Doerr Alles Licht, das wir nicht sehen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-66752-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 519 Seiten
ISBN: 978-3-406-66752-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pulitzer-Preis für Literatur 2015
Saint-Malo 1944: Die erblindete Marie-Laure flieht mit ihrem Vater, einem Angestellten des „Muséum National d’Histoire Naturelle“, aus dem besetzten Paris zu ihrem kauzigen Onkel in die Stadt am Meer. Verborgen in ihrem Gepäck führen sie den wahrscheinlich kostbarsten Schatz des Museums mit sich.
Werner Hausner, ein schmächtiger Waisenjunge aus dem Ruhrgebiet, wird wegen seiner technischen Begabung gefördert und landet auf Umwegen in einer Spezialeinheit der Wehrmacht, die die Feindsender der Widerstandskämpfer aufzuspüren versucht. Während Marie-Laures Vater von den Deutschen verschleppt und verhört wird, dringt Werners Einheit nach Saint-Malo vor, auf der Suche nach dem Sender, der die Résistance mit Daten versorgt … Hochspannend und mit einer außergewöhnlichen Sprachkunst erzählt Anthony Doerr die berührende Geschichte von Marie-Laure und Werner, deren Lebenswege sich für einen schicksalsträchtigen Augenblick kreuzen.
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Null
7. August 1944
Flugblätter
Bei Tagesanbruch regnen sie vom Himmel. Sie wehen über die Befestigungsmauern, fliegen radschlagend über die Dächer und flattern in die Schluchten zwischen den Häusern. Ganze Straßen sind von ihren Wirbeln erfüllt, weiß blitzen sie auf dem Pflaster. Dringende Mitteilung an die Bewohner dieser Stadt, steht auf ihnen. Begeben Sie sich sofort aufs offene Land. Die Flut steigt. Klein, gelb und bucklig hängt der Mond am Himmel. Auf den Dächern des Strandhotels im Osten und in den Gärten dahinter lädt ein halbes Dutzend amerikanischer Artillerie-Einheiten ihre Mörser mit Brandgranaten. Bomber
Sie überqueren den Kanal um Mitternacht. Es sind zwölf, und sie sind nach Liedern benannt: Stardust und Stormy Weather, In the Mood und Pistol-Packin’ Mama. Das Meer gleitet tief unter ihnen her, übersät mit zahllosen weißen, zackigen Schaumkronen. Bald schon können die Navigatoren die flachen, mondbeschienenen Umrisse von Inseln ausmachen. Frankreich. Funkgeräte knistern. Bedächtig, fast gemächlich verlieren die Bomber an Höhe. Rote Lichtstrahlen steigen von den Flugabwehrstellungen entlang der Küste auf. Dunkle Schiffswracks tauchen auf, versenkt oder zerschossen, eines mit abgetrenntem Bug, ein zweites brennt flackernd. Auf einer weit der Küste vorgelagerten Insel rennen verschreckte Schafe zwischen Felsen umher. In jedem Flugzeug sitzt ein Bombenschütze, sieht durchs Zielfenster und zählt bis zwanzig. Vier, fünf, sechs, sieben. Für die Schützen sieht die näher kommende, ummauerte Stadt auf ihrer granitenen Landzunge wie ein fürchterlicher Zahn aus, schwarz und gefährlich, ein letzter Abszess, der weggeschnitten werden muss. Das Mädchen
In einer Ecke der Stadt, in dem hohen, schmalen Haus mit der Nummer 4 in der Rue Vauborel, kniet die blinde sechzehnjährige Marie-Laure LeBlanc im fünften und obersten Stock über einem niedrigen Tisch, der ganz von einem Modell bedeckt ist. Es ist eine Miniaturausgabe der Stadt, in der sie kniet, mit maßstabsgetreuen Nachbildungen der Häuser, Läden und Hotels innerhalb der Stadtmauern. Hier ist die Kathedrale mit dem durchbrochenen Turm, dort das wuchtige alte Château von Saint-Malo, und rundum ranken sich die Reihen zum Meer gewandter Häuser mit ihren Schornsteinen. Ein schmaler hölzerner Steg ragt von der Plage du Môle ins Wasser, über dem Fischmarkt wölbt sich ein zartes, netzartiges Dach, und auf den kleinen öffentlichen Plätzen stehen winzige Bänke, kaum größer als Apfelkerne. Marie-Laure fährt mit den Fingerspitzen über die zentimeterbreite Brüstung oben auf der Mauer, die einen unregelmäßigen Stern um das Modell zeichnet. Sie findet die Öffnung auf der Mauer, wo die vier Böllerkanonen aufs Meer hinausdeuten. «Bastion de la Hollande», flüstert sie, und ihre Finger wandern eine kleine Treppe hinunter, zur anderen Seite. «Rue des Cordiers. Rue Jacques Cartier.» In einer Ecke des Zimmers stehen zwei verzinkte, bis an den Rand mit Wasser gefüllte Eimer. Fülle sie, wann immer du kannst, hat ihr Großonkel gesagt, und die Badewanne im dritten Stock auch. Wer weiß, wann das Wasser wieder versiegt. Ihre Finger wandern zurück zum Turm der Kathedrale. Nach Süden zum Tor von Dinan. Den ganzen Abend schon durchstreift sie das Modell und wartet auf ihren Großonkel Etienne, dem das Haus gehört. Gestern Nacht ist er weggegangen, als sie schlief, und noch nicht zurückgekommen. Und jetzt wird es wieder Nacht, der Zeiger hat das Zifferblatt ein weiteres Mal umkreist, in den Häusern ringsum ist es ruhig, und sie kann nicht schlafen. Sie hört die Bomber, als sie bis auf fünf Kilometer herangekommen sind. Ein lauter werdendes Summen. Das Rauschen in einer Muschel. Als sie das Schlafzimmerfenster öffnet, wird der Flugzeuglärm lauter. Ansonsten ist die Nacht schrecklich still: keine Motoren, keine Stimmen, kein Geklapper. Keine Sirenen, keine Schritte auf dem Pflaster. Nicht mal Möwen sind zu hören. Nur die Flut, die einen Block weiter und fünf Stockwerke tiefer gegen den Fuß der Stadtmauer schlägt. Und noch etwas. Da raschelt etwas. Leise und sehr nahe. Sie öffnet den linken Fensterladen und fährt mit der Hand hinaus über die Latten des rechten. Da steckt ein Blatt Papier. Sie hält es sich an die Nase. Es riecht nach frischer Tinte. Vielleicht auch Benzin. Das Papier ist trocken, es hat nicht lange dort gesteckt. Marie-Laure steht zögernd am Fenster, in Strümpfen, das Zimmer im Rücken. Muscheln und Schneckenhäuser sind auf dem Schrank aufgereiht, Steine entlang der Fußleiste. Ihr Stock steht in der Ecke, der große Roman in Blindenschrift liegt umgedreht auf dem Bett. Das Dröhnen der Flugzeuge wird lauter. Der Junge
Fünf Straßen weiter nördlich wird der achtzehnjährige, weißhaarige deutsche Gefreite Werner Hausner von einem schwachen, abgehackten Brummen geweckt. Kaum mehr als ein Summen. Fliegen an einer weit entfernten Fensterscheibe. Wo ist er? Der süße, leicht chemische Geruch von Gewehröl hängt in der Luft, der Holzgeruch frisch gezimmerter Granatenkisten, das Mottenkugelaroma alter Bettwäsche – er ist in einem Hotel. Dem Hôtel des Abeilles, dem Hotel der Bienen. Es ist immer noch Nacht. Immer noch früh. Vom Meer her erklingen Pfiffe und Explosionen. Flak-Feuer. Der Feldwebel des Luftabwehrkommandos läuft über den Korridor zur Treppe. «Runter in den Keller», ruft er über die Schulter. Werner schaltet seine Lampe ein, rollt die Decke in sein Bündel und macht sich auf den Weg. Vor noch gar nicht so langer Zeit war das Hôtel des Abeilles ein fröhlicher Ort, hellblaue Fensterläden schmückten die Fassade, im Café gab es Austern auf Eis, und hinter der Theke standen bretonische Kellner mit Fliegen und polierten Gläsern. Das Hotel hatte einundzwanzig Gästezimmer, alle mit Seeblick, und der Kamin in der Halle war groß wie ein Lastwagen. Wochenendausflügler aus Paris nahmen hier einen Aperitif, vor ihnen waren es gelegentlich Abgesandte der Republik gewesen, Minister und Vizeminister, Äbte und Admiräle, und in den Jahrhunderten davor windgegerbte Korsaren: Mörder, Plünderer, Piraten, Seefahrer. Noch früher, bevor es zu einem Hotel wurde, vor gut fünfhundert Jahren, war es das Heim eines wohlhabenden Privatiers gewesen, der das Schiffekapern aufgegeben hatte, um die Bienen auf den Weiden außerhalb von Saint-Malo zu studieren, seine Beobachtungen in Notizbüchern festzuhalten und den Honig direkt aus den Waben zu essen. In den aus Eichenholz geschnitzten Wappen über den Türstöcken sind immer noch Hummeln zu erkennen, und der mit Efeu überwucherte Brunnen im Hof hat die Form eines Bienenstocks. Am besten gefallen Werner fünf verblichene Fresken an den Decken der schönsten Räume oben, auf denen kindsgroße Bienen vor einem blauen Hintergrund schweben, große, faule Drohnen und Arbeiterinnen mit durchscheinenden Flügeln, und über einer achteckigen Badewanne windet sich eine einzelne, fast drei Meter lange Königin über die Decke. Sie hat zahllose Augen und einen pelzigen Leib. Während der letzten vier Wochen ist das Hotel zu etwas anderem geworden: einer Festung. Ein österreichisches Flugabwehrkommando hat die Fenster vernagelt und die Betten beiseitegeräumt. Sie haben die Eingangstür verstärkt und die Treppe kistenweise mit Artilleriegranaten vollgestellt. Der dritte Stock des Hotels, dessen «Gartenzimmer» mit ihren großen Balkontüren direkt auf die Befestigungsmauer hinausführen, ist das Zuhause einer alternden Hochgeschwindigkeits-Flak geworden, einer Acht-Acht, deren Zehn-Kilo-Granaten eine Reichweite von fünfzehn Kilometern haben. Ihre Majestät nennen die Österreicher ihre Kanone, und während der letzten Woche haben die Männer sie umsorgt, wie Arbeiterbienen eine Königin umsorgen. Sie haben sie mit Öl gefüttert, ihre Läufe frisch lackiert und die Räder geschmiert. Sandsäcke haben sie wie Opfergaben um sie herum angeordnet. Die königliche Acht-Acht, die tödliche Monarchin, die sie alle beschützen soll. Werner ist auf der Treppe, auf halbem Weg nach unten, als die Acht-Acht in schneller Folge zweimal feuert. Es ist das erste Mal, dass er die Kanone aus solcher Nähe feuern hört, und es klingt, als wäre der obere Teil des Hotels weggesprengt worden. Er stolpert, reißt die Arme hoch und drückt sich die Hände auf die Ohren. Die Wände erbeben bis hinunter ins Fundament, und von dort wieder herauf. Werner kann die Österreicher zwei Stockwerke über sich herumrennen hören, wie sie nachladen, und dazu das abschwellende Kreischen der beiden übers Meer schießenden Granaten, die bereits vier, fünf Kilometer entfernt sind. Einer der Soldaten singt, vielleicht sind...