E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Dorn Am seidenen Faden
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7693-3440-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-7693-3440-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zuerst die Diagnose Demenz und dann noch zufälliger Zeuge eines Mordes, an den er sich nur bruchstückhaft erinnert. Keine Polizei der Welt wird ihm glauben. Hectors Leben ändert sich schlagartig! Das Verbrechen kann er nur selbst aufklären. Hilfe erhält er von seiner neuen Nachbarin, einer pensionierten Grundschullehrerin. Ohne es zu ahnen, kommen die beiden dabei einem gefährlichen Drogensyndikat in die Quere. Das Schicksal beginnt, einen seidenen Faden zu spinnen!
Im Frühsommer 1958 geboren und groß geworden in den 60ern und 70ern. Ideale Voraussetzungen für einen modernen Autor. Konservative Werte noch gelernt und verstanden, aber auch schon moderne Zeiten erlebt und genossen. Als Autor möchte ich die Leser in meine Geschichten einsaugen und sie für einige Zeit die Welt um sie vergessen lassen. "So fühlt sich Freiheit an".
Autoren/Hrsg.
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1. Kapitel
Hector knabberte gedankenversunken an dem Fingernagel seines kleinen Fingers der rechten Hand. Stille, gepaart mit einer ungewohnten Situation, veranlasste ihn oft zu diesem Reflex. So auch heute. Im Wartezimmer von Dr. Reinhard war er mittlerweile der vorletzte Patient. Es war bereits der zweite Termin bei dem Neurologen innerhalb weniger Tage. Beim ersten Arztbesuch wurden einige Tests mit ihm durchgeführt und er musste ein Formular mit Fragen beantworten. Heute nun erwartete er eine erste Diagnose. Bereits seit einer halben Stunde saß Hector in dem stillen und fensterlosen Raum auf dem unbequemen Stuhl, neben ihm das Regal, in dem die älteren und leicht abgegriffenen Magazine darauf warteten, von den Besuchern der Arztpraxis, wenn nicht gelesen, so doch zumindest durchgeblättert zu werden. Über der Eingangstür des Wartezimmers hing eine große runde Uhr, die ein wenig an eine Bahnhofsuhr erinnerte. Der Sekundenzeiger zog gleichmäßig seine lautlose Bahn, verharrte kurz auf der zwölf, und sobald der Minutenzeiger eine Minute weitergerückt war, fing sein Spiel wieder von vorn an. Hector beobachtete die monotone Arbeit des Sekundenzeigers eine Weile und wieder wurde ihm bewusst, wie kurz doch das Leben sein konnte. Insbesondere, wenn man das Leben so sehr liebte wie er. Was würde er nicht alles dafür geben, nicht hier ausharren und mit Mitte fünfzig auf eine Unheil bringende Diagnose warten zu müssen! Viel lieber würde er jetzt an seinem Arbeitsplatz sein und einen seiner vielen offenen Versicherungsfälle bearbeiten oder mit seiner geliebten Charlotte beim Spanier sitzen und mit Jamón Iberico, frischem Brot, Oliven und einem Glas Rioja die Zeit genießen. „Herr Rolf Martens, bitte ins Behandlungszimmer 2“, tönte es mit einer verzerrten und kratzigen Frauenstimme aus dem kleinen Lautsprecher neben der großen runden Uhr. Daraufhin erhob sich der angesprochene Patient langsam von seinem Stuhl, fuhr sich nervös durch sein braunes schütteres Haar und verließ das Wartezimmer mit bedächtigen Schritten, ohne Hector eines Blickes zu würdigen. Der plötzliche Aufruf des Lautsprechers holte Hector unvermittelt ins Hier und Jetzt zurück. Einen Wimpernschlag später erschrak er, denn er konnte sich gar nicht an Herrn Martens erinnern. Hatte er ihm wirklich ununterbrochen gegenüber gesessen? Hatte er ihn nur nicht bemerkt, weil er so still oder er, Hector, so in sich versunken gewesen war? Oder blitzten bereits erste Auswirkungen seiner Krankheit auf? Hector wischte seine Bedenken schnell beiseite und schaute wieder auf die große runde Uhr, die ihn, je länger er darauf starrte und dem nicht müde werdenden Sekundenzeiger folgte, förmlich hypnotisierte und ihn die Gegenwart um sich herum vergessen ließ. War nicht die Vergangenheit die bessere Gegenwart? *** Zwei Wochen vorher in Hectors Büro. „Hecki, du sollst zum Chef.“ Hector sah leicht irritiert von seinem Leitz-Ordner auf, nahm noch hastig einen Schluck von seinem mittlerweile kalt gewordenen Kaffee und folgte Angie, der Sekretärin von Robert Mühlhausen, seinem Chef, schnell, während er gleichzeitig sein leicht gemustertes blaues Sakko überzog. Was mochte der Chef zu so später Stunde noch von ihm wollen, fragte er sich unwillkürlich. Kurz vor dem Büro ihres Chefs bog Angie auf ihren rechts neben der Eingangstür gelegenen Schreibtisch ab und forderte Hector mit einer kleinen Geste auf, sogleich Mühlhausens Büro zu betreten. Es war ungewöhnlich, dass sie ihn wortlos eintreten ließ. Normalerweise versuchte sie immer, ihre Kollegen in ein Gespräch zu verwickeln, egal wie die Gemütslage auch sein mochte. Spiegelte sich nicht heute Mitleid in ihren Augen wider? „Hallo, Herr Ostleben, kommen Sie rein. Wir haben uns ja heute noch gar nicht gesehen. Was macht der Fall Dr. Reich? So setzen Sie sich doch bitte.“ Wie üblich verband Hectors Chef fast jedes Treffen mit seinen Mitarbeitern immer mit der Frage nach dem gerade vom Angesprochenen behandelten wichtigsten Fall. Hector kam es so vor, als wollte er damit seine dienstliche Aufmerksamkeit dokumentieren und dem Untergebenen spüren lassen, dass er genau wusste, mit was für einem Fall der sich gerade beschäftigte. „Die Polizei hat den Einbruch bei Dr. Gregor Reich heute so weit abgeschlossen. Sofern es in den nächsten drei Monaten keine neuen Erkenntnisse über die Einbrecher oder das Diebesgut gibt, müssen wir regulieren“, antwortete Hector, noch bevor er sich setzte. „Das hört sich nicht gut an. Und da kommen wir nicht raus?“ Nach einer kurzen Gedankenpause antwortete Hector: „Nein, keine Chance, zumal Dr. Reich Jurist ist und er sich sicherlich mit den Gegebenheiten auskennt.“ Wieder füllte eine Gesprächspause das Büro für einige Sekunden aus. „Nun ja, schieben wir den Fall Dr. Reich einmal beiseite. Vor fast fünfundzwanzig Jahren habe ich meine Versicherungsagentur eröffnet und sie waren mein erster Angestellter. Sie haben sich von den anderen Agenturen nie abwerben lassen und auch heute sind Sie mein bester Mitarbeiter.“ Hector kannte seinen Chef und spürte förmlich, wie schwer ihm jetzt die Unterhaltung fiel. Was wollte er ihm nur sagen? „Also, es fällt mittlerweile auch den Kollegen auf, dass Sie zerstreut sind, Termine vergessen und zuweilen erst spät im Büro erscheinen, obwohl Sie keinen Arzttermin oder Behördengang angemeldet haben. Ich selbst musste Sie vorgestern bei einem Kunden in Bad Homburg vertreten. Was ist los, Herr Ostleben? Muss ich mir Sorgen machen?“ Die beiden Männer schauten sich für einige Sekunden schweigend in die Augen. Hector biss sich auf die Unterlippe und fuhr sich mit seiner Hand über das Kinn. Er wusste doch selbst nicht, was mit ihm los war. Und ja, in letzter Zeit war er manchmal schusselig und vergaß gelegentlich etwas. Aber deswegen solch einen Aufstand zu machen, verstand er nicht. Er wollte gerade mit einer Art abwiegelnder Entschuldigung für sein Verhalten starten, da nahm sein Chef den Gesprächsfaden wieder auf. „Ich glaube, die letzten Wochen haben alle Beteiligten doch sehr strapaziert. Vielleicht brauchen Sie einmal eine Auszeit, um sich zu erholen, und eine Gelegenheit, um zum Arzt zu gehen. Ganz jung sind Sie ja nicht mehr. Was halten Sie von einem einmonatigen Sabbatical?“ Hector war normalerweise nicht auf den Mund gefallen, doch missfiel ihm die ganze Stimmung in den letzten Sekunden. Träumte er oder versuchte Mühlhausen ihn gerade auf elegante Weise zu entsorgen, kam es ihm in den Sinn. Auf der anderen Seite hatte sein Chef nicht ganz unrecht. Seine Stimmungsschwankungen und seine Vergesslichkeit waren auch Charlotte, seiner Frau, schon aufgefallen. Litt er, wie sie es schon einmal meinte, an einer Art beginnender Demenz? Robert Mühlhausen wartete auf eine Antwort. Wenn er jetzt seinen Chef vor den Kopf stieße und alles leugnete, was in letzter Zeit vorgefallen war, würde er unglaubwürdig und stur wirken. Nein, Hector wusste, Mühlhausen etwas abzuschlagen, wäre keine gute Idee und würde die Situation nur noch mehr verhärten. „Okay.“ Hector hatte keine Chance, es war besser, wenn er zustimmte. „Ich nehme ihr Angebot gern an und pausiere für vier Wochen. Danach kehre ich aber wieder an meinen Arbeitsplatz zurück. Sie wissen, wie wichtig mir meine Arbeit und meine Fälle sind.“ Das Gesicht von Hectors Chef entspannte sich in Bruchteilen einer Sekunde. Vermutlich hatte er insgeheim mit mehr Gegenwehr gerechnet. Aber Hector hatte es ihm leicht gemacht. „Das freut mich aber sehr, insbesondere für Sie“, kommentierte der Chef der Versicherungsagentur die Entscheidung seines Mitarbeiters. Kurz darauf klopfte die Sekretärin an die Tür, steckte den Kopf herein und erinnerte Herrn Mühlhausen an einen anstehenden Termin. „Na ja, das Wichtigste haben wir besprochen. Reichen Sie Urlaub für vier Wochen ein. Ihre wichtigen Fälle übertragen Sie bitte an Frau Kehrlich. Die Akte Dr. Reich aber legen Sie mir bitte heute noch auf meinen Schreibtisch. Da kümmere ich mich selbst drum. Und falls wir uns heute nicht mehr wiedersehen, wünsche ich Ihnen eine gute Auszeit und kommen Sie gesund wieder.“ Mit den letzten Sätzen reichte er Hector entschlossen die Hand, während sein Gesicht ein aufmunterndes Lächeln probierte, was ihm allerdings nur ungenügend gelang. Nachdem Hector der jungen Kollegin Kehrlich seine laufenden Fälle übertragen, Angie den Urlaubsantrag online geschickt und die Akte Dr. Reich seinem Chef auf den Schreibtisch gelegt hatte, verließ er kommentarlos und nachdenklich die Agentur, die unweit vom Marktplatz in Oberursel gelegen war. Auf dem Trottoir empfing ihn eine eiskalte Novemberböe. Schnell knöpfte er seinen Trenchcoat zu und wickelte sich umständlich mit einer Hand seinen karierten langen Wollschal um den Hals. In der anderen Hand trug er seine alte lederne Aktentasche, die ihm Charlotte zu seinem Start bei der Agentur Mühlhausen geschenkt hatte. Um nicht ganz ohne Arbeit...