E-Book, Deutsch, 777 Seiten
Dostojewski Der Idiot
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-98510-738-4
Verlag: Phoemixx Classics Ebooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 777 Seiten
ISBN: 978-3-98510-738-4
Verlag: Phoemixx Classics Ebooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Idiot Fjodor Michailowitsch Dostojewski - Der Idiot gehört zu den fünf bekanntesten Romanen Fjodor Dostojewskis, die zur Weltliteratur gezählt werden. Er wurde von Dostojewski in Genf 1867 begonnen und in Mailand 1868 beendet und erschien von Januar 1868 bis Februar 1869 in der Zeitschrift Russki Westnik.Der junge Fürst Myschkin, Titelheld des Romans, kehrt nach einem jahrelangen Aufenthalt in einer Schweizer Heilanstalt nach Sankt Petersburg zurück. Er leidet an Epilepsie (wie auch Dostojewski selbst), ist zwar den Jahren nach erwachsen, gleicht aber in emotionaler Hinsicht einem unerfahrenen Kind. Viele seiner Eigenschaften, die in der damaligen russischen Gesellschaft als idiotisch angesehen werden, beruhen schlicht auf Myschkins eigenwilliger Ehrlichkeit und Vertrauensseligkeit. Er zeigt sich großmütig und ist immer bereit, gelassen zu verzeihen und das Beste in den Menschen zu sehen und zu fördern.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski (auch Dostojewskij, Audio-Datei / Hörbeispiel ?/i [fodr mxajlvt dstjfskj], wissenschaftliche Transliteration Fëdor Mihajlovi Dostoevskij; * 11. November 1821 in Moskau; 9. Februar 1881 in Sankt Petersburg)[1] gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller. Seine schriftstellerische Laufbahn begann 1844; die Hauptwerke, darunter Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen und Die Brüder Karamasow, entstanden in den 1860er und 1870er Jahren. Dostojewski schrieb neun Romane, zahlreiche Novellen und Erzählungen und ein umfangreiches Korpus an nichtfiktionalen Texten. Das literarische Werk beschreibt die politischen, sozialen und spirituellen Verhältnisse zur Zeit des Russischen Kaiserreiches, das sich im 19. Jahrhundert fundamental im Umbruch befand. Dostojewski war ein Seismograph der Konflikte, in die der Mensch mit dem Anbruch der Moderne geriet. Zentraler Gegenstand seiner Werke war die menschliche Seele, deren Regungen, Zwängen und Befreiungen er mit den Mitteln der Literatur nachgespürt hat; Dostojewski gilt als einer der herausragenden Psychologen der Weltliteratur.[2] Fast sein gesamtes Romanwerk erschien in Form von Feuilletonromanen und weist darum die für dieses Genre typischen kurzen Spannungsbögen auf, wodurch es trotz seiner Vielschichtigkeit und Komplexität selbst für unerfahrene Leser leicht zugänglich ist. Seine Bücher wurden in mehr als 170 Sprachen übersetzt.
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Erster Teil
I
Es war gegen Ende des November, bei Tauwetter, als sich um neun Uhr morgens ein Zug der Petersburg-Warschauer Bahn in voller Fahrt Petersburg näherte. Das Wetter war so feucht und neblig, daß das Tageslicht kaum zur Geltung kam; man konnte rechts und links von der Bahn aus den Fenstern der Wagen nur auf zehn Schritte mit Mühe etwas erkennen. Unter den Passagieren waren einige, die aus dem Ausland zurückkehrten; am meisten gefüllt waren aber die Abteile dritter Klasse, und zwar fast ausschließlich mit kleinen Geschäftsleuten, die aus nicht sehr weiter Entfernung kamen. Alle waren, wie das so zu sein pflegt, müde; allen waren während der Nacht die Augenlider schwer geworden, alle fröstelten, alle Gesichter waren gelblich, von derselben Farbe wie der Nebel. In einem Wagen dritter Klasse saßen einander seit dem Morgengrauen dicht am Fenster zwei Passagiere gegenüber: beides junge Leute, beide fast ohne Gepäck, beide nicht elegant gekleidet, beide mit recht interessanten Gesichtern und beide von dem Wunsch erfüllt, endlich miteinander in ein Gespräch zu kommen. Wenn sie beide voneinander gewußt hätten, wodurch sie gerade in diesem Augenblick interessant waren, so hätten sie sich gewiß darüber gewundert, daß der Zufall sie so seltsam in einem Wagen dritter Klasse der Petersburg-Warschauer Eisenbahn einander gegenübergesetzt hatte. Der eine von ihnen war von kleiner Statur, etwa siebenundzwanzig Jahre alt und hatte krauses, fast schwarzes Haar und kleine, graue, aber feurige Augen. Seine Nase war breit und plattgedrückt, die Backenknochen traten stark hervor; die schmalen Lippen verzogen sich fortwährend zu einem dreisten, spöttischen dies alles genau, zum Teil weil er nichts anderes zu tun hatte, und fragte schließlich mit jenem taktlosen Lächeln, durch das manchmal in so ungenierter, geringschätziger Weise das Vergnügen der Leute über das Mißgeschick des Nächsten zum Ausdruck kommt: »Ist Ihnen kalt?« Er machte dabei Bewegungen mit den Schultern. »Ja, sehr kalt«, antwortete der Reisegenosse mit großer Bereitwilligkeit, »und sehen Sie, dabei haben wir noch Tauwetter. Wie wäre es erst, wenn wir Kälte hätten? Ich hatte gar nicht gedacht, daß es bei uns so kalt wäre. Ich bin es nicht mehr gewohnt.« »Sie kommen wohl aus dem Ausland?« »Ja, aus der Schweiz.« »Füt! Nun sehen Sie einmal an!« Der Schwarzhaarige tat einen Pfiff und lachte. Es kam ein Gespräch in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes in dem Schweizermantel, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Gefährten zu antworten, war erstaunlich; er merkte in seiner Harmlosigkeit offenbar gar nicht, daß manche dieser Fragen sehr geringschätzig klangen und höchst unpassend und müßig waren. Bei seinen Antworten teilte er unter anderem mit, daß er tatsächlich lange Zeit nicht in Rußland gewesen sei, über vier Jahre; man habe ihn wegen einer Krankheit ins Ausland geschickt, wegen einer eigentümlichen Nervenkrankheit nach Art der Epilepsie oder des Veitstanzes, die sich in Zuckungen und Krämpfen geäußert habe. Der schwarzhaarige junge Mann lächelte beim Zuhören einige Male, namentlich lachte er auf, als auf die Frage: »Na, sind Sie denn nun geheilt?« der Blonde erwiderte: »Nein, geheilt bin ich nicht.« »Haha! Da haben Sie also Ihr Geld vergebens bezahlt, und wir hier schenken jenen Leuten Vertrauen!« bemerkte der Schwarzhaarige spöttisch. »Ja, das ist durchaus richtig!« mischte sich ein danebensitzender schlecht gekleideter Herr in das Gespräch, so eine Art von geriebenem Amtsschreiber, etwa vierzig Jahre alt, kräftig gebaut, mit roter Nase und einem Gesicht voller Pickel. »Das ist durchaus richtig; sie saugen uns Russen das Mark aus, ohne selbst etwas dafür zu leisten!« »Oh, wie Sie sich in meinem Fall irren!« erwiderte der Schweizer Patient in ruhigem, versöhnlichem Ton. »Ich kann ja allerdings nicht darüber disputieren, weil ich keinen Gesamtüberblick habe, aber mein Arzt hat mir von dem wenigen, was er besaß, noch das Geld für die Fahrt hierher gegeben, und fast zwei Jahre lang hat er mich dort aus seinen eigenen Mitteln unterhalten.« »Wie? Hatten Sie wirklich niemand, der für Sie bezahlte?« fragte der Schwarzhaarige. »Nein. Herr Pawlischtschew, der die Kosten meines dortigen Aufenthalts getragen hatte, ist vor zwei Jahren gestorben; ich schrieb dann hierher an die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte von mir, habe aber keine Antwort erhalten. So bin ich denn hergereist.« »Wo gedenken Sie denn zu bleiben?« »Sie meinen, wo ich Wohnung nehmen werde?... Das weiß ich noch nicht, wirklich nicht... es ist noch ungewiß...« »Darüber haben Sie noch keinen Entschluß gefaßt?« Beide Zuhörer brachen von neuem in ein Gelächter aus. »Und dieses Bündelchen enthält wohl Ihre ganze Habe?« fragte der Schwarzhaarige. »Ich möchte wetten, daß es so ist«, fiel mit sehr zufriedener Miene der rotnasige Beamte ein, »und daß Sie kein weiteres Gepäck im Gepäckwagen haben. Obwohl Armut keine Schande ist, wie man immer wieder bemerken muß.« Es stellte sich heraus, daß es sich wirklich so verhielt: der blonde junge Mann gestand dies sofort mit großer Bereitwilligkeit ein. »Ihr Bündelchen hat trotzdem einen gewissen Wert«, fuhr der Beamte, nachdem er sich satt gelacht hatte, fort (bemerkenswert war, daß auch der Eigentümer des Bündelchens selbst schließlich beim Anblick der beiden mitzulachen anfing, was deren Heiterkeit noch vergrößerte). »Man möchte zwar wetten, daß keine Rollen mit ausländischen Goldstücken, wie Napoleondors, Friedrichsdors oder holländischen Dukaten, darin sind; das kann man zum Beispiel schon aus Ihren ausländischen Gamaschen schließen, aber wenn man zu Ihrem Bündelchen noch eine solche Verwandte hinzunimmt wie die Generalin Jepantschina, dann gewinnt auch das Bündelchen gewissermaßen einen höheren Wert, selbstverständlich nur in dem Fall, wenn die Generalin Jepantschina wirklich Ihre Verwandte ist und Sie sich nicht aus Zerstreutheit irren... was einem außerordentlich leicht passieren kann... sagen wir: infolge eines Übermaßes von Phantasie.« »Oh, Sie haben wieder das Richtige getroffen«, erwiderte der blonde junge Mensch, »denn ich befinde mich wirklich beinah in einem Irrtum, das heißt sie ist kaum meine Verwandte; ja ich habe mich tatsächlich damals gar nicht darüber gewundert, daß ich keine Antwort nach der Schweiz bekam. Ich hatte das eigentlich auch so erwartet.« »Da haben Sie das Geld für die Frankierung des Briefes unnütz ausgegeben. Hm!... Nun, wenigstens sind Sie offenherzig und aufrichtig, und das ist löblich! Hm!... Den General Jepantschin kenne ich, im Grunde weil er eine allgemein bekannte Persönlichkeit ist, und den verstorbenen Herrn Pawlischtschew, der Sie in der Schweiz unterhalten hat, habe ich ebenfalls gekannt, vorausgesetzt, daß es sich um Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew handelt, denn es waren zwei Vettern. Der andere befindet sich noch auf der Krim. Nikolai Andrejewitsch aber, der Verstorbene, war ein sehr achtbarer Mann, hatte gute Verbindungen und besaß seinerzeit viertausend Seelen...« »Ganz richtig, er hieß Nikolai Andrejewitsch Pawlischtschew.« Nachdem der junge Mensch diese Antwort gegeben hatte, betrachtete er unverwandt und mit lebhaftem Interesse den Herrn, der sich über alles so gut orientiert zeigte. Diese Herren Alleswisser begegnen einem manchmal, und in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht sogar ziemlich häufig. Sie wissen alles; der ganze unruhige Forschungstrieb ihres Verstandes und ihre gesamten Fähigkeiten streben unaufhaltsam nach einer Seite hin, natürlich infolge des Mangels an wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen, wie ein moderner Denker sich ausdrücken würde. Bei dem Ausdruck »sie wissen alles« muß man übrigens an ein ziemlich beschränktes Gebiet denken: wo der und der angestellt ist, mit wem er bekannt ist, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur gewesen ist, was für eine Frau er genommen hat, wieviel Mitgift er dabei erhalten hat, wer sein Vetter und sein entfernterer Vetter ist und so weiter und so weiter, und sonst noch allerlei von dieser Art. Großenteils gehen diese Alleswisser mit durchgestoßenen Ellbogen umher und bekommen siebzehn Rubel Gehalt monatlich. Die Leute, über die sie alle möglichen Einzelheiten wissen, würden natürlich nicht sagen können, warum jene an ihnen ein derartiges Interesse haben, und dabei finden viele dieser Alleswisser an diesem Wissen, das einer ganzen Wissenschaft gleichkommt, ein ausgesprochenes Vergnügen und gelangen dadurch zu Selbstachtung und sogar zu einem sehr hohen Grad seelischer Zufriedenheit. Und es ist auch eine verführerische Wissenschaft. Ich habe Gelehrte, Literaten, Dichter und Staatsmänner gekannt, die in dieser Wissenschaft ihre größte Befriedigung, ihr höchstes Ziel fanden und sogar ausgesprochen nur hierdurch Karriere machten. Im weiteren Verlauf dieses Gesprächs gähnte der schwarzhaarige junge Mensch, blickte ziellos durchs Fenster und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Reise. Er war etwas zerstreut, sogar sehr zerstreut, beinah aufgeregt; ja er benahm sich einigermaßen sonderbar: manchmal hörte er zu, ohne recht zuzuhören, sah, ohne recht zu sehen, und lachte, ohne im nächsten Augenblick zu wissen und sich zu erinnern, worüber er eigentlich gelacht hatte. »Aber gestatten Sie die Frage: mit wem habe ich die Ehre?« wandte sich auf einmal der Herr mit dem Gesicht voller Pickel an den blonden jungen Mann mit dem Bündelchen. »Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin«, antwortete dieser, ohne zu zögern, mit größter Bereitwilligkeit. »Fürst...