- Neu
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Nautilus Flugschrift
Distelhorst Dekonstruiert Identitätspolitik
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96054-390-9
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Neuansatz
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Nautilus Flugschrift
ISBN: 978-3-96054-390-9
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lars Distelhorst, geboren 1972 in Georgsmarienhütte, hat an der Universität Bremen Politikwissenschaft studiert und promovierte an der FU Berlin über Geschlechterpolitik. Er ist Professor für Sozialwissenschaft an der Fachhochschule des Mittelstands Berlin. Zuletzt erschien »Kulturelle Aneignung« (Edition Nautilus 2021).
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Geschichte einer kulturellen Aneignung
Bei der Lektüre von Artikeln über die Geschichte des Begriffs »woke« kristallisieren sich schnell zentrale Daten heraus. In einem Artikel für die Webseite des Legal Defense Fund der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) verweist die Autorin Isheena Robinson auf den Aufruf »Wake up Ethiopia! Wake up Africa!« in einer Aphorismen- und Ideensammlung von Marcus Garvey aus dem Jahr 1923. Auch wenn es sich hier noch um einen allgemein gehaltenen Appell und nicht um eine Neudefinition handelt, erkennt Robinson darin das erste Auftauchen des Begriffs.1 Garvey vertrat eine radikal antikolonialistische Position und gründete 1914 in New York die UNIA-ACL (Universal Negro Improvement Association and African Communities League), mit der er sich im Geiste des Panafrikanismus für eine Auswanderung der Schwarzen Bevölkerung nach Afrika engagierte. Das »Wacht auf« (das Wort »woke« geht auf das englische Verb »wake« zurück) kommt der Aufforderung gleich, Hoffnungen auf ein glückliches Leben in den USA zu begraben und die Schlussfolgerung zu akzeptieren, ein menschenwürdiges Leben sei für Schwarze Menschen aus den USA nur auf dem afrikanischen Kontinent möglich.
Von zentraler Relevanz für die frühe Geschichte von »woke« ist neben Garveys Buch vor allem der Song »Scottsboro Boys« des Bluesmusikers Hudson William Ledbetter (auch bekannt unter dem Namen »Lead Belly«) aus dem Jahr 1938. Die »Scottsboro Boys« waren neun Schwarze Jugendliche namens Ozzie Powell, Willie Roberson, Eugene Williams, Olen Montgomery, Andy Wright, Roy Wright, Clarence Norris, Charlie Weems und Haywood Patterson. 1931 fuhren sie in Tennessee auf einem Güterzug zwischen Chattanooga und Memphis (viele arme Menschen nutzten damals illegal die Güterzüge in den USA, um zu reisen) und wurden dabei von einer Gruppe weißer Jugendlicher angegriffen, die der Meinung waren, der Zug sei nur für Weiße. Diese zogen in der darauffolgenden Auseinandersetzung allerdings den Kürzeren und wurden deswegen umgehend beim lokalen Sheriff vorstellig, wo sie behaupteten, von einer Gruppe Schwarzer Teenager angegriffen worden zu sein. Die Polizei stoppte den Zug und verhaftete die neun Jugendlichen. Ebenfalls festgenommen wurden Victoria Price und Ruby Bates, zwei junge weiße Frauen, die ebenfalls unentdeckt auf den Güterzug geklettert waren. Mit einer Anzeige wegen Landstreicherei und verbotener sexueller Aktivität konfrontiert, sagten sie bei der polizeilichen Vernehmung aus, Opfer einer Vergewaltigung durch die Schwarzen Jugendlichen geworden zu sein.2
Im daraufhin in Scottsboro geführten Prozess wurden acht der neun Schwarzen Jugendlichen nach kurzem Prozess von einer ausschließlich weißen Jury zum Tode verurteilt. Die NAACP und die Communist Party USA (CPUSA) prangerten den Prozess an und stellten ihn ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Es folgten jahrelange juristische Auseinandersetzungen, in denen mehrmals Gerichtsurteile durch den Obersten Gerichtshof aufgehoben und Grundsatzurteile gesprochen wurden, durch die sich die Stellung von Angeklagten gegenüber der Justiz signifikant verbesserte. Die acht zum Tode Verurteilten bekamen schließlich zwar die Todesstrafe erlassen, saßen zum Teil aber jahrzehntelang im Gefängnis; für einige von ihnen erfolgte die Begnadigung erst 2013 posthum.3
Anders als auf vielen Internetseiten behauptet, taucht das Wort »woke« nicht direkt im Text des Liedes auf, sondern in einem Radiointerview, das in der Albumversion auf Lead Bellys Song folgt. Dort sagt er unter anderem: »I advise everybody, be a little careful when they go along through there – best stay woke, keep their eyes open.«4 Der Begriff ist hier also als eine Mahnung an die afroamerikanische Bevölkerung gedacht, in den Südstaaten (und wohl auch allgemein in den USA) die Augen offen zu halten, um nicht wegen rassistisch motivierter Anklagen im Gefängnis zu verschwinden oder auf dem elektrischen Stuhl zu landen.
Als weitere Station der Begriffsgeschichte von »woke« nennt Isheena Robinson den Streik der Schwarzen Minenarbeiter 1940 in West Virginia, die gegen ihre im Vergleich zu weißen Arbeitern schlechtere Bezahlung protestierten.5 Ihr zufolge hat im Kontext dieses Streiks einer der Schwarzen Gewerkschafter gesagt: »We were asleep. But we will stay woke from now on.« Doch der Ausspruch wird in ihrem Artikel leider ohne Quellenangabe zitiert und auf den zahlreichen Internetseiten über die bewegte Geschichte der Arbeitskämpfe der Minenarbeiter in Virginia ist über dieses Ereignis nichts zu finden.
Ein Artikel von J. Saunders Redding aus den 1940ern weist jedoch in Robinsons Richtung. Reddings war der erste Schwarze Professor an einer der Ivy-League-Universitäten der USA und schrieb zahlreiche Bücher über afroamerikanische Kultur, Literatur und Geschichte. In einem Artikel für The Atlantic mit dem Titel »A Negro Speaks for His People« widmet er sich dem wachsenden Selbstvertrauen der für ihre Rechte kämpfenden Schwarzen Bevölkerung im Süden der USA und geht dabei auf die mit zunehmender Schärfe geführten Gewerkschaftskämpfe ein.6 Allerdings betont er vor allem den wachsenden Zusammenhalt zwischen weißen und Schwarzen Arbeitern, die angesichts der drückenden Klassenfrage mehr und mehr ihre gemeinsamen Interessen erkennen würden. In diesem Zusammenhang zitiert er auch die Worte eines Schwarzen Gewerkschafters: »Let me tell you, buddy. Waking up is a damn sight harder than going to sleep, but we’ll stay woke up longer.«7 Ob die beiden Autor*innen sich hier auf den selben Gewerkschafter beziehen und nur die damit verbundene Geschichte unterschiedlich erzählen, lässt sich nicht rekonstruieren, da in beiden Fällen weder Name noch Kontext näher angegeben werden.
Mit dem Essay »If You’re Woke You Dig It« von William Melvin Kelley in der New York Times vom 20. Mai 1962 erscheint mehr als 20 Jahre später allerdings ein unbestrittener Meilenstein in der Begriffsgeschichte des Wortes »woke«.8 In seinem Essay beschreibt Kelley, wie er in der New Yorker U-Bahn sitzt und seine Augen auf ein Schild fallen, das die Passagiere in mehr als 20 Sprachen dazu auffordert, auf Sauberkeit zu achten. In einer als »Beatnik« bezeichneten Sprache (vielleicht ein Scherz des U-Bahnbetreibers, um auch junge Menschen zu erreichen) steht dort zu lesen: »Hey cats, this is your swinging-wheels, so dig it and keep it boss.« Die gegen Ende der 50er Jahre in den USA entstandene Beatnik-Kultur wandte sich gegen die vorherrschende konservative bürgerliche Lebensweise und fand ihren literarischen Ausdruck in den Werken überwiegend weißer Autoren wie Jack Kerouac, William S. Burroughs oder Allen Ginsberg (Schwarze Autor*innen wie Amiri Baraka gab es auch, als literarische Strömung war Beat jedoch von weißen Stimmen dominiert). Kelley zufolge ließ sich der Ursprung des Jargons der Beatnik-Kultur derart leicht auf das Idiom der Schwarzen Community New Yorks zurückführen, dass auch die Beatniks selbst jederzeit eingeräumt hätten, ihre Sprache sei nur geliehen. Im weiteren Verlauf seines Artikels zeichnet er die Bewegung der Sprache zwischen Schwarzer (Sub-)Kultur und (weißem) Mainstream nach, die sich auf der einen Seite durch eine ständige Adaption des Schwarzen Idioms durch die Mehrheitsgesellschaft auszeichnet, auf der anderen Seite durch die unentwegte Neuerfindung desselben innerhalb der Schwarzen Kultur.9
Diese Bedeutungsebene ist heute prägend für die Interpretation dieses frühen Textes. So sieht Brianna Perry in der von Kelley beschriebenen Dynamik zwischen Schwarzer Kultur und Mainstream vor allem eine Art Nötigung des Schwarzes Idioms, sich immer wieder neu zu erfinden, um den »Geiern der Kultur« und des weißen Mainstreams zu entgehen. Schwarze Menschen brächten das koloniale Englisch durch eine gegenkulturelle Aneignung in eine revolutionäre Form, und gleichzeitig bedürfe es lediglich eines weißen Menschen, um die semantische Kraft eines Wortes auszulöschen.10 Perry interpretiert Kelleys Essay also vor dem Hintergrund des Begriffs der kulturellen Aneignung, der Enteignung einer unterdrückten Kultur durch eine »Dominanzkultur«11, und plädiert darauf basierend dafür, Schwarzes Englisch solle Eigentum Schwarzer Menschen sein (auch wenn unklar bleibt, wen sie genau meint, da das Eigentum an ein nicht näher bezeichnetes »wir« gebunden wird, auch räumt sie die Aussichtslosigkeit dieses Anspruchs noch im Folgesatz ein). Das nur im Titel von Kelleys Essay vorkommende »woke« interpretiert sie vor diesem Hintergrund als eine Mahnung an Schwarze Menschen, sich ein kritisches Bewusstsein zu bewahren und sensibel für die politische Dimension »Schwarzer Sprache« zu sein.12
In den 60er Jahren und Anfang der 70er taucht der Begriff »woke« auch noch an anderen Stellen auf. Martin Luther King ermahnte 1965 die Studierenden des Oberlin College in einer Rede mit dem Titel »Remaining Awake Through a Revolution«, nichts sei tragischer, als eine Revolution zu verschlafen, und die große Herausforderung der Zeit bestehe darin, angesichts der sozialen Umwälzungen wach zu bleiben.13 1970 veröffentlichte die heute als Pioniere des Hip-Hop gefeierte Band »The Last Poets« den Song »Wake Up N*****« und 1972 ließ der Dramatiker Barry Earl Beckham in seinem Stück »Garvey Lives!« eine seiner Figuren sagen: »I been sleeping all my life. And now that Mr. Garvey done woke me up, I’m gon’ stay woke.«14 Anschließend wird es den verfügbaren...