E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Disney. Twisted Tales
Disney / Braswell Disney. Twisted Tales: Inmitten der Wasserwelt (Arielle)
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-646-93623-0
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was wäre, wenn Arielle niemals Ursula besiegt hätte?
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
Reihe: Disney. Twisted Tales
ISBN: 978-3-646-93623-0
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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6. KAPITEL
Arielle
Die übliche Menge hatte sich um den Thronhimmel versammelt: Meeresbewohner jeder Art, darunter einige Delfine, die gelegentlich zur Oberfläche schwammen, um nach Luft zu schnappen, ein einsamer Riemenfisch, eine kleine Gruppe von Groppen. Die meisten Anwesenden waren allerdings Meermänner und -frauen, denn die Königin hielt heute das Ritual der Juni-Fluten ab, eine der wichtigsten offiziellen Feierlichkeiten.
Wie gerne wäre sie ganz woanders gewesen.
Könige und Königinnen mussten sich regelmäßig ihrem Volk präsentieren, das gehörte zu ihrem Beruf. Die meisten Zeremonien ließen sich erledigen, indem man an einen bestimmten Ort schwamm, königlich auftrat, ernste Blicke austauschte und Kinder anlächelte. Aber wenn man anlässlich einer Feier eine Rede halten sollte …
… und nicht sprechen konnte …
…
Annio wurde zum ausführenden Priester des Rituals ernannt. Also wird er es sein, nicht Laiae, der aus dem Hades-Brunnen schöpfen soll.
Das sagte sie mit den Händen und buchstabierte den Namen des Priesters sorgfältig in alten Runen.
Sebastian und Fabius und der Seepferdchen-Bote Threll hatten sich am Rande der Menge positioniert und sprachen laut aus, was Arielle in Zeichensprache erklärte. Die drei und die Schwestern von Arielle waren die Einzigen, die es auf sich genommen hatten, die alte Zeichensprache des Meeres zu lernen. Aber nur der Fisch, die Krabbe und das Seepferdchen hatten sich bereit erklärt, die Worte zu übersetzen.
Keiner hatte eine besonders laute Stimme – so wie ihr Vater –, weshalb nicht alle hören konnten, was sie sagten.
Einmal hatten sie versucht, Fabius’ Stimme mit der Hilfe eines Muschelhorns zu verstärken, aber das war eine Katastrophe gewesen. Er hatte einfach lächerlich geklungen.
In einer perfekten Welt hätten Arielles Schwestern diese Aufgabe übernommen. Sie waren mit ihr zusammen aufgewachsen und hatten ähnliche Stimmen. Außerdem waren sie Prinzessinnen, weshalb man ihnen eher zugehört hätte.
Aber es war ihnen zu anstrengend.
Und es war nun einmal die besondere Eigenschaft ihrer Schwestern, zu viel Anstrengung zu vermeiden. Selbst die Privilegien, die sie als Nachfolgerinnen genossen hätten, konnten sie nicht umstimmen.
Darum musste Arielle sich in Zeichensprache verständlich machen, und ihre Übersetzer übersetzten. Die Versammelten hörten also verschiedenen Stimmen zu, die für sie sprachen. Außerdem schauten sie die Übersetzer an und richteten ihre Fragen an sie, was das Durcheinander noch verschlimmerte.
„Welcher Annio denn? Der ältere?“
„War mein Kind in der engeren Auswahl, die liebliche Ferestia?“
„Um welche Uhrzeit denn?“
Arielles einzige Antwort auf die vielen Fragen, die von allen gleichzeitig gestellt wurden, war ein lautes Signal mit dem goldenen Muschelhorn, das sie als Symbol ihrer offiziellen Funktion um den Hals trug. Tatsächlich aber kam sie sich eher wie ein Schiffskapitän vor und nicht wie eine Königin.
Ich werde euch die Einzelheiten auf Tafeln mitteilen, die ich an den üblichen Orten für Bekanntmachungen aufstellen lasse, gab sie erschöpft in ihrer Zeichensprache bekannt. Das wäre dann alles.
Nachdem ihre Assistenten es ausgesprochen und alle darüber nachgedacht hatten – es fühlte sich an wie das Warten auf den Donner nach dem Aufflammen eines Blitzes –, murmelten die Versammelten ihre negativen und positiven Kommentare und gingen auseinander.
Arielle sank zurück in ihren Thron, stützte sich müde auf ihren Arm und nahm damit unbewusst die gleiche Haltung ein wie ihr Vater nach einem anstrengenden Tag. Threll flitzte von einem herumstehenden Meermenschen zum anderen, um mögliche Verständnisfragen zu beantworten. Er war ein guter Bote und hatte sich überraschend schnell in seine neue Rolle hineingefunden. Fabius hielt sich weiter hinten auf und unterhielt sich mit einem Fisch, den Arielle nicht kannte.
Sebastian krabbelte zu ihr und sprang hoch, um sich auf ihre Armlehne zu setzen.
„Die Saga am Ende des Ritus dürfte ein außergewöhnliches Ereignis werden“, sagte er aufgeregt und lief mit den Scheren gestikulierend im Krebsgang auf der Armlehne hin und her. „So viele Talente sind dabei. Mit großer Begeisterung! Es könnte nicht besser sein. Die Sardinen sind perfekt synchronisiert, die Trompetenfische spielen großartig. Alles ist ideal. Nun ja, da wäre nur eine Sache, die es noch schöner machen könnte … wenn du deine Stimme wiederhättest.“
Arielle rutschte ungeduldig auf ihrem Thron hin und her, aber die kleine Krabbe ließ sich nicht beirren. Zwar konnte Sebastian ihre Zeichen interpretieren, ihre Lippen lesen und ihre Stimmung entschlüsseln – aber nur wenn er sich darauf konzentrierte.
„Was für ein Verlust für die Welt …“ Er legte ihr eine Zange auf die Schultern und bemerkte endlich ihren verkniffenen Gesichtsausdruck. „Oh, äh, aber im Gegenzug haben wir natürlich die wunderbarste Königin der Welt bekommen.“
Die wunderbarste Königin der Welt senkte ihren Dreispitz und überlegte, ob sie ihn für einige Minuten in eine Seegurke verwandeln sollte, als Strafe für das, was er gerade gesagt hatte.
Aber er hatte ja nur ausgesprochen, was sie selbst gelegentlich dachte: ob sie überhaupt zur Königin geeignet war. Schließlich war sie gar nicht dafür vorgesehen gewesen.
Als sie vor fünf Jahren zu ihren Schwestern zurückgekehrt war, ohne Stimme und verzweifelt über das, was ihr zugestoßen war, hatte sie erwartet, dass man sie bestrafen würde. Stattdessen hatte ihre Familie sie zur Herrscherin über Atlantica gemacht. Diese Ernennung war einmalig, denn normalerweise hätte sie als die Jüngste erst nach dem Tod ihrer sechs Schwestern einen Anspruch auf den Thron gehabt.
„Du bist verantwortlich für den Mord an unserem Vater“, hatten sie gesagt. „Daher ist es nur gerecht, wenn du von nun an seine Verantwortung übernimmst.“
Insgeheim fragte sich Arielle, ob es sich dabei weniger um eine Strafe gegen sie als um eine Erleichterung für die anderen handelte. Keine ihrer Schwestern wollte sich dieses Amt aufladen. Als Prinzessinnen konnten sie den ganzen Tag spielen und singen, sich hübsche Muschelkleider anfertigen lassen, Kronen tragen und auf Paraden glänzen … ohne jemals wirklich etwas Anstrengendes tun zu müssen. Arielle schaute ihren Schwestern bei ihren Vergnügungen zu und wunderte sich über die Kluft, die sich zwischen ihnen auftat. Sie war die Jüngste und auch, wie manche behaupteten, die Hübscheste von allen – früher war sie sogar einmal die Sorgloseste von allen gewesen –, und nun saß sie auf dem Thron und beneidete ihre Schwestern.
Die Meermenschen verehrten ihre Königin, auch wenn sie nicht sprechen konnte und immer traurig wirkte. Vielleicht gerade deswegen. Dichter und Musiker schrieben Epen und Balladen, die von ihrem Schicksal erzählten, von der Liebesgeschichte, die beinahe ein Königreich zerstört hätte.
Das alles gefiel ihr nicht.
Auch die Aufmerksamkeit der Meermänner missfiel ihr. In der guten alten Zeit, als sie noch unschuldig gewesen war, hatten die jungen Männer sie überhaupt nicht wahrgenommen. Jedenfalls nicht die jungen Meermänner.
Jetzt war sie gezwungen, sie zu beobachten, auf sie aufzupassen und ihre Motive zu ergründen. Zumeist ging es darum, die Königin zu heiraten, um selbst König zu werden.
Ha, dachte sie bitter. Wenn die wüssten, wie anstrengend es ist zu regieren.
Sie war kaum in ihre neue Funktion geschwemmt worden, da verstand sie auch schon, warum ihr Vater immer so ungehalten gewesen war. Er hatte mit strenger Hand geherrscht und nur selten gelächelt. Mit seinem versteinerten Gesicht und dem langen Bart hatte er wie ein alter Gott ausgesehen und seine Untertanen mal finster, mal forschend angestarrt. Sie und ihre Schwestern hatte ihn oft geneckt, um ihn zum Lächeln zu bringen. Hatten versucht, ihn von seinen Pflichten abzuhalten, um mit ihm zu spielen. Aber meistens hatten sie sich mit der Teilnahme an offiziellen Empfängen zufriedengeben müssen – zum Beispiel dieses eine Fest, das Arielle hatte ausfallen lassen, woraufhin das ganze Unheil begonnen hatte.
Wie gern würde sie ihm sagen, dass sie ihn verstand. Regieren war eine anstrengende Aufgabe. Herrscher wurden schnell misstrauisch, ernst und grüblerisch.
Dabei könnte es eine so einfache Aufgabe sein, denn das Meervolk und ihre Verbündeten waren sorglos und fröhlich.
Jedenfalls bis eine Bande räuberischer Wolfsbarsche in den Garten einer ihrer Cousinen eingedrungen war.
Oder der Großmeister der Haie darauf bestanden hatte, die Jagdgründe seines Volks bis zum Grauen Canyon auszuweiten.
Und dann war auch noch ein Korallenriff überraschend ausgebleicht, ohne dass jemand einen Grund dafür benennen konnte. Und die Diamantschildkröten konnten ihre angestammten Laichplätze nicht erreichen, weil dort inzwischen Häuser standen. Nicht zu vergessen, dass die Menschen es geschafft hatten, eine ganze Delegation aus der Nordsee einzufangen und aufzuessen. Außerdem war die Anzahl der Fischerboote so groß geworden, dass sie gegen die uralten ungeschriebenen Gesetze zwischen der Meereswelt und der Trockenen Welt verstießen.
Trotz dieser vielen dringenden Probleme beklagte sich ihre Cousine Yerena noch immer über die Wolfsbarsche und ihre „hässlichen Gesichter“.
Arielle bekam schon schlechte Laune, wenn sie nur...