E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Disney - Twisted Tales
Disney / Lim Disney. Twisted Tales: Wenn Wünsche wahr werden
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-646-94010-7
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was wäre, wenn die Blaue Fee Pinocchio nicht geholfen hätte? | Der Märchen-Klassiker mal anders - für Fans der Villains
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Reihe: Disney - Twisted Tales
ISBN: 978-3-646-94010-7
Verlag: Carlsen Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Walt Disney (1901-1966) war einer der einflussreichsten und meistgeehrten Filmproduzenten und Trickfilmzeichner des 20. Jahrhunderts. Dafür sorgten Figuren wie Micky Maus oder Donald Duck. 1937 erschien mit »Schneewittchen und die sieben Zwerge« ein Meilenstein der Filmgeschichte: der erste abendfüllende Zeichentrickfilm. Viele weitere folgten und begeistern noch heute ein Milliardenpublikum jeder Altersklasse. Disneys Name entwickelte sich zu einer internationalen Marke, die für ein umfassendes Spektrum an Produkten der Unterhaltungsindustrie steht.
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Prolog
In dieser Nacht sollte die Blaue Fee nicht auf Wünsche hören, schon gar nicht auf Wünsche aus der verschlafenen kleinen Stadt Pariva. Aber sie spürte einen Stich im Herzen, als sie über die niedrigen Dächer und die engen gepflasterten Gassen flog, und wollte das nicht ignorieren.
Es war schon spät am Abend und in den meisten Häusern schliefen die Bewohner bereits. Nur eine Handvoll Fenster wurden noch von Kerzenlicht erhellt. In ihnen bemerkte die Blaue Fee aufgeregte Gesichter von Kindern und Erwachsenen, die laut riefen: „Seht nur da oben! Eine Sternschnuppe! Und sie leuchtet besonderes hell!“
Und genauso war es auch. Sie leuchtete so hell, dass ihr Licht die Sterne und sogar den Mond in ihrer Nähe überstrahlte.
„Schnell, schnell!“, hörte die Blaue Fee ein Mädchen rufen. „Sie wird vergehen! Wir müssen uns rasch etwas wünschen! Ich wollte schon immer mal eine Sternschnuppe sehen. Und jetzt ist sie da!“
Lächelnd ließ die Blaue Fee sich auf dem Dach des alten Glockenturms von Pariva nieder. Ihre silbernen Schühchen klingelten ganz leise, als sie auf den alten Dachschindeln landete. Der Glockenturm war verlassen, aber selbst wenn das nicht so gewesen wäre, hätte niemand sie bemerkt. Sie war unsichtbar, so wie alle ihrer Art, jedenfalls wenn sie es wünschte. Auf diese Weise konnte sie ihren wichtigen Aufgaben nachgehen, ohne beobachtet zu werden.
Gerade heute war sie besonders dankbar für diese Fähigkeit. Natürlich wusste sie, dass es albern war. Denn inzwischen gab es niemanden mehr in Pariva, der sie erkannt hätte, selbst wenn sie direkt vor ihm oder ihr gestanden hätte. Und trotzdem spürte sie diesen Stich im Herzen immer deutlicher.
Pariva war ein kleines Städtchen, so unbedeutend, dass es auf kaum einer Landkarte von Esperia eingezeichnet war. Es wurde von Bergen und dem Meer begrenzt und schien damals von der Außenwelt nahezu unberührt zu sein. Die Schule sah immer noch so aus wie früher, genau wie der Marktplatz und die Via Mangia – eine Straße mit Lebensmittelläden, darunter die hochgeschätzte Bäckerei Belmagio. Zypressen, Lorbeerbäume und Pinien säumten noch immer den großen Platz im Zentrum, wo die Einheimischen sich zum Plaudern oder Schachspielen oder auch zum Singen trafen.
Waren wirklich schon vierzig Jahre vergangen, seit sie von hier fortgegangen war? Es kam ihr vor, als wäre sie gestern noch durch die schmalen Gassen von Pariva gelaufen, in der Hand einen Sack mit Pinienkernen für die Bäckerei ihrer Eltern. Weißt du noch, wie du immer am Hafen stehen geblieben bist, um zuzuschauen, wie die Fischerboote über das glitzernde Wasser glitten?
Damals war sie noch eine Tochter gewesen, eine Schwester, eine Freundin. Ein zierliches Mädchen, das bei ihren Eltern in einem bescheidenen zweistöckigen Haus an der Via Constanza wohnte, mit einer narzissengelben Tür und einer Steintreppe, die in einen kleinen Innenhof führte. Dort hatte ihr Vater einen Kräutergarten angelegt. Und es hatte ihn immerzu betrübt, wie sehr die Minze wucherte, wo er doch vor allem Basilikum ziehen wollte.
Die Kräuter kamen in den Teig der Brote, die ihre Eltern in ihrem Bäckerladen verkauften. Vater backte die salzigen, Mutter die süßen Teigwaren, darunter Mandelkekse, dick überzogen mit Zitronencreme, Schokoladenbiskuits mit Haselnusspralinen und ihre berühmten Zimtplätzchen. Die Blaue Fee war mit glitzernden Zuckerkristallen an ihren Fingerspitzen aufgewachsen und Mehlstaub, der auf ihren Haaren glänzte wie Schnee. Ihr älterer Bruder Niccolo hatte den zickigen Ofen immer wieder in Gang gebracht und ihre Mutter horchte gerne auf das Knacken der goldbraunen Kruste, bevor die Brote zu singen begannen. Einmal war die Zunge ihrer kleinen Schwester Ilaria ganz grün gewesen, weil sie zu viele Pistazienküchlein verspeist hatte. Über allem hatte etwas Magisches gelegen, vor allem aber in dem Lächeln ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geschwister, wenn nach der täglichen Verkaufstour noch etwas von dem Schokoladenkuchen übrig war und sie sich mit ihren kleinen Gabeln erwartungsvoll ein saftiges Stück abstachen.
Nach dem Abendessen hatte sich die Blaue Fee mit ihren Geschwistern ins Blaue Zimmer zurückgezogen, um zu musizieren. Dort waren die Wände blauer als der Himmel im Hochsommer und die Fenster geschwungen wie Regenbögen. Es war ihr Lieblingszimmer im ganzen Haus gewesen.
Die Erinnerungen stimmten sie fröhlich und wehmütig zugleich. Unwillkürlich suchte sie nach ihrem früheren Zuhause. Das Haus war immer noch da, die gelbe Tür verblichen, und das Dach musste ausgebessert werden. Niemand stand am Fenster und wartete auf eine Sternschnuppe.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich von dem Haus ihrer Kindheit ab und nahm den Rest der Stadt in Augenschein. Sie beugte sich über den Rand des Dachs vom Glockenturm und legte den Zauberstab ans Ohr, damit sie hören konnte, was die Menschen sich an diesem Abend wünschten:
„Liebe Sternschnuppe, bitte hilf meiner kleinen Maria, damit sie in der Schule vorankommt.“
„Liebe Sternschnuppe, ich möchte, dass mein Baci ganz viele Hündchen bekommt, neun Stück, die alle so aussehen wie er. Und gesund und fröhlich sollen sie sein.“
„Ich wünsche mir mehr Erfolg für mein Geschäft.“
Und so weiter.
Manche Wünsche fand sie angebracht, aber die Blaue Fee konnte sie nicht erfüllen. Ihr war nicht erlaubt, in Pariva Wünsche zu erfüllen. Aber es gab bestimmt eine andere Fee, die die Wünsche hörte, die in dieser Nacht geäußert wurden, und denen half, die es verdienten.
Eine weiße Taube tauchte auf und landete auf ihrer Schulter. Sie gurrte leise und drängte sie zum Gehen.
„Keine Sorge, liebe Freundin“, sagte sie. „Ich weiß, wie spät es ist.“
Sie hatte bereits eine Stunde überzogen und würde sicher vermisst werden, wenn sie noch länger fortblieb. „Leb wohl, mein geliebtes Pariva“, murmelte sie und wollte schon davonfliegen – da drang ein letzter Wunsch an ihr Ohr.
„Stern, ich bitte dich in dieser Nacht inniglich. Ich hab einen großen Wunsch an dich.“
Rasch zog die Blaue Fee einen Kreis durch die Luft und schuf ein magisches Fenster, durch das sie den Sprechenden genauer betrachten konnte: Ein alter Mann kniete auf seinem Bett, neben ihm lag ein schwarzes Kätzchen und schnurrte. Er schaute sehnsüchtig durchs Fenster in den Himmel. Sie erkannte seine Stimme nicht, aber sie kam ihr bekannt vor – freundlich, ernst und getragen.
„Hoffentlich erfüllt er sich“, sprach er weiter.
Und da fiel ihr sein Name wieder ein.
Geppetto.
Es war vierzig Jahre her. Sein Haar war völlig weiß geworden, sein Gesicht so alt, dass sie es nicht wiedererkannte. Aber seine blauen Augen und seine runde, rötliche Nase waren noch so wie damals.
Geppetto wandte sich an sein kleines Kätzchen. Es war sehr hübsch mit seinem schwarzen Fell und den weißen Pfoten. „Figaro, weißt du, was ich mir wünsche?“
Figaro schüttelte den Kopf.
„Ich wünsche mir, mein kleiner Pinocchio könnte ein echter Junge sein. Wäre das nicht schön? Stell dir nur vor!“
Geppetto lächelte verträumt vor sich hin. Aber die Blaue Fee hatte die Gabe, in die Herzen der Menschen zu sehen. Sie spürte die Einsamkeit, die an ihm nagte. Er hatte niemanden, bis auf seine Katze und den Goldfisch in seiner Werkstatt – keine Frau, keinen Sohn, keine Tochter, keine Verwandten. Die Kinder von Pariva liebten die Spielsachen, die er herstellte, aber ihr Lachen hörte er nur tagsüber. An den Abenden fühlte er sich zumeist sehr einsam.
Immer noch mit diesem verträumten Lächeln im Gesicht legte der alte Geppetto sich ins Bett. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.
Die Sternschnuppe verging am Himmel und die Blaue Fee senkte ihren Zauberstab. Es wurde Zeit, nach Hause zurückzukehren. Eine andere Fee würde sich bestimmt um die Wünsche der Bewohner von Pariva kümmern.
Aber sie konnte sich nicht losreißen.
Der alte Geppetto hatte eine wahre Flut von Gefühlen in ihr ausgelöst – Mitgefühl, Mitleid und ein Hauch von Schuld. Sie hielt inne. Ihr Blick fiel auf eine Holzpuppe in Geppettos Werkstatt. Sie spürte eine Last auf ihrer Brust. Sie wusste, dass sie gehen sollte. Ehrlich gesagt durfte sie überhaupt nicht hier sein. Aber sie schaffte es nicht, sich zu verabschieden.
Die Taube auf ihrer Schulter neigte fragend das Köpfchen und die Blaue Fee lächelte zögernd.
„Aber warum eigentlich nicht?“, sagte sie zu ihrer Begleiterin. „Niemand wird je davon erfahren.“
Und bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte, schwenkte sie ihren Zauberstab und verwandelte sich in einen sanften Sternenglanz, der sich zielstrebig auf das Haus von Geppetto zubewegte.
Sie drang durch das offene Fenster ein und wartete, bis Geppetto und seine Katze Figaro tief und fest schliefen, bevor sie sich zurückverwandelte.
Nun stand sie mitten in Geppettos Werkstatt. Hier war sie früher einmal gewesen, vor so langer Zeit, dass es ihr wie ein Traum vorkam. Manches erkannte sie wieder, die Holzbalken unter der Decke, den langen Holztisch vor der Wand mit den Werkzeugen, den Farbtöpfen und Pinseln, die Skizzen. Aber manches war auch anders.
Auf den Regalen standen zahlreiche Spielzeuge aufgereiht: Holzpferde mit beweglichen Beinen, Elefanten mit flatternden Ohren, kleine Familien in Booten, die zu singen anfingen, wenn man sie aufzog. Und es gab Uhren. Bei manchen deuteten die Zeiger auf...