Domainko / Heyl / Kessler | Canceln | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Domainko / Heyl / Kessler Canceln

Ein notwendiger Streit
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-446-27825-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein notwendiger Streit

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-446-27825-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Muss Pippi Langstrumpf sterben? Welche Bedeutung hat die 'Cancel-Culture' für die Literatur?


Kein vernünftiger Mensch will Literatur verbieten – oder etwa doch? Die Diskussionen werden hitziger. Wie gehen wir mit rassistischen Stereotypen in literarischen Klassikern um? Wollen wir ein Buch noch weiterlesen, wenn gegen dessen Autor:in schwere moralische Vorwürfe erhoben werden? Droht tatsächlich eine neue Zensur, wie manche befürchten? Für die einen ist das „Canceln“ ein notwendiger Schritt im Kampf gegen Diskriminierung, für die anderen ein Schreckgespenst, das die Freiheit der Kunst bedroht. Klar ist: Die Debatte berührt nicht nur einen Kern der Literatur, sondern auch unseres Zusammenlebens. Sie ist ein notwendiger Streit – dem die Autor:innen dieses Bands klug, pointiert und aus verschiedenen Perspektiven auf den Grund gehen.


Mit Beiträgen von Asal Dardan, Adrian Daub, Hanna Engelmeier, Jürgen Kaube, Konrad Paul Liessmann, Ijoma Mangold, Lothar Müller, Mithu Sanyal, Marie Schmidt, Johannes Schneider, Anna-Lena Scholz und Daniela Strigl.

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An ihren Worten sollt ihr sie erkennen!
Ijoma Mangold Für mich ist der Kulturkampf um die Cancel Culture gegessen, seit es der Begriff Cancel Culture ins öffentliche Bewusstsein geschafft hat. Und seit der Ausdruck »woke« nicht mehr eigens erklärt werden muss, um ein bestimmtes akademisch-kulturelles Milieu zu kennzeichnen, ist mein inneres Feuer, gegen das woke Meinungsklima anzuschreiben, fast schon erloschen. Wenn man sich in der Diskurslandschaft umschaut, wird man beobachten können, dass sich Vertreter des woken Lagers auf Twitter mittlerweile bitterlich beklagen über den inflationären Gebrauch des Schlagworts »woke«. Ich kann es ihnen nachempfinden. Zu lange hatten sie sehr gut davon gelebt, dass ihre Meinungen und ihre Empörungsbereitschaft als ganz natürliche Haltung und Reaktion moralisch sensibler Seelen gewertet wurden. Schlagworte gab es in Fülle, aber nur für die Ewiggestrigen, die weißen alten Männer, die Sexisten, Rassisten und TERFs auf der anderen Seite, der der Finsternis. Seit nun aber auch die Woken, die Social Justice Warriors, einen Namen haben, ist ihre Macht gebrochen. Es ist ganz wie im Märchen der Brüder Grimm: »Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!« Solange etwas keinen Namen hat, kann man es nicht adressieren. Jetzt hat sich Rumpelstilzchens Name indes herumgesprochen, und mit dem Safe Space der Namenlosigkeit ist es vorbei. Das Gleiche gilt für den Sachverhalt der Cancel Culture: Solange es keinen Namen dafür gab, wenn man verhinderte, dass Menschen, deren Meinungen man nicht billigte, eine Bühne bekamen, war es extrem einfach, Deplatforming zu betreiben, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Die Öffentlichkeit hatte einige Jahre in Schreckstarre verharrt, bis sie den sehr anschaulichen Begriff der Cancel Culture für diese Vorgänge gefunden hatte — seither ist der Bann dahin, und es cancelt sich wesentlich schwerer. Man sieht das unmittelbar an den Reaktionen derer, die dieses einst namenlose Geschäft lange erfolgreich betrieben hatten. Auf die neue Situation reagieren sie mit dem trotzigen Satz, es gebe gar keine Cancel Culture, diese sei nur ein Phantom, von rechten Konterrevolutionären in die Welt gesetzt. Solange nicht jemand mit Polizeigewalt von der Bühne weg abgeführt werde, könne nicht von Cancel Culture, sondern nur von einer ganz normalen zivilgesellschaftlichen Gegenreaktion auf menschenverachtende Haltungen die Rede sein. Die selbst ernannten Opfer der nicht existenten Cancel Culture verwechselten, so heißt es, Meinungsfreiheit mit dem Recht, sich keine Kritik anhören zu müssen. Je öfter sich indes die Anlässe häufen, die das woke Lager nötigen zu erklären, dass es Cancel Culture gar nicht gebe, desto offensichtlicher wird der performative Widerspruch. Die Rückzugsposition lautet seither: Die Opfer der angeblichen Cancel Culture sollten nicht so jammern, sie bekämen in Wahrheit ja sogar besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit, sie würden nicht gecancelt, sondern exponiert, weshalb sich der Verdacht aufdränge, dass es die Akteure in Wahrheit gerade auf die aufmerksamkeitsökonomisch vorteilhaften Effekte der Cancel Culture (die es im Übrigen nicht gebe) abgesehen hätten. Halten wir fest: Cancel Culture meint nicht staatliche Zensur. Es geht nicht um Zensur von oben, sondern um Zensur von unten. Nicht um hierarchische, sondern um dezentrale Macht. Nicht der Obrigkeitsstaat ist das Problem, sondern das, was man früher mal das gesunde Volksempfinden genannt hat, also eine von einer starken moralischen Stimmung aufgeheizte Menge. Was in Rede steht, ist mithin ein kulturelles Klima, das ohne staatliche Durchgriffsrechte dafür zu sorgen vermag, dass Meinungen, die vom im jeweiligen sozialen Aktionsradius kulturell dominanten Milieu als unerträglich empfunden werden, keine Bühne mehr bekommen. Der Druck kommt von der Straße, und es sind dann Universitätsleitungen, Chefredaktionen, Festivalveranstalter oder Verlagshäuser, die sich ihm beugen. Dass das häufig genug nach hinten losgeht, dass es der Gecancelte danach überhaupt erst zu Bekanntheit und Ruhm schafft, möchte ich gar nicht bestreiten, aber eine gescheiterte Lösegelderpressung bleibt gleichwohl noch der Versuch einer Lösegelderpressung. Die Promotionsstudentin Marie-Luise Vollbrecht wurde der Öffentlichkeit erst bekannt, nachdem die Leitung der Humboldt-Universität dem Druck einer studentischen Aktivistengruppe nachgegeben hatte und Vollbrechts Vortrag zur Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaft gecancelt hatte. Der Wissenschaftsredakteur der New York Times Donald McNeil war schon als Berichterstatter über die Covid-Pandemie ein mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter journalistischer Star in den USA, aber erst nachdem er bei seinem jahrzehntelangen Arbeitgeber den Hut nehmen musste, weil er im Gespräch mit einer weißen Studentin über Hip-Hop und das N-Wort ebendieses zitiert hatte, wurde er weltweit zu einer Chiffre des Kulturkampfes. Die Kabarettistin und Schriftstellerin Lisa Eckhart war auch vorher schon bekannt aus Funk und Fernsehen und für viele ein rotes Tuch, weil ihre Pointen davon lebten, gezielt gegen politische Korrektheit zu verstoßen. Aber zu einem Begriff für jeden Zeitungsleser wurde sie erst, als ihre Teilnahme am Harbour Front Literaturfestival wegen Antisemitismus-Vorwürfen abgesagt wurde, weil die Veranstalter wegen befürchteter linker Proteste die Sicherheit der Besucher wie der Künstlerin nicht gewährleisten zu können meinten.  Nur bei Woody Allen war das Canceln von Erfolg gekrönt — zumindest in den USA: Allens ursprünglicher amerikanischer Verlag löste den Buchvertrag über dessen Memoiren auf, weil der Druck der Verlagsmitarbeiter zu groß war: Obwohl es keinerlei juristische Erhärtung gibt, sind der Filmemacher und sein Werk wegen Missbrauchsvorwürfen in den USA geächtet (sein Film A Rainy Day in New York hat keinen amerikanischen Verleih gefunden). Anders in Deutschland: Hier drohten deutsche Rowohlt-Autoren zwar auch ihrem Verlag in einem offenen Brief, doch Rowohlt blieb standhaft, und Woody Allens Erinnerungen konnten erscheinen. Hinter der Cancel Culture steckt die seltsame Vorstellung, dass die Welt ein besserer Ort wäre, wenn nur noch das Richtige und Gerechte gesagt würde, nicht mehr das Falsche und Verwerfliche. Auf keinen Fall dürfe man dieser oder jener fragwürdigen Position eine Bühne geben. Ich kann den Grundimpuls nachvollziehen, auch mir wäre es lieber, wenn nicht mehr die hässlichen, gemeinen und falschen, sondern nur noch die schönen, guten und wahren Dinge ausgesprochen und publiziert würden — das Problem ist nur, um zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können, müssen sowohl die richtigen wie die falschen Argumente erst einmal auf den Tisch, damit ihnen jeder auf den Zahn fühlen kann. Außerdem: Wer führt die Sortierung durch, zumal richtig und falsch, besonders wenn es um moralische Bewertungen geht, extrem zeitabhängig sind — was uns heute als die einzig richtige Haltung erscheint, dürfte schon in zehn Jahren so antiquiert erscheinen, wie uns Heutigen die viktorianische Sexualmoral vorkommt. (Wobei manche davon sprechen, sie erlebe gerade unter dem Warnschild »toxic masculinity« eine Renaissance.) Das jedenfalls waren die Kämpfe der zehner Jahre. Damals brauchte das woke Lager einfach nur von der Kanzel herab zu predigen und der bürgerlichen Mitte den Kopf zu waschen, damit diese schuldbewusst und reumütig nickte, weil sie, feige, wie sie seit je ist, sich von der rhetorischen Wucht des woken Manichäismus so sehr einschüchtern ließ, dass sie lieber erst gar nicht »piep« sagte. Heute hingegen erfahren woke Glaubenssätze Widerspruch und müssen nun ihrerseits begründet werden. Damit ist viel gewonnen. Zwar kommt es auch weiterhin vor, siehe oben, dass eine Universitätsleitung eine Veranstaltung absagt, aber der Vorgang führt mittlerweile dazu, dass die These in der Breite und von verschiedenen Blickwinkeln aus diskutiert wird und sich die Öffentlichkeit ein Bild von der Zivilcourage von Universitätsleitungen macht. Mehr braucht es nicht für meinen Geschmack. In der bleiernen Zeit war es dem woken Milieu gelungen, die absolute Lufthoheit über den akademischen Stammtischen zu erringen und die eigene Haltung gewissermaßen zu naturalisieren:...


Sanyal, Mithu
Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch "Vulva. Das unsichtbare Geschlecht", 2016 "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens". 2021 erschien bei Hanser ihr erster Roman Identitti, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet wurde.

Daub, Adrian
Adrian Daub lebt in San Francisco, lehrt Literaturwissenschaft an der Stanford-Universität und schreibt daneben Kritiken und Essays für zahlreiche Magazine und Zeitschriften.  Zuletzt veröffentlichte er die Studien "Four-Handed Monsters: Four-Hand Piano Playing and Nineteenth Century Culture" sowie "The James Bond Songs: Pop Anthems of Late Capitalism", beide in der Oxford University Press.

Heyl, Tobias
Tobias Heyl, geboren 1962, studierte Germanistik und Geschichte. Er arbeitet als Lektor und war Lehrbeauftragter für Buchwissenschaft an den Universitäten München und St. Gallen. Bei Hanser erschien: 75 Jahre G. Henle Verlag (2023).

Müller, Lothar
Lothar Müller, geboren 1954, studierte Germanistik und Geschichte. Er war Dozent für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der FU Berlin und 1997-2001 Redakteur im Literaturblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Heute ist er Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung mit Sitz in Berlin und seit 2010 Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2000 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis, 2008 den Johann-Heinrich-Merck-Preis. Weisse Magie - Die Epoche des Papiers wurde in der Sparte "Sachbuch" für den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 nominiert.

Domainko, Annika
Annika Domainko ist promovierte Latinistin und studierte in Cambridge und Heidelberg. Sie arbeitet als Lektorin und Autorin in München.

Kessler, Florian
Florian Kessler wurde 1981 in Heidelberg geboren. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und arbeitet als Lektor im Carl Hanser Verlag.

Lendle, Jo
Jo Lendle wurde 1968 geboren. Er studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie und war ab 1997 am Aufbau des Literaturprogramms im DuMont Buchverlag beteiligt, dessen Verleger er 2010 wurde. Daneben war er als Gastprofessor und Dozent an den Universitäten Leipzig, Hildesheim, München und Biel tätig. Seit 2014 ist Jo Lendle Verleger der Hanser Literaturverlage. Er ist Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente und Mitglied im Stiftungsrat des Literaturhauses München, im Verlegerausschuss des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und im Kuratorium des Deutschen Literaturfonds sowie Juror des Deutschen Buchhandlungspreises.

Liessmann, Konrad Paul
Konrad Paul Liessmann, geboren 1953 in Villach, ist Professor i.R. für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Er erhielt 2004 den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz im Denken und Handeln, 2010 den Donauland-Sachbuchpreis und 2016 den Paul Watzlawick-Ehrenring. Im Zsolnay Verlag gibt er die Reihe Philosophicum Lech heraus. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift (2014), Bildung als Provokation (2017) und Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen (2021) sowie bei Hanser (gemeinsam mit Michael Köhlmeier) Der werfe den ersten Stein (2019).



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