E-Book, Deutsch, 960 Seiten
Dostojewskij Böse Geister
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401868-3
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 960 Seiten
Reihe: Fjodor M. Dostojewskij, Werkausgabe
ISBN: 978-3-10-401868-3
Verlag: S. Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fjodor Michailowitsch Dostojewskij (1821-1881) war ursprünglich Leutnant in St. Petersburg. Er quittierte seinen Dienst 1844, um freier Schriftsteller zu werden. Seine Romane ?Verbrechen und Strafe?, ?Der Spieler?, ?Der Idiot?, ?Böse Geister?, ?Ein grüner Junge?, ?Die Brüder Karamasow? sowie ?Aufzeichnungen aus dem Kellerloch? liegen im S. FISCHER Verlag in der herausragenden Übersetzung von Swetlana Geier vor.
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Zweites Kapitel
Prinz Harry. Die Brautwerbung
I
ES gab auf der Welt noch einen Menschen, an dem Warwara Petrowna nicht weniger hing als an Stepan Trofimowitsch – das war ihr einziger Sohn Nikolaj Wsewolodowitsch Stawrogin. Für ihn war seinerzeit Stepan Trofimowitsch als Erzieher engagiert worden. Der Knabe war damals etwa acht Jahre alt, und der lebenslustige General Stawrogin, sein Vater, lebte bereits von seiner Mutter getrennt, so daß das Kind ausschließlich unter ihrer Obhut aufwuchs. Man muß es Stepan Trofimowitsch lassen, er hatte es verstanden, die Zuneigung des Zöglings zu gewinnen. Das ganze Geheimnis bestand darin, daß er selber ein Kind war. Ich war damals noch nicht hier, er aber war stets auf einen aufrichtigen Freund angewiesen. Und er zögerte nicht, dieses kleine Geschöpf, kaum daß es ein wenig herangewachsen war, zu seinem Vertrauten zu machen. Es ergab sich irgendwie ganz natürlich, daß zwischen ihnen jede Distanz fehlte. Mehr als einmal weckte er nachts seinen zehn- oder elfjährigen Freund, einzig und allein, um vor ihm unter Tränen seine verletzten Gefühle auszubreiten oder ihm irgendein häusliches Geheimnis anzuvertrauen, ohne zu bedenken, daß dies nun ganz und gar unstatthaft war. Sie fielen einander in die Arme und schluchzten. Der Knabe wußte, daß seine Mutter ihn sehr liebte, aber es ist kaum anzunehmen, daß er ihre Liebe erwiderte. Sie sprach wenig mit ihm, schlug ihm nur selten etwas ab, aber ihr prüfender, ihn ständig beobachtender Blick verursachte ihm irgendwie ein stetes Mißbehagen. In allen Fragen der Bildung und der sittlichen Entwicklung verließ sich die Mutter uneingeschränkt auf Stepan Trofimowitsch. Damals glaubte sie noch uneingeschränkt an ihn. Es ist anzunehmen, daß der Pädagoge die Nerven seines Zöglings ein wenig strapazierte. Als dieser in seinem sechzehnten Lebensjahr in das Lyzeum eintrat, war er schmächtig und bleich, eigentümlich still und nachdenklich. (Später zeichnete er sich durch außergewöhnliche physische Kräfte aus.) Ferner ist anzunehmen, daß die Freunde ihre Tränen nicht nur über irgendwelche häuslichen Zwischenfälle vergossen, wenn sie einander nachts in die Arme fielen. Stepan Trofimowitsch gelang es, die tiefsten Saiten im Herzen seines Freundes zu berühren und die erste, noch unbestimmte Regung jener ewigen, heiligen Sehnsucht zu wecken, die manche auserwählte Seele, nachdem sie einmal von ihr gekostet und sie erkannt hat, niemals mehr gegen eine wohlfeile Befriedigung eintauschen möchte. (Es gibt auch Liebhaber, für die diese Sehnsucht mehr bedeutet als die radikalste Befriedigung, sogar, wenn eine solche möglich wäre.) Aber jedenfalls war es gut, daß Zögling und Erzieher, wenn auch spät, voneinander getrennt wurden.
Aus dem Lyzeum kam der Jüngling in den ersten zwei Jahren in den Ferien nach Hause. Während Warwara Petrowna und Stepan Trofimowitsch sich in Petersburg aufhielten, erschien er bisweilen an den literarischen Abenden, die bei seiner Mutter stattfanden, hörte zu und beobachtete. Er sprach wenig und war nach wie vor still und schüchtern. Stepan Trofimowitsch behandelte er mit der gleichen herzlichen Aufmerksamkeit, aber bereits zurückhaltender: Gesprächen über erhabene Gegenstände und dem Schwelgen in Erinnerungen versuchte er sichtlich auszuweichen. Nach dem Verlassen des Lyzeums ging er auf Wunsch seiner Mutter zum Militär und wurde bald in eines der vornehmsten Gardekavallerie-Regimenter aufgenommen. Er unterließ es, seiner Mutter die Uniform vorzuführen, und seine Briefe aus Petersburg wurden immer seltener. Die Mittel, mit denen Warwara Petrowna ihn versah, waren großzügig bemessen, obwohl die Einkünfte ihrer Güter nach der Reform so zurückgegangen waren, daß sie in der ersten Zeit nicht einmal die Hälfte der früheren Einnahmen erhielt. Allerdings verfügte sie über ein beträchtliches Kapital, das sie in vielen Jahren erwirtschaftet und angesammelt hatte. Es lag ihr viel daran, daß ihr Sohn in der höchsten Petersburger Gesellschaft reüssierte. Was ihr selbst nicht gelungen war, das gelang dem jungen vermögenden Offizier, der zu großen Hoffnungen berechtigte. Er erneuerte Bekanntschaften, von denen sie nicht einmal mehr träumen konnte, und wurde überall mit der größten Bereitwilligkeit empfangen. Aber sehr bald kamen Warwara Petrowna ziemlich merkwürdige Gerüchte zu Ohren: Der junge Mann sei ganz plötzlich und irgendwie sinnlos aus der Bahn geraten. Nicht, daß er spielte oder trank; man sprach nur von einer irgendwie wilden Zügellosigkeit, von Menschen, die er mit seinen Trabern zu Tode gebracht hätte, von der Brutalität gegenüber einer Dame der besten Gesellschaft, mit der er ein Verhältnis gehabt und die er dann öffentlich beleidigt haben sollte. Etwas sogar allzu unverblümt Schmutziges war an dieser Geschichte. Es wurde noch hinzugefügt, er sei so etwas wie ein Bretteur, suche Händel und beleidige aus purer Lust an der Beleidigung. Warwara Petrowna geriet in Aufregung und grämte sich. Stepan Trofimowitsch versicherte ihr, es handle sich nur um die ersten ungestümen Äußerungen einer überaus reichen Natur, die Wogen würden sich glätten und dies alles erinnere an die Jugend des Prinzen Harry und seine Tollheiten mit Falstaff, Poins und Mrs. Quickly bei Shakespeare. Diesmal schnitt Warwara Petrowna ihm nicht mit »dummes Zeug, dummes Zeug!« das Wort ab, wie sie sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, Stepan Trofimowitsch anzufahren, sondern hörte ihm im Gegenteil aufmerksam zu, ließ sich alles genauer erklären, nahm selbst den Shakespeare zur Hand und las die unsterbliche Chronik mit größter Aufmerksamkeit durch. Aber die Chronik beruhigte sie mitnichten, zumal sie darin keine sonderlichen Ähnlichkeiten entdecken konnte. Fiebernd vor Ungeduld, erwartete sie die Antwort auf mehrere ihrer Briefe. Die Antwort ließ nicht auf sich warten; bald traf die verhängnisvolle Nachricht ein, daß Prinz Harry sich fast gleichzeitig zweimal duelliert habe, beide Male der allein Schuldige gewesen sei, einen seiner Gegner auf der Stelle getötet, den anderen zum Krüppel geschossen und infolge dieser Vergehen ein Gerichtsverfahren zu gewärtigen habe. Am Ende wurde er degradiert und nach Aberkennung aller Rechte als Gemeiner in ein Infanterieregiment versetzt, und auch dies nur als besondere Gnade.
Im Jahr dreiundsechzig gelang es ihm einmal, sich auszuzeichnen; er erhielt das Tapferkeitskreuz, wurde zum Unteroffizier befördert und irgendwie allzu schnell auch zum Offizier. Während dieser Zeit hatte Warwara Petrowna wohl an die hundert Briefe mit Gesuchen und flehentlichen Bitten in die Hauptstadt gesandt. Sie hatte sich sogar gestattet, in diesem außerordentlichen Fall manche Demütigung hinzunehmen. Nach seiner Beförderung hatte der junge Mann plötzlich den Abschied eingereicht, kam aber wieder nicht nach Skworeschniki und hörte überhaupt auf, an seine Mutter zu schreiben. Schließlich erfuhr man auf Umwegen, daß er sich wieder in Petersburg befinde, aber in den früheren Kreisen überhaupt nicht mehr verkehre; es schien, als wäre er irgendwie untergetaucht. Man forschte nach und erfuhr, daß er in befremdlicher Gesellschaft lebe, sich mit dem Abschaum der Petersburger Bevölkerung eingelassen habe, mit irgendwelchen heruntergekommenen Beamten, verabschiedeten Militärs, die sich mit Anstand durchbettelten, Trunkenbolden, daß er in ihren schmutzigen Familien verkehre, Tag und Nacht in obskuren Spelunken und in Gott weiß welchen Winkeln verbringe, daß er verwahrlost und abgerissen sei und offenbar daran Gefallen finde. Um Geld bat er seine Mutter nie. Er besaß ein eigenes kleines Gut, das ehemalige Dörfchen des Generals Stawrogin, das zwar wenig, aber immerhin etwas einbrachte und das er, Gerüchten zufolge, an einen Deutschen aus Sachsen verpachtet hatte. Schließlich gelang es seiner Mutter, ihn durch inständiges Bitten zu einem Besuch bei ihr zu bewegen, und Prinz Harry erschien in unserer Stadt. Das war das erste Mal, daß ich ihn in Augenschein nehmen konnte, bis dahin hatte ich ihn noch nie gesehen.
Er war ein sehr schöner junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, und, wie ich zugeben muß, er überraschte mich. Ich hatte einen schmutzigen Landstreicher erwartet, infolge seines lasterhaften Lebenswandels verfallen und nach Wodka riechend. Ganz im Gegenteil, er war der eleganteste Gentleman, der mir je vor Augen gekommen ist, vorzüglich gekleidet und mit einer Haltung, wie sie nur ein an feinsten Anstand gewöhnter Herr zeigen kann. Ich war nicht der einzige, der erstaunt war: Es staunte die ganze Stadt, die natürlich über Herrn Stawrogins ganze Biographie bereits unterrichtet war, sogar über Einzelheiten, von denen man sich kaum vorstellen konnte, wie sie an die Öffentlichkeit hatten gelangen können und die sich zur Hälfte, das war wohl das Erstaunlichste, als wahr erweisen sollten. Alle unsere Damen waren von dem neuen Gast hingerissen. Sie bildeten zwei gegensätzliche Lager – in dem einen wurde er vergöttert, in dem anderen bis aufs Messer gehaßt; aber hingerissen waren die einen wie die anderen. Den einen gefiel es, daß er vielleicht in seinem Herzen ein tragisches Geheimnis verschloß; den anderen gefiel es ausgesprochen, daß er ein Mörder war. Des weiteren stellte sich heraus, daß er ziemlich gebildet war und sogar über gewisse Kenntnisse verfügte. Es bedurfte freilich keiner tiefen Kenntnisse, um uns in Erstaunen zu versetzen, aber er war imstande, auch über die gegenwärtigen, höchst interessanten Themen zu reden, und zwar, was besonders schätzenswert war, außerordentlich vernünftig. Ich erwähne es, als Curiosum: Fast vom ersten Tag an befanden bei uns alle, daß er ein...