Provence genießen können, das sein Großvater in den frühen 50er Jahren noch zu einem Spottpreis erworben hatte. Die Crux war nur, dass er keine Nachkommen hatte und damit auch keinen leiblichen Nachfolger. Seiner Frau und ihm war es nicht vergönnt gewesen, eigene Kinder zu haben, was den Ärzten zufolge wohl an ihm, Benoit, gelegen hatte. Und sämtliche über die Jahre unternommene Adoptionsversuche waren gescheitert. Die Mühlen der Bürokratie hatten es nicht gut mit ihnen gemeint und der Herrgott noch weniger.

Mit gerade einmal fünfzig Jahren war Adèle Laval überraschend an den Folgen einer verschleppten Lungenentzündung gestorben, und danach war Benoit nie mehr eine engere Bindung eingegangen. In den vergangenen drei Jahren hatte er sich darum bemüht, einen externen Nachfolger zu finden, aber die Bewerbungen waren so desillusionierend verlaufen, dass er schließlich den Entschluss fasste, den Laden so lange wie möglich selbst zu betreiben, bestenfalls sogar, bis der Sensenmann ihn eines Tages zu sich holen würde.

Die Wehmut, die der Gedanke mit sich brachte, eine so alte Uhrmacher-Tradition ausgerechnet während seiner Schaffensperiode zu Grabe tragen zu müssen, betäubte er allabendlich nach Ladenschluss mit einer guten Flasche Wein. Danach schlief er tief und fest – um am nächsten Morgen von Neuem den Pflichten nachzugehen, die er sich freiwillig auferlegte. Seine Kundschaft dankte es ihm, auch wenn sie mit den Jahren immer weniger geworden war. Sein Handwerk, seine Erfahrung und sein Können honorierten nur noch wenige in der Weise, dass sie auch bereit waren, dafür etwas mehr als in den großen Juwelierketten auf den Tisch zu blättern.

»Madame?«, sagte er, als die dezent gekleidete Dame, die noch so kurz vor Ladenschluss zu ihm gefunden hatte, nicht auf seine Frage reagierte. »Womit kann ich Ihnen dienen? Wie ich sehe, haben Sie nichts dabei, was ich reparieren könnte.« Mechanisch hatte er die beiden Handgelenke inspiziert, aber nirgends eine Armbanduhr entdeckt. Und eine Handtasche trug die Kundin auch nicht bei sich. »Demnach interessieren Sie sich für eine neue Uhr? Eine ›neue alte‹ vielleicht?« Er erhob sich von seinem Hocker und zeigte auf die nabelhoch angeordneten Vitrinen, die rechts und links an seinen Arbeitstisch anschlossen. »Bitteschön: Auf dieser Seite sehen Sie attraktive Damen-Modelle, und, falls es ein Geschenk werden soll, auf dieser dort einige sehr gefällige und beliebte Herren-Modelle.«

Die Frau vor der Theke blickte ihn aus kohleschwarzen Augen an.

»Madame?«

»Tick-tack?«, sagte sie.

Es klang, als würde es beim Übergang von der einen in die andere Silbe im Hals der Frau knacken. Wie bei einem dieser Blechspielzeuge – knick-knack –, die Benoit Laval aus seiner Jugend kannte: Knack-Enten hatte man sie genannt, und seines Wissens gab es sie selbst heutzutage noch als launige Scherzartikel für Kindergeburtstage und ähnliche Veranstaltungen zu kaufen.

»Tick-tack«, wiederholte der Uhrmacher. »Ich glaube, das sagten Sie bereits. Aber ein Witz, Madame – entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das so offen sage –, wird durch Wiederholung nicht besser. Darf ich Sie also bitten, mir Ihr Anliegen vorzutragen, damit ich …«

Ohne dass sich etwas an der Ausdruckslosigkeit ihres Gesichts änderte und fast ansatzlos ließ die Frau ihre rechte Faust auf die Glasabdeckung der Vitrine zu Lavals Linker niederfahren. Es klirrte, als die Scheibe nachgab. Laval wich instinktiv einen Schritt zurück, weil er fürchtete, eine der durch die Luft fliegenden Scherben abzubekommen. Gleichzeitig sah er, wie sich Glassplitter in die Hand der späten Besucherin bohrten und darin stecken blieben. Bis … ja, bis sie mit der anderen Hand wie beiläufig darüber strich. Sie lösten sich widerstandslos aus dem Fleisch und gesellten sich zu den Scherben, die bereits im Schaukasten lagen. Erstaunlicherweise klebte an keiner der Scherben Blut, und auch aus den Schnitten der verletzten Hand quoll nichts hervor.

Benoit Laval hielt nicht mit seiner Empörung hinterm Berg. Es gab zwei Dinge in seinem Leben, gegen die sich niemand ungestraft versündigen durfte. An erster Stelle seine Frau, mit der er bis zu ihrem Tod ein erfülltes Leben hatte führen dürfen – und zum anderen seine Arbeit, in die er nach wie vor sein ganzes Herzblut steckte. Sämtliche Uhren, die sich in den Verkaufsvitrinen befanden, hatte er entweder bis ins kleinste Schräubchen selbst zusammengesetzt und in enger Zusammenarbeit mit Teilelieferanten oft sogar bis ins letzte Detail selbst entworfen. Die Stücke, die er in Zahlung genommen oder gebraucht erworben hatte, waren von ihm generalüberholt worden – was beinahe auf das Gleiche wie eine Neuschöpfung hinauslief, weil auch hierbei jedes Zahnrädchen, jede Feder und jedes Schräubchen durch seine Hände ging.

Auf diese Weise baute er Beziehungen zu den Dingen auf, sodass er sie anderen Menschen ruhigen Gewissens empfehlen konnte. Auf seine Uhrwerke gab es lebenslange Garantie, doch die verschwindend geringe Zahl von Reklamationen bewies, dass – bei sachgemäßer Verwendung – Schäden kaum einmal auftraten, und wenn doch, waren es zumeist Kleinigkeiten, die er im Handumdrehen wieder behob.

Noch bis in seine späten Fünfziger hinein war kaum ein Jahr vergangen, in dem Laval nicht der eine oder andere Anwerbeversuch von Großgeschäften oder Firmen ins Haus geflattert war. Er hatte stets dankend abgelehnt, obwohl es ihn natürlich ehrte, dass sein fachliches Können offenbar bis in die Chefetagen der angesehensten Uhrenhersteller Frankreichs und des benachbarten Auslandes gedrungen war.

»Madame, erklären Sie sich! Wie können Sie es wagen …«

Sie machte eine leichte Drehung nach links und hieb mit der gleichen Hand, die bereits Blessuren aufwies, auf die Glasplatte zu Lavals Rechter. Auch hier schaffte sie es trotz ihrer zierlichen Erscheinung mühelos, die dicke Scheibe zu zertrümmern, ohne dass sie eine Begründung von sich gab. Ihre Aggression spiegelte sich weder in Augen noch Gesicht wider, und das Einzige, was sie überhaupt zu sagen hatte, war das bereits wohlbekannte und wenig hilfreiche »Tick-tack!«

Der Uhrmacher hegte keinen Zweifel mehr, es mit einer Geisteskranken zu tun zu haben; womöglich war sie einer Anstalt entsprungen. Rein körperlich betrachtet war er überzeugt, es jederzeit mit ihr aufnehmen zu können, gleichwohl sie auch bei der zweiten Attacke ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit vorging. Wieder blieben Scherben in ihrem Fleisch stecken, die sie anschließend genauso gleichmütig abwischte wie beim ersten Mal. Und wieder löste sich aus den durchaus bemerkenswerten Wunden kein einziger Tropfen Blut.

...



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