E-Book, Deutsch, 476 Seiten
Domingo / Amsler / Baer Diskriminiert
2. Auflage 2004
ISBN: 978-3-88414-344-5
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Gespräche mit psychisch kranken Menschen und Angehörigen zur Qualität des Lebens. Darstellung, Auswertung, Konsequenzen
E-Book, Deutsch, 476 Seiten
ISBN: 978-3-88414-344-5
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Diese qualitative Untersuchung dokumentiert das Erleben von schwer und chronisch psychisch kranken Menschen und deren Angehörigen. Die Tiefeninterviews machen deutlich, welch starke Bedeutung der Krankheitserfahrung der und deren sozialen Folgen zukommt und wie wichtig die Qualität der professionellen Beziehungen und insbesondere die therapeutische Haltung ist.
Die Auswertungen führen zu einer grundsätzlichen Hinterfragung des psychiatrisch-rehabilitativen Systems, das Normalität und Autonomie in einer diskriminierenden Umgebung herstellen will und die psychiatrisch-therapeutischen von den rehabilitativen Zugängen trennt.
Deutlich wird, dass Menschen mit schweren psychischen Krankheiten eines verbindet: Das Leiden an Krankheit, Unverständnis und Diskriminierung. Deutlich wird zudem, wie einheitlich die Erfahrungen der Angehörigen sind, die von der Erschütterung durch die Krankheit in typischer Weise mitbetroffen sind.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;Danksagung;12
3;Geleitwort;14
4;1 Einleitung;17
4.1;1.1 Rehabilitation und Lebensqualität;17
4.2;1.2 Das Konzept Lebensqualität: Hinweise aus der Literatur;18
4.3;1.3 Problematische Entwicklungen;22
4.4;1.4 Modelle und Dimensionen von Lebensqualität;27
4.5;1.5 Resultate zur Lebensqualität psychisch kranker Menschen;29
4.6;1.6 Intervenierende psychologische Variabeln;32
4.7;1.7 Zusammenfassung und Konsequenzen für die Untersuchung;35
5;2 Methodisches Vorgehen;39
5.1;2.1 Ziele der Studie;39
5.2;2.2 Umsetzung der Ziele in ein forschungstheoretisches Konstrukt;39
5.3;2.3 Praktisches Vorgehen;40
5.4;2.4 Einige Lesehilfen;47
6;3 Merkmale der Interview-Situation;51
6.1;3.1 Unterschiede der Interviewten;51
6.2;3.2 Die Haltung im Interview;52
6.3;3.3 Gemeinsamkeiten der Interviewten;52
6.4;3.4 Das Erleben der Angehörigen psychisch kranker Menschen;55
7;4 Zwischen Leiden und Stabilität;59
7.1;4.1 Einleitung;59
7.2;4.2 Das Gefühl, alle hören, was ich denke – Schizophrenie;60
7.3;4.3 Angehörige: Die erschwerte Ablösung;68
7.4;4.4 Die Panik, jetzt werde ich ohnmächtig und alle sehen es – Angststörungen;72
7.5;4.5 Das große Ritual dauerte 14 Stunden – Zwangsstörung;77
7.6;4.6 Den Tag durchzuhalten, das ist das Schlimmste – Affektive Störungen;79
7.7;4.7 Ich ging nicht an seine Beerdigung – Gewalttätigkeit und sexueller Missbrauch;83
7.8;4.8 Gekommen, gegangen, abgegeben, wieder gekommen – Persönlichkeitsstörungen;91
7.9;4.9 55,2, 48,3, 47,2, die Zahlen waren entscheidend – Essstörungen;104
7.10;4.10 Miriam und Claudia – Manisch-depressive Störungen;107
7.11;4.11 Angehörige: Die psychische Belastung der Familie;111
7.12;4.12 Zusammenfassung;116
8;5 Zwischen Machtlosigkeit und Kontrollgefühl;119
8.1;5.1 Einleitung;119
8.2;5.2 Ich kann es nicht kontrollieren – Die Erfahrung von Machtlosigkeit;120
8.3;5.3 Das Gefühl, ich hätte einen Kleiderbügel verschluckt – Kontrolle durch Psychopharmaka;125
8.4;5.4 Ich stehe jeden Tag um dieselbe Zeit auf – Weitere Kontrollmöglichkeiten;131
8.5;5.5 Ich bin nicht allein – Hilfe durch religiöse Erfahrung;138
8.6;5.6 Angehörige: Trauer und Bewältigung;140
8.7;5.7 Zusammenfassung;144
9;6 Zwischen Erschütterung und Krankheitsintegration;149
9.1;6.1 Einleitung;149
9.2;6.2 Das andere ist schizophren – Erschütterung;150
9.3;6.3 Es ist schwierig zu erklären – Unverständnis;154
9.4;6.4 Es sind nicht genug Fakten da, um mich zu entlasten – Schuld und Scham;158
9.5;6.5 Angehörige: Die Integrationsaufgabe der Familie;163
9.6;6.6 Das Wort ›akzeptieren‹ kann ich nicht mehr hören – Hilfen zur Krankheitsintegration;169
9.7;6.7 Eine Spannung zwischen Erleben und Wirklichkeit – Die Erfahrung von Inkongruenz;171
9.8;6.8 Und wie reagieren die Leute? – Die Bedeutung der Umwelt;173
9.9;6.9 Zusammenfassung;176
10;7 Zwische Abhängigkeit und Autonomie;179
10.1;7.1 Einleitung;179
10.2;7.2 Es gibt bei allem irgendwie zwei Seiten – Betreuungsbedürftigkeit als Notwendigkeit;180
10.3;7.3 Ich muss die Behörden bitten – Die Abhängigkeit von Systemen der sozialen Sicherheit;184
10.4;7.4 Mein Mann musste viel Kraft aufwenden für mich – Abhängigkeit in der Familie;191
10.5;7.5 Angehörige: Extrembelastungen;195
10.6;7.6 Ich freue mich auf die nächste Stunde – Die psychotherapeutische Beziehung;202
10.7;7.7 Es ist einfach eine Ausbeutung – Autonomie und Abhängigkeit in der Arbeit;203
10.8;7.8 Man wird nicht zu stark betreut – Autonomie und Betreuungsbedürftigkeit beim Wohnen;206
10.9;7.9 Heute könnte ich mich wehren – Autonomie als Resultat einer persönlichen Entwicklung;211
10.10;7.10 Zusammenfassung;216
11;8 Zwischen Stigmatisierung, Diskriminierung und Zugehörigkeit;219
11.1;8.1 Einleitung;219
11.2;8.2 Ich merke, dass ich an Grenzen stoße – Versteckte Stigmatisierung und Diskriminierung;221
11.3;8.3 Angehörige: Schuldzuweisungen an die Eltern;227
11.4;8.4 Eine Frau, die äfft mich immer nach – Offene Stigmatisierung;234
11.5;8.5 Alle haben einen Brief bekommen, nur ich nicht – Diskriminierung und Traumatisierung;241
11.6;8.6 Leitlinien für behinderte Menschen – Diskriminierung durch ›positive‹ Stigmatisierung;247
11.7;8.7 Was meinen Sie, was Sie haben? – Auskunft über Diagnose und Prognose;248
11.8;8.8 Angehörige: Das Angehörigen-Paradox;254
11.9;8.9 Wo nicht gefragt wird: Warum hast du eine Rente? – Der Wunsch nach Zugehörigkeit;260
11.10;8.10 Zusammenfassung;267
12;9 Zwischen Nutzlosigkeit und Gebrauchtwerden;271
12.1;9.1 Einleitung;271
12.2;9.2 Ich bin eine Last für die Gesellschaft – Die Erfahrung, nutzlos und unwichtig zu sein;272
12.3;9.3 Das war ein wunderschöner Tag – die Erfahrung, für jemanden nützlich zu sein;277
12.4;9.4 Zusammenfassung;282
13;10 Zwischen Versagen und Kompetenz;285
13.1;10.1 Einleitung;285
13.2;10.2 Wenn ich das Gefühl hätte, dass ich etwas kann – Biografie des Inkompetenzerlebens;287
13.3;10.3 Das Denken geht langsamer – Die Erfahrung, nicht kompetent zu sein;295
13.4;10.4 Dann habe ich ein Hochgefühl – Das Gefühl, kompetent zu sein;298
13.5;10.5 Ich träume davon, dass ich arbeite – Der Wunsch, zu arbeiten und die Angst davor;303
13.6;10.6 Zusammenfassung;312
14;11 Zwischen Alleinsein und Beziehung;317
14.1;11.1 Einleitung;317
14.2;11.2 Nach der ersten Krise waren sie weg – Die Schwierigkeit, psychische Not auszuhalten;318
14.3;11.3 Jede Wohnform hat zwei Seiten – Beziehungswunsch und Ruhebedürfnis;324
14.4;11.4 Angehörige: Der Kampf gegen die Depression;326
14.5;11.5 Ich bin ein Einzelgänger – Die Schwierigkeit, überhaupt Kontakt herzustellen;329
14.6;11.6 Dann helfen wir uns gegenseitg – Hilfreiche Freundschaften;335
14.7;11.7 Als es mir besser ging, fingen die Probleme an – Schwierigen Beziehungen;340
14.8;11.8 Zusammenfassung;348
15;12 Zwischen Resignation, Perspektive und Sinnhaftigkeit;351
15.1;12.1 Einleitung;351
15.2;12.2 Ich habe gar kein Ziel – Die Leistung, ohne reale Perspektive zu leben;352
15.3;12.3 Nirgends steht, dass sich das nicht ändern kann – Da Bemühen um Perspektive;357
15.4;12.4 Angehörige: Verarbeitung und erlebte Sinnhaftigkeit;366
15.5;12.5 Zusammenfassung;370
16;13 Das Erleben professioneller Hilfe;375
16.1;13.1 Einleitung;375
16.2;13.2 Er glaubte mir nicht – Verhindernde Erfahrungen durch professionelle Hilfe;378
16.3;13.3 Die waren alle sehr nett – Unterstützende Erfahrungen durch professionelle Hilfe;395
16.4;13.4 Angehörige: Das Bedürfnis, ernst genommen zu werden;408
16.5;13.5 Zusammenfassung;413
17;14 Zusammenfassung der Ergebnisse;419
17.1;14.1 Die Dynamik des Erlebens;419
17.2;14.2 Die Bedeutung der Krankheit;422
17.3;14.3 Krankheit und Gesundheit;425
17.4;14.4 Die Bedeutung der Umwelt;427
17.5;14.5 Die Bedeutung professioneller Beziehungen;428
17.6;14.6 Die Angehörigen;431
18;15 Hauptresultate und praktische Konsequenzen;437
18.1;15.1 Hinweise für die Lebensqualitätsforschung;437
18.2;15.2 Hinweise für die Gesundheitspolitik;443
18.3;15.3 Hinweise für die psychiatrische Versorgung insgesamt;445
18.4;15.4 Hinweise für die psychiatrischen und rehabilitativen Institutionen;450
18.5;15.5 Hinweise für die Behandlung, Betreuung und Förderung;455
19;16 Lebensqualität und Rehabilitaion psychisch kranker Menschen: Ein Modell;461
20;Literatur;466
21;Weitere Literaturhinweise;472
22;Autoren;476
10 Zwischen Versagen und Kompetenz (S. 284-285)
10.1 Einleitung
In den Gesprächen tauchte schon zu Beginn ein Thema auf, das sich dann in vielen weiteren Interviews zeigte: Das Bedürfnis, sich selbst kompetent zu fühlen. Wiederum handelt es sich offensichtlich nicht um ein Bedürfnis, welches nur psychisch kranken Menschen eigen ist. Der Wunsch nach Kompetenzerleben erhält aber aufgrund der Lebenssituation der meisten unserer Gesprächspartner/ -innen einen etwas bitteren Geschmack: Dieser Wunsch ist sehr direkt an Ausbildung, Arbeit und Beruf gekoppelt.
Kompetenz- und Versagensgefühle werden fast ausschließlich berichtet im Zusammenhang mit Erlebnissen in Schule, Lehre, Studium, Beruf und – in etwas geringerem Ausmaß – am geschütztem Arbeitsplatz. Fast alle Interviewpartner/- innen sind aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und beziehen eine Rente der Invalidenversicherung. Ihre Krankheit hat dazu geführt, dass sie einem oder mehreren Ansprüchen des Erwerbslebens nicht genügen.
Wo die Krankheit früh ausgebrochen ist, hat sie bei einigen den Lehrabschluss oder die Matura verhindert, wo sie später ausgebrochen ist, hat sie früher oder später zum Verlust der Arbeitsstelle geführt. Keine einzige Person, mit der wir gesprochen haben, arbeitet mehr als nur stundenweise im normalen Arbeitsmarkt. Diese Tatsache wird als von fast allen als persönliches Ungenügen wahrgenommen. Der Leistungsaspekt unserer Gesellschaft wird von psychisch Kranken sehr deutlich erlebt, und zwar in der Hinsicht, dass sie diese Leistungen selbst auch gerne erbringen würden.
In den Gesprächen hat sich klar gezeigt, dass die berufliche Desintegration nicht nur ein persönliches Drama im Einzelfall ist, sondern dass sie für psychisch Kranke speziell destruktiv ist: Berufliche Ausgliederung schädigt das Selbstvertrauen zusätzlich, das schon durch die Krankheit selbst erschüttert worden ist. Arbeit und Berufstätigkeit können zu Kompetenzerlebnissen verhelfen, die kompensierend auf das meist schlechte Selbstbild einwirken.
Da unsere Interviewpartner/ -innen mehrheitlich alleine leben und wenig soziale Kontakte haben und so Beziehungen kaum als Quelle von Selbstvertrauen erlebt werden, bliebe ihnen eigentlich nur die Arbeit oder Ausbildung. Mit zunehmender Dauer der beruflichen Ausgliederung und der Krankheit wird der zweite, geschützte Arbeitsmarkt zur einzigen und wichtigen Alternative. Bei den noch jüngeren Interviewpartner/-innen ist dagegen noch die Hoffnung spürbar, mithilfe einer Ausbildung, Umschulung oder eines Eingliederungsprogramms den Einstieg ins Erwerbsleben zu schaffen.