Doyle Professor Zamorra - Folge 1089
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7325-2705-2
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Engel von jenseits der Nacht
E-Book, Deutsch, Band 1089, 64 Seiten
Reihe: Professor Zamorra
ISBN: 978-3-7325-2705-2
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In den Tiefen Château Montagnes gibt es Geheimnisse, die nicht einmal Professor Zamorra kennt. Insofern ist die magische Spur, die eines Tages aus den Gewölben unter dem Schloss bricht und sich quer durch Frankreich bis nach Paris zieht, in der Tat eine Überraschung.
Bei der Untersuchung der Frage, ob von dieser Spur Gefahr ausgeht oder nicht, treffen Zamorra und Nicole erneut auf den Agenten Onyx von der Section Spéciale. Er hat einen ganz besonderen Fall von Kirchenschändung auf dem Schreibtisch, der irgendwie mit der magischen Spur zusammenzuhängen scheint ...
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Zamorras erster Blick galt nicht wie sonst der Nachttisch-Uhr, um zu erfahren, wie spät es war, sondern ging zu den Fenstern, an denen etwas anders war als sonst. So faszinierend anders, dass er alles andere um sich herum vergaß, aufstand und darauf zuging.
Hinter ihm regte sich Nicole. »Hey! Was wird das? Bettflucht?«
Er schüttelte den Kopf, blieb vor dem Fenster stehen und strich gegen die Innenseite der Doppelverglasung, als könnte er berühren, was in Wahrheit außerhalb seiner Reichweite lag – zumindest, solange das Fenster geschlossen blieb.
»Wann habe ich dir das letzte Mal Blumen geschenkt?«
»Blumen? Du willst mir Blumen schenken?«
Offenbar konnte er sie noch verblüffen.
»Vielleicht nicht schenken, aber widmen. Komm her, bitte!« Er winkte sie zu sich, hörte, wie sie die Bettdecke zurückschlug und auf Zehenspitzen zu ihm huschte.
Dazu murmelte sie: »Widmen, aha. Hat dir schon jemand gesagt, dass du mit zunehmendem Alter immer merkwürdiger wirst?«
»Ich bin ewig jung«, behauptete er.
»Ewig kindisch vielleicht«, konterte sie.
Offenbar war sie so sehr auf ihn konzentriert, dass sie erst bemerkte, was ihn zum Fenster gelockt hatte, als sie neben ihm stand und sich an ihn schmiegte.
»Sieh endlich richtig hin«, forderte er sie auf. »Wann hatten wir das in den letzten Jahren mal? Sind sie nicht wunderschön? Ich würde sie dir schenken, wenn ich könnte. Deshalb lass mich sie dir wenigstens widmen.«
In ihre Züge schlich sich ein Ausdruck kindlichen Staunens, mädchenhafter Begeisterung. »Eisblumen … Wunderschöne – Eisblumen!«
Sie hauchte Zamorra einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du mich geweckt hast.«
»Habe ich das?«
Sie ging nicht darauf ein. Durch die Muster, die der Wetterumschwung auf die Scheiben gezaubert hatte, war zu sehen, dass sich da draußen noch sehr viel mehr verändert hatte. Über Nacht war eine Eislandschaft entstanden wie ein bizarres Märchenreich. Château Montagne thronte darin wie eine verwunschene Festung. Bei aller Begeisterung fröstelte Nicole auch prompt bei dem selten gewordenen Anblick. Zamorra glaubte, die harten Spitzen ihrer Brüste durch den eigenen Pyjama-Stoff und ihr Nachthemd zu spüren.
»Sie hatten gewarnt«, murmelte Nicole. »Gestern in den Spätnachrichten. Einfall von milderer Luft nach den Tagen zweistelliger Minusgrade. Dazu Niederschläge, die auf frostige Untergründe treffen. Vor eisglatten Straßen wurde gewarnt. Aber das hier … Das ist unfassbar schön!«
Auch Zamorra konnte sich nicht sattsehen an den frostigen Kunstwerken, die die Wetterkapriole erschaffen hatte. Zamorra riss das Fenster auf und zog sich damit den Unwillen Nicoles zu.
»Bist du verrückt? Mach wieder zu. Ich will nicht erfrier-« Sie verstummte, als sie merkte, dass ihre Sorge übertrieben war. Die Luft war lauer als befürchtet.
»So können wir es doch erst richtig sehen – und genießen. Die Eisschicht am Fenster hat alles verzerrt.«
Sie nickte. Offenbar war er entschuldigt.
Gemeinsam bestaunten sie die Kunstwerke, die am Schloss selbst und auf den Bäumen und Sträuchern entstanden waren, die seine Mauern säumten. Neben stalaktitenartigen Eiszapfen hatten sich auch Eisplatten wie kurzlebige Vordächer über Dachränder geschoben und würden irgendwann unter dem eigenen Gewicht einbrechen und in die Tiefe stürzen.
Zamorra hauchte Nicole einen Kuss auf den Mund. Dann schloss er das Fenster wieder und zog Nicole nach nebenan ins Bad, von dem aus sie freien Blick ins Tal hatten, wo die Szenerie noch unwirklicher anmutete. Im Frühlicht präsentierte sich das Dorf zu Füßen des Schlossbergs, als wäre es auf eine sonnenferne Eiswelt versetzt worden.
»Wunder-wunderschön, aber jetzt ist mir wirklich kalt. Lass uns wieder unter die Bettdecke schlüpfen.«
»Sollten wir uns nicht anziehen und rausgehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Kuscheln! Auf die Nase fallen sollen andere.«
»Oh«, machte Zamorra.
»Was ›oh‹?«
»Madame Claire! Sie kann unmöglich bei diesen Verhältnissen …« Mehr brauchte er nicht zu sagen.
Sie kehrten ins Schlafzimmer zurück und blickten auf die Uhr.
Ungefähr um diese Zeit startete die Köchin gemeinhin von zu Hause, um ins Schloss zu kommen.
»Unser Frühstück wird heute wohl etwas spartanischer ausfallen als sonst«, sagte Zamorra. »Und unser Mittagessen möglicherweise auch. Lass mich kurz verschwinden und mit William sprechen. Er soll …«
»Das kannst du doch auch bequem von hier aus. Komm schon. Früher musste ich dich nicht so bitten!«
Im Gegensatz zum Eis draußen schmolz Zamorras Widerstand binnen einer Sekunde dahin.
***
Madame Claire war dabei, sich ihren allmorgendlichen »Wachmacher« aufzubrühen – ganz traditionell mit Filterpapier und Bohnen, die sie in einer altmodischen Kaffeemühle zu feinem Pulver vermahlen hatte. Dabei blickte sie nichtsahnend durch das Sprossenfenster über der Küchenarbeitsplatte nach draußen.
Zuvor hatte sie sich nur auf das Wesentliche konzentriert und der Welt jenseits der Scheibe keine Beachtung geschenkt. Sie brauchte diesen ersten starken Kaffee wie die Luft zum Atmen und um nach dem Aufstehen überhaupt in die Gänge zu kommen. Schon der Duft, der sich beim Brühvorgang entfaltete, weckte die Lebensgeister – selbst bei Toten, wie manch einer behauptete, der schon einmal in den Genuss eines »Blackys« gekommen war.
Viele waren es nicht. Madame Claire war in Maßen gesellig und dazu auch noch extrem wählerisch, was ihren gesellschaftlichen Umgang betraf.
Eine selbstbewusste Frau in den allerbesten Jahren, wie die Freunde und Bekannten, die sie hatte, nicht müde wurden, herauszustellen.
Eine streitsüchtige alte Jungfer, wie weniger wohlmeinende Dorfbewohner dagegen hielten.
Letztlich lag die Wahrheit wahrscheinlich, wie so oft, irgendwo dazwischen.
Ob nun selbstbewusst oder Querulant, jedenfalls entfuhr der gelernten Köchin ein überraschter Aufschrei, als sie durch das Küchenfenster in den Vorgarten ihres Cottages starrte, wo sich über Nacht Erstaunliches getan hatte.
Vor Staunen vergaß Madame Claire zunächst sogar, heißes Wasser nachzugießen, als der Filter »trocken lief«. Sie holte es mit einem tiefen Seufzer nach und stellte die Wasserkanne anschließend zurück auf das Gitter des Gasherds.
Während das Wasser in die Kanne unter dem Porzellanfilter lief, eilte Madame Claire durch den kurzen Flur zur Haustür, riss sie auf und wollte ungestüm auf den mit Steinplatten belegten Weg treten, der ihr Cottage mit dem Bürgersteig entlang der Straße verband.
Im letzten Moment konnte sie sich am Türrahmen festhalten und so einen sonst unvermeidlichen Sturz verhindern. Der Fuß, den sie nach draußen gesetzt hatte, rutschte auf blankem Eis weg.
Madame Claire wahrte die Balance, aber nicht die Fassung. Sie fluchte lautstark, als sie Leidensgenossen dabei beobachtete, wie sie waghalsige Risiken eingingen, um zu ihren geparkten Autos zu gelangen oder die Zuwege ihrer Grundstücke mit Salz, Splitt oder Asche zu sichern.
Einer der Nachbarn entdeckte Madame Claire in einem Outfit, in dem er auch in arktischen Regionen hätte bestehen können, und winkte ihr mit der behandschuhten Hand zu.
Madame Claire erwiderte den stummen Gruß mechanisch. Die Vermummung des Nachbarn erinnerte sie daran, dass sie in ihrem dünnen Morgenmantel und den Hausschuhen nicht nur jämmerlich fror, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr viel groteskeres Bild abgab als der kälteangepasst wirbelnde Jacques Bernier von gegenüber.
»Geh rein, du holst dir den Tod!«, brummelte er durch den Schal, den er sich vors Gesicht gespannt hatte. »Wenn ich hier fertig bin, komm ich rüber und streu dein Trottoir. Du kannst dich gern mit einem leckeren Frühstück revanchieren an deinem freien Tag.«
Jacques war ein freundlicher Zeitgenosse. Unglücklicherweise war seine Frau vor drei Jahren verstorben, und spätestens seit einem Jahr versäumte er keine Gelegenheit, sich der Köchin anzudienen.
»Freier Tag?« Sie schüttelte, schon im Rückzug begriffen, den Kopf, mimte Bedauern. »Schön wär’s, Jacques, schön wär’s. Ich muss in ein paar Minuten los, erst zum Bäcker, wie üblich, und dann hoch ins Schloss. Die Herrschaften sind es gewohnt, ihr Baguette genauso pünktlich auf dem Frühstückstisch zu haben wie ihre Zeitung. Ein andermal, ja?«
Jacques knirschte sicheren Fußes über das blanke Eis auf sie zu – was sie zu dem Irrglauben verleitete, sie könne das, erst einmal richtig angezogen, nachmachen. Doch dann bemerkte sie, dass ihr Nachbar sich auf mehr als gutes Schuhwerk verließ: Er hatte zusätzlich mit Gummibändern Spikes an den Sohlen fixiert. Und die nagelten bei jedem Schritt in die Eisschicht, die sich nicht nur über Wege und Vegetation gelegt hatte, sondern auch die Autobesitzer der Umgebung zur Verzweiflung brachte.
»Blitzeis«, erklärte Jacques. »Im Schloss werden sie heute ohne dich auskommen müssen. Aber das wird sie nicht gleich umbringen, oder?«
Madame Claire forschte in ihrem Gedächtnis, wann sie zum letzten Mal nicht pünktlich zur Arbeit erschienen war. Es musste schon so lange her sein, dass sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Entsprechend harsch kam ihr Widerspruch, während sie begehrlich auf Jacques...