Distelhorst | Kulturelle Aneignung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

Distelhorst Kulturelle Aneignung


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96054-269-8
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Reihe: Nautilus Flugschrift

ISBN: 978-3-96054-269-8
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Keine Frage – in Kunst und Kultur und der Entwicklung der Menschheit überhaupt hat es immer Übernahmen und Aneignungen von Techniken, Fertigkeiten, Motiven usw. gegeben. Man lernt ja voneinander. Doch darum geht es hier nicht. Kultureller Austausch ist etwas anderes als kulturelle Aneignung.
Lars Distelhorst schreibt aus der selbstreflektierten Perspektive eines Weißen über einen aktuell so populären wie unzureichend theoretisierten Begriff, der ein bemerkenswertes Affektpotenzial hat: Ob es um Faschingskostüme oder um Dreadlocks geht, um Soulmusik oder Yoga – die Diskussion kocht sehr schnell hoch.
Distelhorst veranschaulicht zunächst anhand der Reaktionen auf die Empfehlung einer Hamburger Kita im Jahr 2019, die Kinder zum Fasching nicht als "Indianer" zu verkleiden, und eines kurzen Abrisses der deutschen Kolonialgeschichte den Zusammenhang zwischen Mikro- und Makroebene von kultureller Aneignung. Er setzt sich mit verschiedenen Definitionen des Begriffs auseinander, vor allem mit dem oft unterstellten Zusammenhang mit essenzialistischen Kulturkonzeptionen, und analysiert drei Dimensionen der Aneignung: kolonialen Kulturraub, ungefragte Repräsentation anderer Kulturen und Konsum von Kultur als Ware.
Schließlich verknüpft Distelhorst kulturelle Aneignung mit einer kapitalismus- und rassismuskritischen Perspektive, um das Konzept für die Kritik von Dominanzverhältnissen fruchtbar zu machen, und lotet aus, was Antirassismus für weiße Menschen bedeuten kann.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Kita und Kolonialismus: Deutsche Alltagsszenen +++ Ausflug in den Kolonialismus +++ Definitionen kultureller Aneignung: Vom Essenzialismusproblem zum Transkulturalitätsproblem +++ Dimensionen der Aneignung: Koloniale Beutekunst +++ Geraubte Repräsentationen +++ Supermarkt der Kulturen +++ Identität und Identitätspolitik +++ Der Kampf um Hegemonie +++ Kulturelle Aneignung und Kapitalismus: Kommodifizierung der Kultur +++ Sinn- und Bedeutungsverlust +++ Ausgehöhlte Identitäten +++ Rassistische Begehrlichkeiten: Race und Rassismus +++ Die Macht der Strukturen +++ Das machen doch alle +++ Weißer Antirassismus: Zwischen Allyship und Privileg +++ Selbstachtung statt Verzicht +++ Was bleibt?


Einleitung
Wenn meine Studierenden mich fragen, ob sie ihre Hausarbeiten in der Ichform schreiben können, rate ich ihnen in den meisten Fällen ab. Das Ziel des Schreibens über gesellschaftliche und politische Fragen sollte darin bestehen, Aussagen und Argumente mit überindividueller Gültigkeit zu formulieren, schließlich verhandeln wir in solchen Auseinandersetzungen Fragen, die eine Vielzahl von Menschen betreffen und nicht nur uns selbst. Geben wir diesen Anspruch auf, funktionieren unsere Gespräche irgendwann nur noch so, als würden wir uns darüber unterhalten, ob wir Hunde oder Katzen lieber mögen. Mit Blick auf dieses Buch wäre es allerdings vermessen, sich auf eine universelle Position zurückzuziehen und zu behaupten, es käme immer nur auf die Qualitätder Argumente an, nicht aber darauf, wer sie von welchem Ort aus formuliert. Das Thema kulturelle Aneignung ist ebenso tief in die Dynamik des Kapitalismus wie in die des (Post-)Kolonialismus und Rassismus eingebettet und verweist damit auf einen Graben, diesseits und jenseits dessen sich das Leben für Menschen sehr unterschiedlich gestaltet, insofern die einen Privilegien erfahren, wo die anderen diskriminiert werden. Oder einfach ausgedrückt: Als nicht-weißer Mensch, also als BIPoC (Black, Indigenous, People of Color), über ein solches Thema zu schreiben, ist etwas anderes, als es als weiße Person zu tun. Deswegen möchte ich am Anfang ein wenig über mich selbst sagen und wie ich auf die Idee zu diesem Buch gekommen bin. Ich bin ein weißer Mann Ende vierzig. Politisch halte ich an der Möglichkeit einer Welt jenseits von Kapitalismus und Rassismus fest, in der Menschen frei von Ausbeutung, Entfremdung und Diskriminierung zusammen ihr Leben gestalten und dabei lebendige soziale Beziehungen führen können. Marx hat dies in der zum Bonmot gewordenen Formulierung aus Die deutsche Ideologie eine Welt genannt, in der es möglich sei, morgens dies und abends das zu machen, zu jagen, zu fischen und Viehzucht zu treiben oder nach dem Essen zu kritisieren, ohne dabei jemals Jäger*in, Fischer*in, Hirt*in oder Kritiker*in zu werden. Und hier fangen die Probleme an. Auf Marx bin ich früh gestoßen, habe in jungen Jahren Lektürekurse besucht und mich zusammen mit anderen durch Das Kapital gebissen. Kapitalismuskritik hat meine intellektuelle Biografie stets begleitet. Aber wie war das mit Rassismuskritik? Rassismus habe ich stets als Unrecht kritisiert, zumindest im Rahmen meiner damaligen Möglichkeiten, die sich in Umfang und Reflexionsniveau gegenüber meiner Kapitalismuskritik mehr als bescheiden ausnahmen. Dass ich als Linker kein Rassist sein konnte, war für mich lange Zeit eine ausgemachte Sache, über die ich mir entsprechend wenig Gedanken gemacht habe. Bis ich dann irgendwann anfing, diese Selbstverständlichkeit infrage zu stellen und mich näher mit Rassismus auseinanderzusetzen. Das war und ist nicht unbedingt eine schmeichelhafte Angelegenheit. Ich kann mich noch sehr genau an meine erste Lektüre des Buches Deutschland Schwarz Weiß1 der afrodeutschen Autorin Noah Sow erinnern. Wer das Buch nicht kennt, aber es zu lesen plant, sollte diesen Absatz vielleicht am besten überspringen. Die Autorin veranstaltet zu Anfang ihres Buches ein kleines Ratespiel zur Frage, wo sie als Schwarzer Mensch denn eigentlich »wirklich herkommt«. Dazu schreibt Sow, es gebe in ihrem Land schon seit einiger Zeit eine Episode stabiler Demokratie, auch Telefonanschlüsse seien mittlerweile fast überall zu finden und von den vielen Dialekten sei einer zur Amtssprache ausgewählt worden. Das Land ist – Deutschland. Bin ich auf die Antwort gekommen? Natürlich nicht. Ganz im Gegenteil kramte ich in meinem Kopf nach Namen afrikanischer Länder, auch wenn ich kaum welche kannte. Bei einem Rassismusworkshop ein paar Jahre und Bücher später wurden wir gebeten, aus einer langen Liste von Adjektiven diejenigen auszuwählen, die für unser Leben besonders wichtig seien. Habe ich das in der Liste enthaltene Wörtchen »weiß« angekreuzt? Natürlich nicht. Schließlich war das für mich normal. Was ich mit Beispielen wie diesen sagen will, ist nicht, wie sehr ich mich schäme, denn Scham bringt einen hier nicht wirklich weiter, auch wenn sie in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus nicht vermieden werden kann. Sondern: Kann man in einer massiv von Rassismus geprägten Gesellschaft aufwachsen, die sich durch eine kaum aufgearbeitete Kolonialgeschichte auszeichnet und die Erinnerung an den nationalsozialistischen Holocaust im Namen einer Schlussstrichmentalität langsam zur Seite legt, kann man in einer solchen Gesellschaft aufwachsen, ohne von rassistischen Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungsmustern geprägt zu sein? Angesichts dieser Frage gibt es kein Taktieren. Die Antwort lautet schlicht und einfach: Nein. Diesen Mist wieder aus dem Kopf zu bekommen, setzt als allererstes voraus, zu erkennen, wie tief man als weißer Mensch des globalen Nordens in ihn verstrickt ist, gerade wenn man Rassismus ablehnt und sich als Linke*r bezeichnet. Das betrifft auch kulturelle Aneignung. In meinen Zwanzigern trug ich Dreadlocks, die mir bis über den Hintern reichten, und ließ mir als Belohnung für die Beendigung meines Studiums ein großes Tribal auf den Oberarm stechen. Noch vor zehn Jahren hätte ich in keinem von beidem ein Problem gesehen. Ich wanderte voll Bewunderung durch das Pergamon- und das Ägyptische Museum in Berlin, ohne mich zu fragen, wo die Exponate eigentlich herkommen (angesichts der Anwesenheit eines ganzen Stadttores eine reife Leistung) und ergriff durchaus auch mal beherzt das Wort, um im Namen unterdrückter Minderheiten zu sprechen (oder im Namen von Menschen, die ich dafür hielt), weil ich mich in sie hineinversetzen zu können glaubte. Die Dreads habe ich mir mit Ende zwanzig abgeschnitten. Tattoos sind leider etwas hartnäckiger. Ins Museum gehe ich noch immer, habe heute aber eher das Gefühl, durch eine Beutekammer zu wandeln, und bevor ich mich im Namen anderer zu Wort melde, denke ich mittlerweile (hoffentlich) länger nach als früher oder halte auch einfach mal den Mund. Bewusst mit dem Thema »kulturelle Aneignung« konfrontiert wurde ich das erste Mal 2016, als ich im Internet über den Artikel Fusion Revisited: Karneval der Kulturlosen von Hengameh Yaghoobifarah stolperte,2 der die Diskussion in Deutschland wesentlich mit angestoßen hat. Da dieser noch ausführlich besprochen werden wird, an dieser Stelle nur ein paar kurze Worte: Der*Die iranisch-deutsche Autor*in3 gewinnt ein Ticket für die Fusion (ein großes Festival für elektronische Musik), stößt dort nach seiner*ihrer Ankunft an jeder Ecke auf kulturelle Aneignung in all ihren Spielarten und kritisiert das mit überaus deutlichen Worten. Mein Urteil stand damals schnell fest – und es war so unberechtigt wie von ungetrübter Weißheit: Der Artikel war in meinen Augen von einem im Kern rassistischen Kulturverständnis getragen, und deswegen Teil des Problems und nicht der Lösung. Ich fühlte mich sehr im Recht, klopfte mir für meinen Antirassismus auf die Schulter und befand mich zudem in Gesellschaft vieler anderer weißer Menschen mit der gleichen Auffassung. Doch irgendwie konnte ich den Artikel nie wirklich ad acta legen. Er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Meine feste Überzeugung, ein Antirassist zu sein, hielt mich davon ab, den Artikel sauber zu durchdenken, weil ich ihn dazu auch auf mich beziehen musste, was mir lange Zeit wirklich schwerfiel und noch in der ersten Niederschrift dieses Buches Probleme machte. Bin ich also in alles verstrickt, worüber ich hier schreibe? Sicherlich. Gerade deswegen schreibe ich dieses Buch. Vielen weißen Menschen dürfte es ebenso gehen wie mir: In der festen Überzeugung, Antirassismus verstünde sich von selbst, verdrängen wir für uns unangenehme Fragestellungen und machen uns zu Kompliz*innen des täglichen Rassismus. Gerade in vermeintlichen »Kleinigkeiten« wie Prozessen kultureller Aneignung klebt der Rassismus an uns wie altes Kaugummi und wir weisen alle Vorwürfe von uns. Kulturelle Aneignung? So ein Quatsch. Als ob irgendein Schwarzer Mensch in den USA weniger von der Polizei verprügelt wird, wenn ich mir hier die Dreadlocks abschneide. Noch vor wenigen Jahren hätte dieses Argument durchaus von mir sein können. Sollte ich als weiße Person also ein Buch über kulturelle Aneignung und damit auch über den Zusammenhang zwischen Rassismus und Kapitalismus schreiben? Schließlich bin ich von kultureller Aneignung ebenso wenig betroffen wie von Rassismus. Sollten weiße Menschen nicht besser einfach den Mund halten und zuhören? Doch das kann auch zu einer bequemen Haltung verkommen, in der sich hinter scheinbar achtsamem Zuhören die Gleichgültigkeit versteckt und langsam wieder auf Normalbetrieb umschaltet. Nein, weiße Menschen können sich nicht darauf beschränken, sich von Schwarzen Menschen und People of Color ihren Rassismus erklären zu lassen, sondern müssen selbst eine Haltung zu dieser...


Lars Distelhorst, geboren 1972 in Georgsmarienhütte, hat an der Universität Bremen Politikwissenschaft studiert und promovierte an der Freien Universität Berlin über Geschlechterpolitik. Er ist Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule Clara Hoffbauer in Potsdam und lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm "Kritik des Postfaktischen. Der Kapitalismus und seine Spätfolgen" (Fink 2019) und "Leistung. Das Endstadium der Ideologie" (transcript 2014)



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