E-Book, Deutsch, Band 72
Reihe: ApeBook Classics
Dostojewski Arme Leute
Neuausgabe des ungekürzten Textes in der ursprünglichen Übersetzung 2020
ISBN: 978-3-96130-196-6
Verlag: apebook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 72
Reihe: ApeBook Classics
ISBN: 978-3-96130-196-6
Verlag: apebook Verlag
Format: EPUB
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Makar Dewuschkin liebt die hübsche, junge Warwara Dobrosiolowa. Sie leben im selben Armenviertel in St. Petersburg. Sie treffen sich kaum, doch schreiben sich gegenseitig Briefe. Ein Jahr lang hält das an, und Makar Dewuschkin versucht, die zurückhaltende junge Frau für sich zu gewinnen. Doch diese sieht einen möglichen Ausweg aus ihrer Armut in der Heirat eines reichen Gutsbesitzers. Ein letztes Mal noch schreibt Makar ihr einen Brief, in dem Versuch, sie umzustimmen. 'Arme Leute' ist Dostojewskis erster Roman. Nach seinem Erscheinen 1846 wurde der junge Autor mit einem Schlag berühmt.
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II Anfangs, solange wir, das heißt meine Mutter und ich, uns in unserer neuen Wohnung noch nicht eingelebt hatten, fühlten wir uns beide etwas ängstlich und fremd bei Anna Fjodorowna. Diese wohnte in einem eigenen Hause in der sechsten Linie. Das ganze Haus enthielt nur fünf ordentliche Zimmer. In dreien davon wohnte Anna Fjodorowna mit meiner Kusine Sascha, einer vater- und mutterlosen Waise, die bei ihr aufwuchs. Dann wohnten in einem andern Zimmer wir, und endlich das fünfte, neben dem unsrigen gelegene Zimmer hatte ein armer Student namens Pokrowski inne, der es von Anna Fjodorowna gemietet hatte. Diese lebte sehr gut, üppiger, als man von vornherein hätte erwarten können; aber ihre Einnahmen waren rätselhaft, ebenso wie ihre Beschäftigung. Sie hatte immer viel zu tun und war immer stark in Anspruch genommen; mehrere Male täglich fuhr und ging sie aus; aber was sie eigentlich tat, und worin ihre Geschäfte bestanden, das konnte ich absolut nicht erraten. Sie hatte eine ausgedehnte, buntscheckige Bekanntschaft. Fortwährend bekam sie Besuch von Gott weiß was für Leuten, immer in Geschäften und nur auf einen Augenblick. Meine Mutter führte mich immer in unser Zimmer, sobald die Türklingel ertönte. Anna Fjodorowna war deswegen auf meine Mutter sehr böse und sagte fortwährend, wir seien gar zu stolz, stolzer, als es sich für uns schicke; ja, und wenn wir noch einen Grund hätten stolz zu sein. Ganze Stunden lang konnte sie solche Reden führen. Ich verstand damals diese Vorwürfe des Stolzes nicht, ebenso wie ich auch jetzt erst verstanden habe oder wenigstens ahne, warum meiner Mutter der Entschluß, bei Anna Fjodorowna zu wohnen, so schwer geworden war. Anna Fjodorowna war ein böses Weib; sie peinigte uns unaufhörlich. Warum sie uns eigentlich zu sich eingeladen hatte, das ist mir bis auf den heutigen Tag ein Geheimnis. Anfänglich war sie gegen uns ziemlich freundlich; aber dann zeigte sie in vollem Umfange ihren wirklichen Charakter, da sie sah, daß wir vollständig hilflos waren und nirgends anderswohin gehen konnten. In der Folgezeit wurde sie gegen mich sehr freundlich und verstieg sich sogar zu plumpen Schmeicheleien; aber in der ersten Zeit hatte ich ebenso wie meine Mutter viel zu leiden. Alle Augenblicke machte sie uns Vorwürfe; sie redete immer nur von ihren Wohltaten. Fremden Leuten stellte sie uns als ihre armen, hilflosen Verwandten vor, eine Witwe und Waise, denen sie aus Barmherzigkeit und christlicher Liebe ein Obdach gewähre. Bei Tische verfolgte sie jeden Bissen, den wir aßen, mit den Augen, und wenn wir nicht aßen, so war es auch wieder nicht recht, und sie erging sich in häßlichen Redensarten: wir seien mäklerisch; wir möchten vorliebnehmen; was sie habe, gebe sie gern; ob wir denn selbst Besseres hätten. Auf meinen Vater schimpfte sie fortwährend; sie sagte, er habe etwas Besseres sein wollen als andere Leute, aber es sei ihm arg mißlungen; er habe seine Frau und seine Tochter an den Bettelstab gebracht, und wenn sich nicht eine wohltätige Verwandte, eine mitleidige christliche Seele gefunden hätte, dann müßten die beiden vielleicht auf der Straße Hungers sterben. Was redete sie nicht alles zusammen! Ihr zuzuhören war noch widerwärtiger als kränkend. Meine Mutter weinte alle Augenblicke; mit ihrer Gesundheit wurde es von einem Tage zum andern schlechter; sie schwand sichtbar dahin; aber dabei arbeiteten wir beide vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, indem wir auf Bestellung stickten. Allerdings mißfiel dies Anna Fjodorowna sehr; sie sagte fortwährend, sie habe kein Modegeschäft in ihrem Hause. Aber wir mußten uns doch kleiden; wir mußten doch für unvorhergesehene Ausgaben etwas zurücklegen; wir mußten unbedingt ein bißchen eigenes Geld besitzen. Wir sparten für alle Fälle, in der Hoffnung, es werde uns mit der Zeit möglich sein, anderswohin zu ziehen. Aber meine Mutter ruinierte durch die Arbeit den letzten Rest ihrer Gesundheit: sie wurde mit jedem Tage schwächer. Die Krankheit nagte offenbar wie ein Wurm an ihrem Leben und brachte sie dem Grabe näher. Ich sah alles, fühlte alles und litt darunter; alles das vollzog sich vor meinen Augen! Ein Tag verging nach dem andern, und jeder war dem vorhergehenden ähnlich. Wir lebten so still, als ob wir gar nicht in einer Stadt wären. Anna Fjodorowna beruhigte sich allmählich, in dem Maße wie sie sich selbst ihrer unumschränkten Gewalt über uns bewußt wurde. Übrigens fiel es niemals einem von uns ein, ihr zu widersprechen. In unserem Zimmer waren wir von dem ihrigen durch den Flur getrennt; neben uns wohnte, wie schon erwähnt, Pokrowski. Er unterrichtete Sascha im Französischen und Deutschen, in der Geschichte und Geographie, »in allen Wissenschaften«, wie Anna Fjodorowna sagte, und erhielt dafür von ihr Wohnung und Beköstigung. Sascha besaß eine sehr gute Auffassungsgabe, war aber mutwillig und unartig; sie war damals ungefähr dreizehn Jahre alt. Anna Fjodorowna sprach sich meiner Mutter gegenüber dahin aus, es würde ganz gut sein, wenn ich an dem Unterricht teilnähme, da ich in der Pension den Kursus nicht beendet hätte. Meine Mutter stimmte ihr freudig zu, und ich wurde ein ganzes Jahr lang von Pokrowski mit Sascha zusammen unterrichtet. Pokrowski war ein armer, sehr armer junger Mensch; seine Gesundheit erlaubte ihm nicht, regelrecht zu studieren, und er wurde bei uns nur so gewohnheitsmäßig Student genannt. Er lebte bescheiden, still und friedlich, so daß er von unserem Zimmer aus kaum je zu hören war. Sein Äußeres war recht sonderbar: er ging so ungeschickt, verbeugte sich so ungeschickt und redete so wunderlich, daß ich ihn am Anfang nicht ansehen konnte ohne zu lachen. Sascha spielte ihm fortwährend Possen, besonders wenn er uns Stunde gab. Er aber war obendrein auch noch reizbar, ärgerte sich unaufhörlich, kam von jeder Kleinigkeit außer sich, schrie uns an, beklagte sich über uns und ging oft, ohne die Stunde zu Ende zu geben, zornig weg nach seinem Zimmer. Dort aber saß er oft tagelang bei den Büchern. Er besaß viele Bücher, und zwar lauter teure, seltene. Er gab noch an einigen anderen Stellen Unterricht und erhielt dafür ein mäßiges Honorar; sowie er aber etwas Geld hatte, ging er sogleich hin und kaufte sich Bücher. Mit der Zeit lernte ich ihn besser und näher kennen. Er war der gutherzigste, achtungswerteste, beste Mensch von allen, die ich bis dahin kennengelernt hatte. Meine Mutter schätzte ihn sehr hoch. Später wurde er mein bester Freund, selbstverständlich nach meiner Mutter. Anfangs nahm ich, obwohl ich schon ein so großes Mädchen war, an Saschas Streichen teil, und wir zerbrachen uns manchmal stundenlang die Köpfe darüber, wie wir ihn reizen und dahin bringen könnten, die Geduld zu verlieren. Er machte einen furchtbar komischen Eindruck, wenn er sich ärgerte, und wir amüsierten uns darüber gewaltig. (Ich schäme mich noch bei der Erinnerung daran.) Einmal hatten wir ihn durch irgendwelche Unart bis zu Tränen gereizt, und ich hörte deutlich, wie er vor sich hin flüsterte: »Diese bösen Kinder!« Ich wurde sofort ganz betroffen; ich schämte mich und empfand Schmerz, und er tat mir leid. Ich erinnere mich, daß ich bis über die Ohren rot wurde und ihn beinah mit Tränen in den Augen bat, sich zu beruhigen und sich nicht durch unsere dummen Streiche beleidigt zu fühlen; aber er klappte das Buch zu, gab die Stunde nicht bis zu Ende und ging auf sein Zimmer. Den ganzen Tag quälte mich die Reue. Der Gedanke, daß wir Kinder ihn durch unsere Grausamkeit zum Weinen gebracht hatten, war mir unerträglich. Also darauf hatten wir es angelegt gehabt, daß er weinen sollte! Also das hatten wir gewollt; also es war uns gelungen, ihn dahin zu bringen, daß er den letzten Rest von Geduld verlor; also wir hatten den armen, unglücklichen Menschen mit Gewalt gezwungen, sich seines traurigen Schicksals von neuem bewußt zu werden! Ich konnte vor Ärger, vor Betrübnis und vor Reue die ganze Nacht nicht schlafen. Man sagt, die Reue erleichtere das Herz – das Gegenteil ist richtig. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß sich in meinen Kummer auch ein gewisses Ehrgefühl mischte. Ich wollte, daß er mich nicht für ein Kind halten möchte. Ich war damals schon fünfzehn Jahre alt. Von diesem Tage an mühte ich meine Denkkraft damit ab, tausend Pläne zu entwerfen, wie ich wohl Pokrowski dazu veranlassen könnte, seine Meinung über mich zu ändern. Aber ich war oft schüchtern und zaghaft; in der Wirklichkeit konnte ich mich zu keinem energischen Schritte entschließen und beschränkte mich lediglich auf Träumereien (und was waren das für wunderliche Träumereien!). Ich hörte nur auf, mit Sascha mutwillige Streiche zu verüben, und er hörte auf, sich über uns zu ärgern. Aber für mein Ehrgefühl war das zu wenig. Jetzt will ich ein paar Worte über den seltsamsten, merkwürdigsten, bemitleidenswertesten Menschen sagen, der mir jemals im Leben begegnet ist. Ich rede jetzt, gerade an dieser Stelle meiner Aufzeichnungen, von ihm, weil ich ihn bis zu dieser Epoche fast gar nicht beachtet hatte, jetzt aber alles, was Pokrowski betraf, mir auf einmal interessant wurde. Bei uns im Hause erschien manchmal ein schlecht und unsauber gekleideter, kleiner, grauhaariger, unbeholfener, ungeschickter alter Mann, kurz, ein unglaublich sonderbares Individuum. Beim ersten Blick auf ihn konnte man glauben, daß er sich über irgend etwas schäme, sich seiner selbst schäme. Infolgedessen krümmte er sich ganz zusammen und schnitt eigentümliche Gesichter; seine Manieren und Gebärden waren von der Art, daß man beinah glauben konnte, er habe nicht seinen Verstand. Wenn er zu uns kam, stellte er sich gewöhnlich auf dem Flur vor die Glastür und wagte nicht,...