Donner / Kothe / Reifenstahl | Geschichten-Bowle | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 193 Seiten

Donner / Kothe / Reifenstahl Geschichten-Bowle

Vorlesegeschichten für Erwachsene
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7554-1717-0
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Vorlesegeschichten für Erwachsene

E-Book, Deutsch, 193 Seiten

ISBN: 978-3-7554-1717-0
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Aus einer Idee entstand eine Sammlung von Geschichten - so geschmackvoll und vielseitig wie eine Bowle. Sortiert nach Vorlesezeit sollen die Beiträge Menschen in besonderen Lebenslagen aus dem Alltag entführen und für ein gutes Gefühl sorgen. Die Protagonisten berühren den Regenbogen, retten einen kleinen Hund, besuchen den Jahrmarkt, erinnern sich an die verflossene Liebe, begegnen einer neuen ... Ob nachdenklich, lustig oder fantasievoll, die Autoren garantieren stets ein optimistisches Ende. Mit ihren 41 Erzählungen wollen sie Freude schenken und wünschen gute Unterhaltung.

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Charakter: gut verständlich – erst mutlos, dann hoffnungsvoll Inhalt: sich selbst finden und annehmen Lesezeit: 10 Minuten Ulrike Krug Stadt der Liebe
Ich bin nach Paris gekommen, um zu studieren. Politik und Geschichte, Freiheit, Gleichheit, Brüderlich – nun ja. Außerdem bin ich hier, um möglichst weit von zu Hause weg zu sein. Zuhause, das ist ein winziges Dorf im Süden, weitab von der nächsten Großstadt. Im Sommer duftet es dort nach Lavendel, der auf riesigen Feldern rundherum wächst. Die Häuser sind aus hellem Sandstein, auf den Straßen findet man noch überall Kopfsteinpflaster. Jeder kennt jeden – und jeder redet über jeden. Besonders gern redet man über mich: älteste Tochter des Pfarrers; gescheit, war auf der höheren Schule. Trägt aber die Haare zu kurz, läuft immer in Hosen herum. Sie interessiert sich nicht für den Haushalt, hat keine Ahnung von guter Küche, sie redet zu laut, sitzt nie anständig. Kommt nicht mit den anderen Mädchen aus der Gemeinde zurecht. Gibt Widerworte. Meine Vermieterin im Quartier Latin ist eine ältere Dame. Ihr gehört ein kleines Zweifamilienhaus nicht weit von der Sorbonne entfernt. »Das hier ist ein anständiges Haus«, sagt sie bei der Schlüsselübergabe. »Keine Partys, keine Drogen. Und nachts ist Ruhe.« »Ist mir ganz recht«, antworte ich. Ruhe will ich auch haben. Die ersten Wochen sind hart. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie in einer so gewaltigen Stadt gewesen. Ja, Paris ist wunderschön und voller Geschichte, eine öffentlich begehbare Schatzkammer, an jeder Ecke ein neues Kunstwerk. Trotzdem fühle ich mich überwältigt. Der Lärm juckt in meinen Ohren. Die Luft ist so voller Abgase, dass ich kaum atmen kann. Wenn ich das Haus verlasse, ziehe ich mir die Kapuze meines Pullovers tief in die Stirn. Die Menschenmengen in der Metro, die endlosen gekachelten Gänge sind nur mit Kopfhörern zu ertragen, Heavy Metal bis zum Anschlag. Nur gegen die Gerüche – Schweiß, Knoblauch, intensive Parfums – habe ich noch kein Gegenmittel gefunden. Die Universität ist ein Labyrinth; sie erinnert mich an ein altrömisches Graffiti, das in meinem alten Latein-Lehrbuch abgedruckt war. Hic habitat Minotaurus hatte ein Witzbold an die übertrieben gewaltige Villa eines Kaufmanns geschrieben. Ich lächle, wäre aber nicht überrascht, wenn in den Kellern unter meinem Institut tatsächlich der Minotaurus hauste. Einige Wochen später liege ich auf meinem Bett. Mit Kopfhörern auf den Ohren bin ich in ein Buch über Napoleons Feldzüge vertieft. Die Worte machen keinen Sinn. Ich blättere, gehe wieder zurück, nur um drei Zeilen weiter festzustellen, dass immer noch kein Wort des Textes in meinem Gehirn angekommen ist. Die Buchstaben beginnen zu verschwimmen. Mir wird kalt, trotz der Decke um meine Schultern. Etwas tropft auf das Papier vor mir. Ich begreife, dass ich weine und verstehe nicht, warum. Ich bin in Paris, der Stadt meiner Träume seit frühester Kindheit, und studiere Geschichte, wie ich es immer wollte. Ich bin weg von … von … von all den Menschen, die ich verabscheue, und die mich verabscheuen. Und trotzdem fühle ich mich elend. Ich will es verdammt noch mal nicht zugeben, aber ja – ich habe Heimweh. Und ich bin einsam. Wütend pfeffere ich das Buch vom Bett, schnappe mir meinen Lieblings-Hoodie, schwarz, mit dem Logo meiner Lieblingsband, schlüpfe in meine Schuhe und gehe hinaus. Die Tür knallt angenehm laut ins Schloss. Draußen fegt nass-kalter Wind zwischen den Häusern hindurch und nimmt die letzten Blätter von den Bäumen mit. Es ist schon dunkel. Die antiken Laternen malen Kegel, in denen Nieselregen tanzt. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf, vergrabe die Hände in den Taschen und stapfe los. Ein Ziel habe ich nicht, nur das Bedürfnis, mich zu bewegen. Die Kälte tut gut, trotzdem gibt mein Kopf keine Ruhe. Dass mich Paris nicht mit Liveband und Feuerwerk begrüßen würde, war mir klar – zumindest meinem rationalen Teil. Aber dass es so hart werden würde? Ich fühle mich verloren, ganz allein in einer kalten und chaotischen und anonymen Millionenstadt. Stadt der Liebe, am A… Irgendwann verliere ich das Gefühl für Zeit und Ort. Ich bin immer noch im Quartier Latin, soviel weiß ich, doch in diesem Abschnitt war ich noch nie. Ich sehe mich um. Trotz Kälte und Nieselregens sind viele junge Leute unterwegs. Es gibt kleine Geschäfte, Bars und Cafés. Als ich um eine Ecke biege, liegt die Seine vor mir, auf der anderen Seite streckt sich der Turm von Notre Dame in den taubengrauen Himmel. Inzwischen spüre ich meine Hände nicht mehr; der Regen ist längst durch den Stoff meines Pullis gezogen. Einige Schritte weiter komme ich an einer Bar vorbei. Die Musik ist nett, wenn auch nicht ganz meine Richtung. Ich will vorbeigehen, mich auf die Suche nach der nächsten Metro-Station machen, um nach Hause zu kommen. Einige Leute stehen auf dem Gehweg, unterhalten sich und lachen. Etwas lässt mich genauer hinsehen, irritiert mich. Alle Gäste sind Frauen. Nicht alle sehen feminin aus, deshalb fällt es nicht sofort auf. Jetzt bemerke ich auch die Regenbogenflagge an der Innenseite der geöffneten Tür. Ich zögere. Die Frauen auf dem Gehweg bemerken mich. Eine von ihnen, groß und sehr kurzhaarig, vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich, grinst mich an. »Kalt heute?« »Mhm.« Mir fällt keine gute Antwort ein. »Drinnen ist es warm. Wir beißen auch nicht. Außer – du weißt schon.« Ich lache über den alten Witz, zögere aber noch. Wenn meine Familie mich jetzt sehen würde … Sollen sie doch, sagt eine Stimme in meinem Hinterkopf. Im nächsten Moment tragen mich meine Füße über die Türschwelle. Drinnen ist es warm. Ich fühle, wie meine Hände zu glühen beginnen. Auch das Licht ist warm. Die Wände sind mit dunklem Holz getäfelt, die Tische, Stühle und Tresen sind aus demselben Holz und sehen auf gemütliche Art alt aus. Meine Schultern entkrampfen sich, als ich, ein bisschen kurzsichtig, auf die mit Kreide geschriebene Getränkekarte über der Bar spähe. Drei Minuten später mache ich mich mit einer Flasche Bier-Limo-Mix auf die Suche nach einem Sitzplatz. Mein Blick bleibt an einer jungen Frau hängen, die ganz außen am Tresen sitzt. Sie sieht auf, unsere Blicke treffen sich. Mir fällt beinahe die Flasche aus der Hand. Sie blinzelt, wirkt ebenso überrascht. »Madeleine?«, fragt sie. »Was zur … Was machst du in Paris?« Sie hüpft von ihrem Barhocker und umarmt mich, kurz, aber fest. Dann hält sie mich auf Armeslänge von sich, die Hände noch auf meinen Schultern, und mustert mich. Sie ist noch so kräftig, wie ich sie in Erinnerung habe, mit starken Armen. Wenn ich mich richtig erinnere, haben ihre Eltern einen Bauernhof. Die dunkelbraunen Haare fallen ihr fransig in die Stirn, die grauen Augen strahlen. »Delfíne«, sage ich. »Schätze, ich könnte dich dasselbe fragen.« Sie lacht, lässt mich los und deutet auf den Barhocker neben ihrem. »Studium?« Ich nicke. »Politik und Geschichte. Und du?« »Soziologie, im dritten Jahr.« Sie prostet mir zu. »Und, wie gefällt dir Paris? Ein ziemlicher Schock, oder?« Delfíne ist zwei Dörfer von mir entfernt aufgewachsen, wir kennen uns aus der Schule. Sie war die coole Große, zu der ich aufgeschaut habe; mir war bis eben nicht einmal klar, dass sie meinen Namen kennt. Nach ihrem Abschluss, zwei Jahre vor meinem, habe ich sie nie wiedergesehen. »Ein riesiger Schock. Es ist …« Mir fehlen die Worte. Und dann beginnen meine Augen zu brennen, ich schaue zur Decke und blinzle hektisch gegen die Tränen an. Vergeblich. Die Gefühle sind zu viel für mich. Meine Fingernägel bohren sich in die Handflächen, während mir die Tränen über das Gesicht laufen. Gleichzeitig fühle ich, wie ich auf meinem Barhocker zusammenschrumpfe. Am liebsten würde ich zwischen den Bodendielen verschwinden. Eine warme Hand legt sich auf meine Schulter, eine Papierserviette taucht auf dem Tresen vor mir auf. Als ich aufschaue, sehe ich ein warmes Lächeln in Delfínes Gesicht. Ich wische mir mit der Serviette über die Augen und schnaufe: »Tut mir leid. Das ist – so peinlich.« Sie lacht. »Kein bisschen. Mir ging es genauso.« Sie erzählt, wie sie vor zwei Jahren hier angekommen ist. Auch sie kannte hier niemanden, das Studentenwohnheim war eine einzige Katastrophe, und obendrein fing sie sich eine Viruserkrankung ein, die sie für fast zwei Monate außer Gefecht setzte. »Es wird besser, Madeleine. Wir sind hier frei, niemand verurteilt uns. Sobald dir das klar wird, kannst du lernen, das Leben hier zu genießen.« Es dauert eine Weile, doch dann wird es besser. Irgendwann ist die Vorweihnachtszeit da, und die Stadt verwandelt sich in ein Meer aus glitzernden Lichtern. Delfíne zeigt mir die Orte, die sie für sich entdeckt hat: Parks, Museen, Paläste, Bars. Die Ereignisse, von denen ich im Studium lerne, werden lebendig, als sie mit mir die Place de la Bastille besichtigt, die Schlösser von Versailles, den Invalidendom. Mit ihr neben mir fühle ich mich mutig. Sie steuert so geschickt durch die Stadt, als wäre sie hier zur Welt gekommen. Es ist egal, wenn niemand grüßt. Und niemand schaut hin, als sie...



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