E-Book, Deutsch, 271 Seiten
Doderer Der Grenzwald
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-70423-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 271 Seiten
ISBN: 978-3-406-70423-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Der Grenzwald" war von Heimito von Doderer als zweiter "Satz" des nach dem Vorbild einer Symphonie in vier Sätzen aufgebauten "Romans No. 7" geplant. Die Einheit dieses vierteiligen Werkes sollte nicht im Inhalt, sondern allein in seinen Formelementen liegen. Wie im ersten "Satz", den "Wasserfällen von Slunj", tritt eine Figur weitgehend in den Mittelpunkt. Es ist der Oberleutnant Zienhammer, Durchschnittsmensch mit einem Schicksal, das in allen Kriegen, so aktuell ist wie in dem, den Heimito von Doderer schildert. Neben Zienhammer steht der Arzt Dr. Alfons Halfon im Vordergrund: im Konflikt mit seinem Vater und auf der Suche nach den befremdlichen Todesumständen seiner Mutter. Obwohl "Der Grenzwald" Fragment geblieben ist, ist Doderers Technik, die Dinge als sie selbst wirken zu lassen, bereits durchschaubar; und der Raum, der durch das Motiv des "Grenzwaldes" geschaffen wird, verleiht dem Werk auch in der Gestalt die atmosphärische Dichte, die Doderers Romane stets ausgezeichnet hat.
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;2
4;Über den Autor;2
5;Impressum;271
1
Ventruba orientierte sich rasch mit Hilfe seines Vaters. Wenige Stunden nach der Rückkehr aus Italien am 10. August 1919 – er hatte über drei Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht – wußte er schon wie die Dinge standen und hatte bereits den Vater begriffen, welcher ihm jenen Punkt zeigte, wo der Profit saß. Kein Schieber- und Spekulantenprofit, sondern ein kommender industrieller. „Ich bringe mit“, sagte er zu Ventruba senior, der ihn nach solchen Sachen eben gefragt hatte, „englisch, französisch, italienisch fast perfekt und tschechisch viel besser, als ich es früher gesprochen habe. Ferner hab’ ich alles repetiert, was man im Abiturientenkurs der Exportakademie gelernt hat; theoretisch könnte ich morgen die Prüfung noch einmal und ebenso gut wie damals machen. Die Praxis in der Fabrik vor dem Krieg und die paar Semester Jus haben mir auch nicht geschadet. Wir haben in den Kriegsgefangenenlagern ausgezeichnete Kurse gehabt, das wurde nie unterbrochen. Wenn du mich anleitest, Papa, werde ich in ein oder zwei Jahren und sobald die Lederimporte im Gang sind, das Werk hier in Mödling in deiner Vertretung führen können, so daß du für Brünn zeitweise abkömmlich wirst. Daß wir keine Kredite brauchen werden ist deiner genialen Tat zu verdanken, Papa.“ Ventruba senior hatte schon 1915 sein Gesamtvermögen in die Schweiz und deren Währung verbracht gehabt. Solche Transaktionen waren damals noch durchaus möglich gewesen. Jetzt, wie die Sachen lagen, konnte es nur kurzfristige Industriekredite geben, vom Ausland. Morgens: das Zimmer in der kleinen Villa, ein sehr frühes Erwachen, der Blick auf die Waldberge. So fand sich Ventruba aus dem Leben in Lagern und auf Transporten mit einer kurz abbrechenden Plötzlichkeit in’s Einzeldasein versetzt. In der Wanne sitzend im warmen Wasser wurde ihm das, nur durch Augenblicke, allzu bewußt, und aus ihm antwortete eine kleine Bangnis, ob er der Lage gewachsen sei, an welcher er sich nun zu messen hatte? Die zwei Junggesellen frühstückten dann zusammen: das waren sie jetzt wirklich, Vater und Sohn. Die Mutter war im Sommer 1911 gestorben. Vincenz Ventruba hatte damals schon die Reifeprüfung hinter sich gehabt und mußte von seiner ‚Matura-Reise‘ telegraphisch nachhause gerufen werden. Er kam zurecht um die Mutter noch bei Leben zu sehen. Das war nun bald acht Jahre her. Er hatte jetzt sechsundzwanzig. Das Jus-Studium würde er beschleunigt abschließen können. Daß man den Kriegsteilnehmern ein oder das andere Studiensemester erlasse, war schon in der Gefangenschaft bekannt geworden. Der Alte saß gemütlich auf der Veranda hinter seiner Kaffeetasse und war schon bei der Zigarre, als Vincenz an den Frühstückstisch kam. Ob er mit ihm in’s Werk würde gehen wollen („oder ruhst dich besser heut’ aus!“), soweit von einem solchen jetzt gesprochen werden könne?! Man habe zuletzt Schuhsohlen erzeugt aus wenig Lederabfällen, viel Sägespänen, Papierabfällen, und Teer als Bindemittel, gepreßt; ein Teil der Fabrik hatte auf Munitionsbetrieb umgestellt werden müssen. „Immerhin, die Gebäude sind da. Ein Teil der Maschinen ist auch noch verwendbar.“ Vincenz faßte Mut, wenn er den Alten ansah; unter dieser Leitung würde er alles leisten können. Ventruba senior war ein kleiner, grauer, trotz der schlechten Jahre verfetteter lustiger Mann. Der Sohn aber ein langes, zähes Tau, fast einen Meter und neunzig Centimeter groß. Dieser Wuchs kam von der Mutter, der geborenen Morawetz; Ella Morawetz, ebenfalls aus der lederverarbeitenden Branche. Die Holzveranda war eine von den braunen, altmodischen. Vincenz erinnerte sich jetzt, wie er täglich morgens in’s Gymnasium nach Wien gefahren war. Sein Zimmer oben im ersten Stock war unverändert geblieben. Der Kiesweg um die Ecke der zweistöckigen Veranda bog wie einst in den Garten ab und führte an einer Tonne für Abfälle vorbei. Das Butterbrot schmeckte eigentümlich frisch hier im Freien, wie man da saß; die großen verglasten Rahmen waren zur Seite geschoben; die Luft sehr mild, schon dufteten Blüten. „Daß du nur wieder da bist“, sagte der Vater. Das Werk war ein Saustall. Das elendige Material, mit welchem hier während des letzten Kriegsjahres gearbeitet worden war, hatte alles vermistet und verschmutzt; dies zog sich sogar bis in die Kanzlei. Durch die Aufstellung der Drehbänke zur Munitionserzeugung aber war die Einteilung der Räume für den eigentlichen Produktionszweck der Fabrik vollends gestört. Die Massen der Ersatzstoffe zur Schuhsohlenerzeugung samt dem fertigen Produkt wurden bereits weg gebracht. Man hatte sie für industrielle Heizzwecke verkauft. Auch verfrachtete man die Drehbänke. Beide letzte Posten gehörten schon in den Rahmen jener ‚Sachdemobilisierung‘ im weitesten Sinne, welche eine Lawine chaotischer Kriegsgüter noch Jahr und Tag lang auf den Markt warf. Das Werk verlassend, den Blick wieder in den Waldbergen drüben: kein Gegensatz – der heillos geworden wäre! – wurde von Vincenz verspürt zwischen der verschmutzten und verkratzten Stätte, die er verließ, und den im mittäglichen Lichte vor dem Sommerhimmel dahinziehenden Erhebungen, deren entferntere Wälder dicht wie Moospolster schienen. Ihm, Vincenz, ging solch ein schmerzender Gegensatz wahrhaftig nicht ab, er wußte nichts davon. Erst recht genoß er die Einheit seines Daseins jetzt und hier, und dessen klare Richtung und Aufgabe als ein volles Glück. „Wir werden’s machen, Vinci“, sagte der Vater, der neben ihm klein dahinging. Er nahm Vincenz für einen Augenblick mit leichtem Drucke bei der Hand. „Ja, Papa“, sagte Vincenz laut und fest. Damit begann hier jener Vorgang – und an vielen tausend anderen Stellen zugleich – welchen man nach der zweiten Weltkatastrophe unseres Jahrhunderts ebenfalls den Wiederaufbau genannt hat. Wenn auch in Vincenz Ventruba Gegensätze nicht allzudeutlich in’s Bewußtsein zu treten pflegten: die gewandelte Lebensluft ward ja doch von ihm geatmet und gefühlt, in Wien freilich, weil er dort im Auftrage des Vaters zu tun hatte, und das fast täglich. Besonders in alten Stadtteilen und Gassen, wenn er solche betrat: hier stand’s zum Greifen, daß sie wie halb untergegangene Schiffe waren, die auf Grund geraten sind und deren Bug, nun ganz sichtbar geworden, in ungemäßer Weise in den Himmel ragt, nicht vom Wasser mehr umschlossen, sondern von Luft umgeben, und also verrottend. Tiefe Vorstädte, jahrelang aufgescheucht durch das mißratene Lieblingskind einer unzulänglichen Staatsführung, den Krieg: aber schon sonderten sie wie eine Schutzhülle ihre Aura neuerlich ab, und man kann sagen, daß bereits in den frühen Zwanzigerjahren viel davon wieder vorhanden und dicht geworden war. Teilweis auch schien es überhaupt nicht zerrissen und gewichen. Es schien Inseln zu geben in der vergehenden Zeit, nur umspielt von deren Strom, den sie gleichsam teilten, nur umspült, nie überflutet; und so hielten sie durch viele Jahrzehnte sich unverändert: in donaunahen Bezirken, etwa in der alten Leopoldstadt mit ihren schäbigen Gassen, die seltsame Namen tragen, wie die Mohren-Gasse oder die Rotenlöwengasse, oft ganz leer und still, nicht einmal Kinder spielen auf dem Gehsteig. In der Novaragasse aber standen die Frauenzimmer am hellichten Tag in Grüppchen herum, daraus Zurufe an etwa einherkommende Passanten tönten. Vincenz streifte hier nirgends an. Seine mit Vorsicht genossenen Freuden, auf die er ja in Wien früher oder später hatte verfallen müssen, wählten eine soigniertere Ebene mit einer garantierten Hygiene. Mehrmals auch kam er später, schon 1920, an seinem einstmaligen Gymnasium vorbei (jetzt bereits am Steuer eines langen Wagens) und einmal gerade dann, als mittags nach Schluß des Unterrichtes die Scharen der Schüler dem Gebäude entquollen, wie eh und je. Ventruba hielt nicht an, obwohl er’s gerne hätte getan. Er glitt weiter die lange, gerade, leicht abfallende Straße hinab. Aber, als er hier die laufenden und durcheinander rufenden Schüler hinter sich ließ – einige sprangen beiseite, da er hupte – kam doch ein Bach von Erinnerungen hinterdrein, der auch durch die folgenden Tage floß. Seine Mitschüler: der kleine Baron Rottenstein mit Stupsnase und schwarzen Haaren. Der Doderer mit den Schlitzaugen. Der Hofmock mit den gesellschaftlichen Ambitionen. Einen Canadier aus Montreal hatten sie auch gehabt, Cunish hieß er, dick und lustig-listig, einer der besten Schüler. Er wußte von keinem mehr was. Sie waren ihm fast alle gleich nach der Matura abhanden gekommen, und vergessen worden. Der Alte hatte sich übrigens 1911, nachdem die Mutter gestorben war, gänzlich zurückgezogen. Ein Haus war...