E-Book, Deutsch, Band 2, 1200 Seiten
Dostojewski Die Brüder Karamasow
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8412-2814-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman in vier Teilen mit einem Epilog
E-Book, Deutsch, Band 2, 1200 Seiten
Reihe: Dostojewski Sämtliche Romane und Erzählungen
ISBN: 978-3-8412-2814-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Brüder und ein Mord.
Die drei Brüder Karamasow könnten unterschiedlicher nicht sein, einzig der tiefe Konflikt mit ihrem moralisch verkommenen Vater, Fjodor Karamasow, eint sie. Dmitri, der Älteste, macht kein Geheimnis daraus, dass er den Vater abgrundtief hasst, weil dieser ihm sein Erbteil vorenthält und zudem um dieselbe Frau buhlt wie er. Doch als der Vater brutal ermordet wird, hat jeder der Brüder ein Motiv. Das Gerichtsurteil trifft zwar den Falschen, vor dem inneren Richter jedoch begegnet jeder der Brüder den Verstrickungen seiner ganz persönlichen Schuld.
Fjodor Dostojewski (1821-1881) wurde in Moskau als Sohn eines Militärarztes und einer Kaufmannstochter geboren. Er studierte an der Petersburger Ingenieurschule und widmete sich seit 1845 ganz dem Schreiben. 1849 wurde er als Mitglied eines frühsozialistischen Zirkels verhaftet und zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor der Erschießung wandelte man das Urteil in vier Jahre Zwangsarbeit mit anschließendem Militärdienst als Gemeiner in Sibirien um. 1859 kehrte Dostojewski nach Petersburg zurück, wo er sich als Schriftsteller und verstärkt auch als Publizist neu positionierte. Wichtigste Werke: 'Arme Leute' (1845), 'Der Doppelgänger' (1846), 'Erniedrigte und Beleidigte' (1861), 'Aufzeichnungen aus einem Totenhaus' (1862), 'Schuld und Sühne' (1866), 'Der Spieler' (1866), 'Der Idiot' (1868), 'Die Dämonen' (1872), 'Der Jüngling' (1875), 'Die Brüder Karamasow' (1880).
Weitere Infos & Material
Erstes Buch
Die Geschichte einer Familie
1
Fjodor Pawlowitsch Karamasow
Alexej Fjodorowitsch Karamasow war der dritte Sohn des in unserem Kreis ansässigen Gutsbesitzers Fjodor Pawlowitsch Karamasow, dessen Name damals in aller Munde war (und noch heute bei uns zuweilen genannt wird), weil sein Leben auf so tragische und geheimnisvolle Weise endete, was vor genau dreizehn Jahren geschah und worüber ich, wenn es an der Reihe ist, berichten werde. Einstweilen will ich über diesen »Gutsbesitzer« (wie man ihn bei uns nannte, obwohl er in seinem ganzen Leben fast nie auf seinem Gut gelebt hatte) nur soviel sagen: Er verkörperte einen merkwürdigen, dabei ziemlich häufig vorkommenden Typ, den Typ des nicht einfach nur lottrigen und ausschweifenden, sondern stumpfsinnig lottrigen und ausschweifenden Menschen, und zählte wiederum zu jenen Stumpfsinnigen, die es verstehen, ihre Besitzangelegenheiten – und offenbar nur sie – aufs beste wahrzunehmen. Fjodor Pawlowitsch zum Beispiel hatte fast mit nichts angefangen, unter den Gutsbesitzern war er ein ganz kleiner gewesen, er hatte, hierhin und dahin laufend, von fremden Tischen sich genährt, um ein rechtes Krippenreiterdasein sich bemüht; dagegen besaß er, als der Tod ihn ereilte, allein an Geld, wie sich zeigte, beinahe hunderttausend Rubel. Dennoch hatte er sein Leben lang nicht aufgehört, einer der stumpfsinnigsten Querköpfe in unserem ganzen Kreis zu sein. Ich wiederhole: Nicht von Dummheit ist die Rede; die meisten dieser Querköpfe sind ziemlich schlau und verschlagen; nein, es ist wirklich Stumpfheit, und zwar eine von besonderer Art, von nationaler Eigentümlichkeit.
Zweimal war er verheiratet gewesen, und er hatte drei Söhne: den ältesten, Dmitri Fjodorowitsch, von der ersten Frau, die anderen beiden, Iwan und Alexej, von der zweiten. Die erste Frau Fjodor Pawlowitschs stammte aus dem ziemlich reichen und angesehenen Adelsgeschlecht der Miussows, die gleichfalls Gutsbesitzer in unserem Kreis waren. Wie es geschehen konnte, daß ein Mädchen mit beträchtlicher Mitgift, zudem eine Schönheit und, mehr noch, eines jener selbstbewußten, gescheiten Wesen, die wir bei der heutigen jungen Generation keineswegs selten finden, die es aber hier und da auch früher schon gegeben hat – daß also dieses Mädchen solch einen schäbigen »Kümmerling«, wie alle ihn damals nannten, heiratete, werde ich nicht weiter zu erklären versuchen. Kannte ich doch eine – noch zur »romantischen« Generation von dazumal zählende – unverheiratete Dame, die nach etlichen Jahren geheimnisvoller Liebe zu einem Herrn, den sie übrigens jederzeit in aller Ruhe hätte heiraten können, am Ende sich selber unüberwindliche Hindernisse ausdachte und sich in einer stürmischen Nacht von einem felsigen Hochufer in einen ziemlich tiefen und rasch strömenden Fluß stürzte, wo sie den Tod fand, dessen Ursache buchstäblich ihre eigenen Launen waren; sie starb so, einzig um der Shakespeareschen Ophelia zu gleichen; ja, wäre dieser Felsen, auf den sie seit langem ihre Aufmerksamkeit gerichtet und den sie liebgewonnen hatte, nicht so malerisch gewesen, hätte vielmehr statt seiner der Fluß an dieser Stelle ein prosaisches flaches Ufer gehabt, so wäre der Selbstmord womöglich ganz unterblieben. Dies ist wirklich geschehen, eine Tatsache, und es gilt zu bedenken, daß unser russisches Leben in den letzten zwei, drei Generationen von solchen oder ganz gleichartigen Tatsachen nicht wenige aufzuweisen hat. Ähnlich verhielt es sich mit dem Schritt, zu dem Adelaida Iwanowna Miussowa sich entschloß; zweifellos war es Widerhall fremden Sinnens, war eben auch »gefangnen Geistes Wallung«. Vielleicht trieb es sie, weibliche Selbständigkeit zu beweisen, etwas zu unternehmen gegen die Verhältnisse der Gesellschaft, gegen den Despotismus von Sippe und Familie, und die gefügige Phantasie mochte sie, sei es auch nur für einen Augenblick, davon überzeugt haben, daß Fjodor Pawlowitsch ungeachtet seiner Krippenreiterrolle immerhin einer der durch große Kühnheit und ätzenden Spott sich auszeichnenden Männer jener Epoche des Übergangs sei – des Übergangs zu jeglichem Besseren; dabei war er ein boshafter Possenreißer, nichts weiter. Das Pikante an der Sache bestand zudem darin, daß sie mittels Entführung vor sich ging – ein Umstand, der für Adelaida Iwanowna hohen Reiz besaß. Fjodor Pawlowitsch wiederum zeigte zu allen Streichen solcher Art schon angesichts seiner sozialen Stellung damals geradezu die größte Bereitschaft, wünschte er doch sehnlich, sich eine Karriere zu sichern, ganz gleich wodurch; und sich in eine gute Familie einzuschleichen und Mitgift zu vereinnahmen lockte ihn sehr. Was nun beiderseitige Liebe betraf, so war sie offenbar überhaupt nicht vorhanden, weder bei der Braut noch bei ihm, ungeachtet sogar der Schönheit Adelaida Iwanownas. So daß dieser Fall vielleicht den einzigen seiner Art im Leben Fjodor Pawlowitschs ausmachte, der bis zu seinem Ende ein Lüstling gewesen ist: Wenn nur ein Weiberrock – irgendeiner – ihn reizte, so besann er sich keinen Augenblick und heftete sich zudringlich an ihn. Indessen also machte allein diese Frau, was die sinnliche Seite betraf, auf ihn gar keinen besonderen Eindruck.
Adelaida Iwanowna gelangte sofort nach der Entführung, beinahe augenblicks, zu der Einsicht, daß sie ihren Mann nur verachtete, weiter nichts. Was aus der Eheschließung folgte, zeichnete sich darum außerordentlich rasch ab. Obgleich sich die Familie erstaunlich schnell mit dem Geschehenen abfand und der Entflohenen die Mitgift zukommen ließ, begann zwischen den Eheleuten ein denkbar unordentliches Leben, und es gab ständig Szenen. Wie erzählt wurde, bewies die junge Frau dabei unvergleichlich mehr Edelmut und Würde als Fjodor Pawlowitsch, der, wie man heute weiß, ihr sämtliches bares Geld, nicht weniger als fünfundzwanzigtausend, gleich mit einem Male, kaum daß es in ihren Händen war, an sich riß, so daß die schönen Tausender von dieser Zeit an für sie gänzlich verloren, wie vom Wasser verschluckt waren. Was das Dörfchen und das recht ansehnliche Haus in der Stadt betraf, die gleichfalls zur Mitgift gehörten, so verwendete er viel Zeit und die größte Mühe darauf, sie durch ein geeignetes Rechtsgeschäft auf seinen Namen überschreiben zu lassen, und wahrscheinlich hätte er das allein schon sozusagen dank der Verachtung und der Abscheu erreicht, die seine Gattin für ihn hegte und die er jede Minute mit seinen schamlosen Erpressungen und Betteleien aufs neue hervorrief, auch allein schon dank ihrer seelischen Ermattung: nur daß er Ruhe gäbe. Doch zum Glück mischte sich Adelaida Iwanownas Familie ein und setzte der Räuberei Grenzen. Zuverlässig weiß man, daß es zwischen den Eheleuten häufig zu Schlägereien kam, aber es wird überliefert, daß nicht Fjodor Pawlowitsch schlug, sondern daß dies Adelaida Iwanowna tat, eine hitzige, mutige, ungeduldige brünette Dame von erstaunlicher Körperkraft. Am Ende lief sie fort aus dem Haus, fort von Fjodor Pawlowitsch, ging davon mit einem Lehrer, einem, der bloß Seminarbildung hatte und der in Bettelarmut sein Dasein fristete; in Fjodor Pawlowitschs Händen ließ sie den dreijährigen Mitja zurück. Schleunigst richtete Fjodor Pawlowitsch im Hause einen ganzen Harem ein und veranstaltete wüsteste Trinkgelage; in den Pausen aber bereiste er beinahe das ganze Gouvernement und beklagte sich tränenreich bei allen und jedem darüber, daß ihn Adelaida Iwanowna verlassen habe, wobei er so im einzelnen über sein Eheleben berichtete, wie es ihm, dem Gatten, die Scham hätte verbieten sollen. Und die Hauptsache: Offensichtlich machte es ihm Freude, es schmeichelte ihm sogar, vor allen Leuten seine lächerliche Rolle des gekränkten Gatten zu spielen, ja noch ausschmückend und ins einzelne gehend die Art seiner Kränkung zu beschreiben.
»Man könnte meinen, Fjodor Pawlowitsch, Sie hätten einen hohen Rang erhalten, so zufrieden sehen Sie aus, bei all Ihrem Kummer«, bemerkten ihm gegenüber die Spötter. Manch einer fügte gar hinzu, Fjodor Pawlowitsch genieße es, in aufgefrischter Possenreißerrolle erscheinen zu können, und um größerer Erheiterung willen tue er so, als bemerkte er nicht die Lächerlichkeit seiner Lage. Übrigens, wer weiß, vielleicht handelte er da auch naiv. Schließlich entdeckte er Spuren seiner Entflohenen. Es zeigte sich, daß die Ärmste in Petersburg war; dorthin war sie mit ihrem Lehrerchen gezogen, und dort stürzte sie sich in unbegrenzte Emanzipation. Fjodor Pawlowitsch wurde ohne Verzug sehr geschäftig und rüstete sich zur Reise nach Petersburg; wozu, das wußte er natürlich selbst nicht. Mag sein, er wäre wirklich gefahren; doch da er diesen Entschluß gefaßt hatte, fühlte er sich in besonderem Maße berechtigt, zur Aufmunterung, vor dem weiten Weg, sich wieder einmal der uferlosesten Zecherei hinzugeben. In diesen Tagen nun erhielt die Familie seiner Frau die Nachricht, daß sie in Petersburg gestorben sei. Ganz plötzlich sei sie gestorben, in einer Mansarde – an Typhus, wollten die einen wissen, während andere Gerüchte besagten, sie sei einfach verhungert. Fjodor Pawlowitsch war betrunken, als er die Nachricht vom Tod seiner Frau erhielt; es heißt, er sei dann auf die Straße gerannt und habe, vor Freude die Hände zum Himmel streckend, geschrien: »Herr, nun lassest du deinen Diener …«; andere behaupteten, er habe geschluchzt wie ein kleines Kind, habe so geweint, daß es den Augenzeugen zu Herzen gegangen sei, bei aller Abscheu, die sie sonst für ihn empfanden. Sehr leicht kann sowohl das eine als auch das andere geschehen sein, das heißt, er kann sich über seine Befreiung gefreut und seiner Befreierin nachgeweint haben – alles zugleich. Meistens sind die Menschen,...