Douglas 'Ordnungsgemäße Überführung'
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-406-62295-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
E-Book, Deutsch, 556 Seiten
ISBN: 978-3-406-62295-3
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bis heute zählt die durch Hitlers verbrecherisches Regime ermöglichte Vertreibung der Deutschen aus dem Osten Europas zu den umstrittensten Themen der deutschen Zeitgeschichte. Daher ist es wohl kein Zufall, dass die erste große historische Gesamtdarstellung nun von einem irischen Historiker vorgelegt wird.
„Geordnet und human“, sollte die Umsiedlung der Deutschen erfolgen, so hatte es das Potsdamer Abkommen festgelegt. Doch die Realität sah anders aus. In seinem gründlich recherchierten Buch rekonstruiert R. M. Douglas die verschiedenen Etappen der Massenvertreibungen, beschreibt den Archipel der Konzentrations-, Internierungs- und Sammellager für Deutsche, der in ganz Mittel- und Osteuropa nach dem Krieg entstand, und beleuchtet die Folgen, deren Schatten bis in die Gegenwart reichen. Dabei verwendet er deutsche Quellen nur, sofern sie durch andere Zeugnisse bestätigt werden, und konzentriert sich auf Überlieferungen aus dem Archiv des Internationalen Roten Kreuzes, Beobachtungen westlicher Diplomaten, Offiziere und Journalisten sowie auf die Akten der ausweisenden Staaten selber. So entsteht eine Darstellung, die das Leid der Vertriebenen, die Gräueltaten an Deutschen und das moralische Versagen der Alliierten in ungewohnter Schärfe thematisieren kann ohne in den Verdacht der Einseitigkeit zu geraten. Vertreibungen laufen nie „geordnet und human“ ab, das ist die zentrale These dieses Buches. Ein flammender Appell gegen Völkerverschiebungen als Mittel internationaler Politik.
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EINLEITUNG
Jedes Jahr findet am Morgen des 1. September eine Zeremonie auf dem Munitionsdepot Westerplatte über der Hafeneinfahrt von Gdansk (Danzig) statt – an der Stelle, auf die das Schlachtschiff Schleswig-Holstein, das unter dem Vorwand eines Flottenbesuchs aus Deutschland gekommen war, 1939 die ersten Schüsse des Zweiten Weltkriegs abfeuerte. Zum 70. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen nahm Angela Merkel 2009 mit anderen internationalen Politikern an der Gedenkfeier teil. Sie war als erstes bundesdeutsches Regierungsoberhaupt dazu eingeladen. Dies war an sich schon bedeutsam genug. Doch befand sich die Bundeskanzlerin darüber hinaus in einer besonders delikaten Lage, denn in Deutschland näherte sich der Bundestagswahlkampf seinem Höhepunkt. Viele Anhänger der CDU waren sich der Tatsache bewusst, dass Gdansk nicht nur der Ort des ersten unprovozierten Angriffs des NS-Regimes auf einen Nachbarstaat war, sondern fünf Jahre später auch einer der Teile Ostdeutschlands, aus denen Millionen von Zivilisten unter großem Leiden und mit vielen Todesopfern vertrieben wurden. Angela Merkel sah sich damit vor dem scheinbar unauflöslichen Dilemma, potenziellen Wählern zu versichern, dass sie die Vertreibungen und ihre Folgen für Deutschland nicht vergessen habe, ohne ihre Gastgeber und die Weltmeinung an einem Tag zu brüskieren, der eher dem Andenken an polnisches als an deutsches Leid gewidmet war. Ihre Lösung bestand darin, zwei sehr unterschiedliche Botschaften an ihre jeweiligen Zuhörer auszusenden. In einem ARD-Interview am Morgen erklärte die Kanzlerin, die deutschen Verbrechen während des Krieges seien gewaltig gewesen, «dennoch ist auch die Vertreibung von weit über zwölf Millionen Menschen aus den Gebieten des ehemaligen Deutschlands und heutigen Polens natürlich ein Unrecht, und auch das muss benannt werden». Mehrere Stunden später äußerte sie sich in ihrer Ansprache auf der Westerplatte in konzilianterem Ton zu dem Thema. Sie erkannte die alleinige Verantwortung Deutschlands für das zerstörerischste Kapitel der Geschichte Europas und der Welt an und sagte: «Der von Deutschland entfesselte Krieg brachte unermessliches Leid über viele Völker – Jahre der Entrechtung, der Erniedrigung und der Zerstörung.» Das deutsche Volk erinnere sich zwar auch an das Schicksal jener, die nach dem Mai 1945 ihre Heimat verloren, doch sie versicherte ihren Zuhörern, dies geschehe nicht in der Absicht, «irgendetwas an der immer währenden geschichtlichen Verantwortung Deutschlands umschreiben zu wollen. Das wird niemals geschehen.»[1] Einige Kommentatoren erwähnten den unterschiedlichen Tenor der beiden Äußerungen und waren der Meinung, beide seien zu einem so bedeutenden Anlass unpassend gewesen. Mehrere Zeitungen schrieben, die Tatsache, dass die Kanzlerin das Thema überhaupt angesprochen habe, sei ein durchsichtiger Versuch, bei ihren Wählern zuhause Sympathiepunkte zu sammeln. Im Allgemeinen wurde Angela Merkels Gdansker Ansprache aber im Inund Ausland gut aufgenommen. Man lobte sie weithin für das Geschick, mit dem sie sich auf einem Gebiet bewegt hatte, das für Deutschland wie für seine Nachbarn zu einem politischen Minenfeld geworden war. Sogar die Berliner Zeitung, die in den meisten Fragen anderer Meinung war als die Kanzlerin, gestand ihr zu, sie habe für den Anlass «zwar die richtigen Worte gefunden, aber einige davon zum falschen Zeitpunkt ausgesprochen».[2] Mit dem Hinweis auf die Sensibilität des Themas hatten die Kommentatoren sicher nicht übertrieben. Seit dem sogenannten Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre, als Andreas Hillgruber versucht hatte, die Nachkriegsvertreibungen und den Holocaust als unterschiedliche Manifestationen desselben tiefliegenden und weit über NS-Deutschland hinausreichenden Impulses zur ethnischen «Rationalisierung» Europas darzustellen, hatte die Frage auch in jüngerer Zeit ihr Konfliktpotenzial bewiesen. Glücklicherweise ist kein namhafter Historiker Hillgrubers irrigem Versuch gefolgt, den Holocaust und die Vertreibungen in denselben Zusammenhang zu rücken. Dennoch wurden optimistische Vorhersagen aus den Jahren direkt nach der deutschen Wiedervereinigung, bald sei die Zeit gekommen, wo eine reife und abgeklärte Debatte über das Thema endlich möglich sei, rasch widerlegt. Die bitteren Auseinandersetzungen, die Mitte der neunziger Jahre zwischen den Vertriebenenverbänden sowie ihren politischen Unterstützern und den Regierungen der Tschechischen Republik und Polens aufflammten, waren kaum abgeklungen, als der Vorschlag der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, einen dauerhaften Gedenkort in Berlin einzurichten, neuen Unmut erzeugte. Obwohl die Bundesregierung die Besorgnisse von Vertriebenengruppen wie von Nachbarstaaten zu zerstreuen suchte, indem sie 2008 die Verantwortung für das Projekt an sich zog, hat sich der Sturm der Kritik im In- und Ausland bis heute nicht gelegt. Zu einem Zeitpunkt, wo die jüngsten noch lebenden Vertriebenen, die als Kinder nach Deutschland kamen, um die 70 Jahre alt sind, während die Generation, die direkt nach dem Krieg alt genug war, um sich an ihre Erfahrungen zu erinnern, zum größten Teil gestorben ist, scheint es nicht unmöglich, dass die Kontroverse über die Vertreibungen die Vertriebenen selbst überlebt. Vielleicht sollte uns das nicht überraschen. Die deutsche Behandlung angeblicher Feinde in der Ära des Nationalsozialismus war so unvorstellbar brutal und das Erbe des Krieges so zerstörerisch und dauerhaft, dass die Wiederherstellung dessen, was die Historiker Konrad Jarausch und Michael Geyer treffend eine «zerbrochene Vergangenheit» nennen, vielleicht niemals ganz zu erreichen ist. Auffälliger ist aber, dass ein so großer Teil der Diskussion dieses düsteren und konfliktgeladenen Kapitels weitgehend abgelöst von den Einzelheiten seiner Geschichte geführt worden ist. Bemerkenswerterweise fiel kaum einem Kommentator in Deutschland oder anders wo auf, dass Angela Merkel, wenn man nach ihrem Morgeninterview vom 1. September 2009 ging, anscheinend glaubte, dass alle der «weit über zwölf Millionen Menschen», die nach dem Krieg vertrieben wurden, aus dem Vorkriegsdeutschland oder aus Polen kamen – eine Aussage, die zum einen die zahlreichen Deportierten aus Südosteuropa ignorierte und zum anderen implizierte, das ehemalige Sudetenland habe schon vor 1938 zum Deutschen Reich gehört. Der lapsus linguae der Kanzlerin wäre wohl kaum so leicht überhört worden, wenn es sich um einen Aspekt des Zweiten Weltkriegs gehandelt hätte, dessen grundlegende Tatsachen den meisten Deutschen vertrauter sind. Mit diesem Hinweis will ich nicht an die inzwischen weitgehend widerlegte These anknüpfen, die Vertreibungen seien bis vor kurzem ein «Tabu» gewesen – zumindest in der Bundesrepublik. Es ist zweifellos richtig, dass die Bonner Regierung der fünfziger Jahre das Andenken an die Vertreibungen im Dienst des Kalten Kriegs stark instrumentalisierte, während es später im Interesse einer neuen Entspannung und angesichts des schwindenden politischen Einflusses von Vertriebenengruppen offiziell abgeschwächt wurde, wie der Historiker Manfred Kittel jüngst betont hat. Nur weil die Vertreibungen niemals «unaussprechlich» waren, konnte man jedoch nicht zu jedem Zeitpunkt alles und jedes darüber äußern. Vielmehr gab es in Deutschland und ganz Mitteleuropa in der Nachkriegsepoche starke offizielle und inoffizielle Versuche, den Diskurs von Öffentlichkeit und Medien darüber zu kontrollieren und die Diskussion in erwünschte Bahnen zu lenken. Einer der wichtigsten, aber vielleicht auch erfolglosesten Versuche war die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene mehrbändige Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, die ab 1953 erschien. Doch viele nichtstaatliche Akteure waren nicht weniger aktiv darin, die Debatte definieren und kontrollieren zu wollen. Dabei beanspruchten Vertriebenenorganisationen auf der Basis der persönlichen Erlebnisse ihrer Mitglieder oft ein unangreifbares Wissensmonopol. Ihre Gegner versuchten die Diskussion dagegen ganz abzubrechen, indem sie jede undiplomatische oder unsensible Äußerung von Funktionären der Landsmannschaften als klaren Beweis für revanchistische oder revisionistische Ziele nahmen. Dass solche Versuche, die Debatte zu bestimmen oder abzuschließen, ihr Ziel nicht erreichten, bedeutet nicht, dass sie stets ohne Wirkung blieben. Innerhalb Deutschlands hat sich nach dem Krieg die Kontroverse um den Umgang mit den Vertreibungen fast nur um «Erinnerung» statt um «Geschichte» gedreht – anders gesagt stand die Frage im Mittelpunkt, wie man sich an sie erinnern und sie darstellen soll, nicht woran erinnert werden soll. Man könnte daraus schließen, es existiere in Wissenschaft und Öffentlichkeit ein stabiler Konsens darüber, was mit der deutschsprachigen Bevölkerung Mittel- und Südosteuropas zwischen 1944 und 1950 geschah. Doch das Gegenteil ist der Fall. Über fast alle wichtigen Punkte herrschen nach wie vor große Meinungsunterschiede und noch größere Verwirrung: so grundlegende Fragen wie die Zahl der Todesopfer während der Vertreibungen (und selbst die Frage, was als vertreibungsbedingter Todesfall zu...