Dobrakovová | Mütter und Fernfahrer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Dobrakovová Mütter und Fernfahrer


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7017-4681-1
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4681-1
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein irrwitziger, transnationaler Reigen rund um fünf junge Frauen auf der Suche nach Selbstbestimmung, Freiheit und Sex

Witziger und pointierter ist selten vom Dilemma zeitgenössischer Weiblichkeit erzählt worden: Zwischen den unerfüllbaren Forderungen der allgegenwärtigen Mütter und der Sehnsucht nach den stets abwesenden, verlockenden "Fernfahrern" versuchen fünf Frauen in Bratislava und Turin, ihr eigenes Leben zu leben. Familienbande erweisen sich dabei als genauso verhängnisvoll wie die Anforderungen des oftmals virtuellen Datings mit all seinen (falschen) Versprechungen. Ivana, Lara, Olivia, Gloria und Veronika sind hinreißend widerständige Frauen, die sich mit Humor und ungewöhnlichen Lösungen gegen die alltäglichen Zumutungen wehren und auf ihrem Glücksanspruch beharren.

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VATER
Ich greife eine Szene heraus, behaupte aber nicht, dass sie typisch wäre, ich kenne sie auch nur aus Erzählungen, denn ich selbst habe Bilder dieser Art nicht mehr vor Augen: Ich sitze neben meiner Schwester im Wohnzimmer auf der Couch und wir schauen Märchenfilme. Meine Schwester ist vier Jahre älter als ich, sie mag zu jener Zeit sechs gewesen sein, ich knapp zwei, Vater ist in der Küche. Wir wohnen auf dem Burghügel in der Nähe der Mudronova Straße, im nobelsten Viertel von Bratislava, in der Garage haben wir einen schönen Ford, im Wohnzimmer einen Kamin und vom Balkon aus Blick auf Österreich. Ich gehe schon seit einem Jahr in den Kindergarten, denn meine Eltern arbeiten beide. Mutter kommt heim, kaputt von der Arbeit, mit Einkäufen behängt, und so findet sie uns vor. Meine Schwester bis an die Knie voller Rotz, weswegen Mutter wenigstens nicht merkt, dass ich, ihre kleine Schwester Svetlana, mich völlig zugeschissen habe, bis zum Rand der Windel, der Vater, richtig, ist in der Küche, doch er schläft, sein Kopf ist aufs Tischtuch gesackt, daneben eine Flasche. Irgendwas. Weitere Erläuterungen sind unnötig, man weiß Bescheid. Ich möchte dazu aber etwas erklären. Vater lebte nicht mit uns. Er kam des Öfteren unter der Woche vorbei und übernachtete bei uns, seinen ständigen Wohnsitz hatte er aber woanders, in einem Dorf in Ungarn, bei den Seen, an die wir im Sommer zum Baden fuhren. Als die Eltern heirateten, hatte Mutter vor, zu ihrem Mann zu ziehen, sie war ja auch schon mit meiner Schwester schwanger, da sie aber in einer so tollen Gegend von Bratislava wohnte, der Kamin, der Blick und so weiter, beschloss sie im letzten Moment, nein, sie würde nicht nach Ungarn gehen. Vielleicht hatte da auch meine Tante ihre Finger im Spiel, Mutters Schwester, sie redete die ganze Zeit auf sie ein, sie werden dich nie als eine der Ihren ansehen, du wärst dort auf immer die Ausländerin. Und dann noch zur Schwiegermutter. Kannst du glauben. Sie glaubte, meine Mutter. Und dann blies sich auch Vater auf. Sein Zuhause sei dort. Und Schluss. Kurzum, sie lebten getrennt. Zumindest während der ersten Jahre. Bis sich Vaters Gesundheitszustand verschlechterte. Über Vater weiß ich eigentlich nicht viel zu sagen, was diese ersten Jahre betrifft. Er hatte eine Glatze. Das gefiel mir wahnsinnig. Ich nannte seine Glatze Mühlmühlrädchen. Ich wollte auch so ein kleines Rad auf dem Kopf haben. Einmal, ich sehe es noch genau vor mir, holte ich die Schere aus dem Nähkasten und schnitt mir ein Loch in die Haare. Ganz stolz ging ich zu Mama, um es ihr zu zeigen. An ihre Reaktion kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß nur noch, wie sie die Geschichte danach überall herumposaunte. Eine amüsante kleine Episode aus dem Familienalltag. Ich sehe auch das Dorf in Ungarn vor mir. Vater arbeitete in Bratislava an der Technischen Universität, doch zu Hause war er Kleinbauer, Landwirt, ständig mit Spaten, Hacke, Rechen oder Schlauch zugange, den Oberkörper nackt. Sein Garten schien mir riesig, ein wahres Königreich, in dem man auf Bäume klettern, in Brunnen fallen und im Gewächshaus schwitzen konnte. Ich staunte später sehr, als ich erfuhr, dass Vaters Garten nur ein Bruchteil von Opas ursprünglichem Grundbesitz war, den die Kommunisten verstaatlicht hatten. Bis an die Seen habe er ursprünglich gereicht. Das wär’s gewesen, vom Garten aus ins Wasser springen, und Pferde haben, nicht nur die Hühner und Karnickel, die Oma züchtete. Wir fuhren an den Wochenenden zu den Seen und verbrachten auch die Sommer dort. Damals lebte Oma noch, sie sprach praktisch nur Ungarisch, den einheimischen Bastarden schrie sie kiškuta nach, kleiner Köter, für mich und meine Schwester buk sie Pfannkuchen, von denen ich gern behauptet hätte, dass es die besten der Welt waren, doch ehrlich gesagt weiß ich es nicht mehr. Oma kümmerte sich gemeinsam mit ihrem Sohn um den Garten und die kleine Wirtschaft. Im Gewächshaus zog sie Setzlinge, die sie später auf dem Markt verkaufte. Anfangs bemühte sich Mutter, ihr zur Hand zu gehen, etwas von der Schwiegermutter zu lernen, sich nützlich zu machen, doch sie begriff sehr schnell, dass ihre Schwester recht hatte. Vergebliche Liebesmüh. Alles, was sie machte, war schlecht, ištenem, had’d, nešegic, mein Gott, lass es sein, nicht nötig. Oma scheuchte sie aus dem Gewächshaus, beinah wie irgendeinen Bastard, der sich durch den löchrigen Zaun zu uns reingezwängt hätte. Bis Mutter sich sagte, also gut, mir reicht’s jetzt auch, und sich nur noch mit den Blumen im Vorgarten und den Ziergehölzen beschäftigte. Am Ende erklärte sie sogar, ehe sie mit dem Karren zum Markt ziehe und Setzlinge verkaufe, lasse sie sich scheiden. Vater unternahm viele Reisen und fotografierte dabei gern. Er hatte im Schlafzimmer einen Schrank voll gelber Umschläge mit Fotos, in denen ich oft kramte. Vater brachte es fertig, durch das Busfenster zwanzig Mal denselben Felsen zu fotografieren, Vater brachte es fertig, drei Filme mit verschwommenen Niagarafällen vollzuknipsen, Vater hatte keinerlei Talent fürs Fotografieren. Ich habe auch Fotos von Vater in Gesellschaft schrill zurechtgemachter Frauen gefunden, die merkwürdig aussahen, erst viele Jahre später gelang es mir, mich konkreter auszudrücken – sie sahen vulgär aus. Die Fotos, auf denen er fremde vulgäre Frauen in irgendwelchen Läden umarmte, waren die einzigen, auf denen auch er zu sehen war. Sonst nur Landschaften. Vater lernte auf Reisen viele Ausländer kennen, die er später zu sich nach Hause einlud, in das geräumige mehrstöckige Haus, das er sich kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus neben Omas schlichtem dörflichen Häuschen gebaut hatte. In den Sommermonaten vermietete Vater Zimmer an Urlauber, die in den Seen baden wollten, und hin und wieder auch an seine ausländischen Bekannten. Einmal bin ich mit einem von ihnen, einem gewissen Panco aus Peru, zu einem Fußballspiel gegangen. Das heißt, wir hatten eigentlich vor, zum Karussell auf der anderen Seeseite zu gehen, doch wir ließen uns von den Menschenmassen mitziehen, die gerade ins Stadion strömten. Er konnte kein Slowakisch, ich kein Englisch, wir unterhielten uns durch Zeichen. Doch während dieses uns beide langweilenden Fußballspiels tauschten wir uns praktisch nur zu einer Sache aus. Panco zeigte auf meine Schuhe und sagte, dass sie pretty wären, nice. So viel begriff ich. Zu Hause war es dann umso schwierige, zu erklären warum wir zum Fußball gegangen waren. Meine Schwester zog mich ständig auf. Einmal erzählte sie mir, dass unsere Seen aus Spucke entstanden seien. Man habe einst dort gebaggert und es sei ein so hässliches Loch entstanden, dass jeder, der vorbeikam, angeekelt ausspuckte. Und allmählich, mit den Jahren, sei es immer mehr geworden. Spucke. Ich glaubte ihr nicht, doch die Vorstellung war widerlich. Ich muss aber ergänzen, dass sie mir auch Kopfsprung vom Steg beibrachte. Und Saltos unter Wasser. Wir schwammen zusammen zur Insel rüber. Auch mit Vater. Mutter erinnert sich, dass ich einmal bei den Seen verloren ging. Ich war damals vier. Vater und meine Schwester hatten mich nirgends gesehen und es war Zeit gewesen, aufzubrechen. Also brachen sie auf. Zu Hause sagte Vater zu Mutter, sie wird schon von alleine kommen. Und er behielt recht, als Mutter in Ohnmacht fiel, kam ich. Vater war ein klarer Verfechter des Patriarchats. Opa hatte Oma nur genommen, weil sie die beste Arbeiterin auf seinem Land war und er sie als seine Ehefrau nicht mehr bezahlen musste. Vater übernahm diese Ansichten, sein Lieblingsspruch war, die Frau hat auf dem Feld zu arbeiten, und wenn sie müde ist, kann sie sich bei der Hausarbeit ausruhen. Doch Mutter hatte, wie schon erwähnt, recht bald vor Omas Setzlingen, ihrer erdrückenden Kritik und den bittend gefalteten Händen kapituliert, mit denen Oma zum Ausdruck brachte, sie möge es sein lassen, und ruhte sich dann nur noch bei der Hausarbeit im großen Haus aus. Manchmal kochte sie Erdbeermarmelade. Vater lobte sie. Auf seine Art. Die Marmelade sei fast so gut wie die aus dem Laden. Er war auch auf die Schinderei in seiner Kindheit stolz, auf seine Bildung, die er nur dank seiner Intelligenz errungen habe. Als er zur Welt kam, wohnten Opa und Oma im Garten in einem Schuppen, in dem es keinen Strom gab und kein fließendes Wasser, nur einen gestampften Lehmboden und in der Nähe einen Brunnen, alles aus Holz. Vater löste während des Sommers immer freiwillig alle Aufgaben aus dem Mathebuch des kommenden Schuljahres und langweilte sich dann im Unterricht zu Tode. Später studierte er an der Universität in Prag. Zu jener Zeit hatte er bereits ein ernsthaftes Alkoholproblem. Einmal war er, als er von der Kneipe zurück ins Internat wollte, so besoffen, dass es ihm die Beine weghaute. Doch er löste das Problem mit Logik. Da sich die Kneipe auf einem Hügel befand und das Internat am Fuße dieses Hügels, legte er sich auf die Erde und rollte bis vor die...


Ivana Dobrakovová, geboren 1982 in Bratislava, Dolmetsch- und Übersetzerinnenstudium für Englisch und Französisch an der Comenius Universität. Für ihren Kurzgeschichten-Band "Der erste Tote in der Familie" (2009) erhielt sie den Ján Johanides Preis für das beste erste Buch, 2010 stand sie mit ihrem Roman "Bellevue" auf der Shortlist des Anasoft Preises. Für "Mütter und Fernfahrer" (2018) wurde sie mit dem EU Literaturpreis ausgezeichnet, das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ivana Dobrakovová lebt in Turin als Übersetzerin u.a. der Werke von Elena Ferrante ins Slowakische.



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