E-Book, Deutsch, 234 Seiten
Dilthey Die Einbildungskraft des Dichters
2. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8187-2757-4
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Bausteine für eine Poetik
E-Book, Deutsch, 234 Seiten
ISBN: 978-3-8187-2757-4
Verlag: epubli
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Wilhelm Dilthey (19. November 1833 in Biebrich; 1. Oktober 1911 in Seis am Schlern, Südtirol) war ein deutscher Theologe, Gymnasiallehrer und Philosoph.
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Die erworbenen Einsichten und die neuen Aufgaben der Poetik.
1. Die Poetik als Formenlehre und Technik.
Die Poetik, wie sie Aristoteles begründet und die Folgezeit bis in das 18. Jahrhundert benutzt und bereichert hat, war eine Formenlehre und eine auf diese gegründete Technik.
Aristoteles hat überall das Verfahren von Verallgemeinerung, welche die Formen aus den Einzelthatsachen ableitet und sie coordinirt, sowie von Zergliederung, welche die Zusammensetzung dieser Formen aus Einheiten aufzeigt, angewandt: seine Methode ist descriptiv, nicht ächte Causalerklärung. Und zwar haben seine Grammatik, Logik, Rhetorik und Poetik augenscheinlich zur Grundlage die Beobachtungen, Zergliederungen, Formbegriffe und Regeln, welche in der Kunstübung selber entstanden und in der schulmässigen Bearbeitung der Sophisten durchgebildet worden waren. Indem er constante Formen nachweist, ordnet und so zergliedert, dass man Einheiten zu ersten Verbindungen und diese zu höheren Systemen zusammentreten sieht, vermag er überall das Erbgut des Handwerks selbst und das schulmässige von den Sophisten ausgebildete technische Wissen zu verwenden. Lehrte doch ein grosser Theil des griechischen Unterrichts, die Sprache zergliedern bis zu Lauten als letzten Einheiten, ein metrisch-musikalisches Ganze bis zu den Grundzeiten, die Beweisführung bis zu den Terminis, alsdann die Formen, wie sie aus den Zusammensetzungen entstehen, rubriciren, endlich die Regeln, nach denen in solchen Formen die verfügbaren Mittel zum Zweck verbunden werden müssen, erkennen und anwenden. Die Poetik des Aristoteles war eine Formenlehre und Technik in diesem Verstande; durch ihre Bruchstücke geht die Auseinandersetzung mit dem Erbgut der im dichterischen und schulmässigen Betrieb erworbenen Technik, und dem Verhältniss zu dieser verdankt sie ihre regelhafte Abgeschlossenheit, ihre lehrhafte Vollendung.
Wie unzusammenhängend auch der erhaltene Text der Poetik ist, wie einsilbig über das Verhältniss zu den Vorgängern und den andern aristotelischen Schriften: die logische Verknüpfung in dem Erhaltenen gestattet den Schluss, dass diese Formenlehre und Technik der Poesie nicht von Aristoteles aus allgemeinen ästhetischen Principien, wie dem der Schönheit oder des künstlerischen Vermögens abgeleitet, sondern nur durch Abstraction aus den Dichtungen und deren Eindruck und durch Schluss aus den technischen Beziehungen zwischen den Mitteln der Nachbildung, dem Gegenstande derselben und ihren möglichen Weisen begründet worden ist.
Die Regeln dieser Poetik sind durchgängig zurückgeführt auf die Eigenschaften der Dichtung, Nachahmung von handelnden Menschen im Darstellungsmittel der Rede (zu welchem Rhythmus und qualitative Tonordnung treten können) in verschiedenen Weisen der Darstellung zu sein. Dieses Princip der Nachahmung ist objectivistisch wie das der Logik und Erkenntnisslehre des Aristoteles, nach welchem Wahrnehmen und Denken einerseits, Sein andrerseits sich entsprechen und das Sein im Denken dargestellt wird. Und dieses objectivistische Princip ist der Ausdruck der natürlichen Auffassung sowohl der Erkenntniss als der Kunst. Einerseits ist also dies Princip der Nachahmung der einfachste Ausdruck eines freilich nur in der bildenden Kunst und Poesie, nicht in Musik, decorativer und architectonischer Kunst bestehenden einfachsten Thatbestandes von Kunstübung und Kunstgenuss. Andrerseits ordnet es im Sinne dieser objectivistischen Weltbetrachtung die Lust an der Dichtung der an allem Lernen und Schauen unter. Ist so das Princip nicht ohne weiter zurückreichende Beziehungen, so überwiegt doch durchaus der Gesichtspunkt des Technikers dabei, wenn diese Poetik sich daran genügen lässt, als Ursache in der menschlichen Natur, welche die Entstehung der Poesie bewirkte, die Freude am Nachbilden und der Wahrnehmung der Nachbildungen, verbunden mit der an Harmonie und Rhythmus, zu bezeichnen.
Alle weiteren Wirkungen, welche die Dichtung hervorzubringen hat, fliessen dann nach ihr aus der Natur des Gegenstandes, der nachgebildet wird: des handelnden Menschen. In diesem Zusammenhang geht die Poetik auf die psychologischethische Natur des nachzubildenden Vorgangs an bedeutenden Stellen zurück. So begründet sie die Lehre, welche doch nur die abstracte Formel für eine Eigenthümlichkeit der griechischen Tragödie ist, dass die Fabel das Princip und gleichsam die Seele der Tragödie sei, das Zweite erst die Charaktere, aus dem ethischen Satze, dass das Ziel des Menschen und seine Eudämonie im Handeln liegt. Daher können nach ihr in der concentrirten Nachbildung des Lebens durch die Tragödie die Handlungen nicht um der Charakterzeichnung willen auftreten. So sieht ferner diese Poetik das Eigenthümliche der Tragödie in der besonderen Art von Wirkung, welche der nachzubildende Gegenstand hervorbringt: der Furcht und dem Mitleid; sie bemerkt ausdrücklich, dass die Definition, welcher diese Angabe über das Merkmal der tragischen Wirkung angehört, in vorher Gesagtem begründet war. Auch diese uns leider verlorene Begründung muss ethisch-psychologisch aus der Natur des nachzubildenden Vorgangs dessen Wirkung abgeleitet haben. So darf endlich wol angenommen werden: wie eine bekannte Stelle des Aristoteles mannigfache ganz verschiedene Wirkungen der musikalischen Kunst, Unterhaltung (und zwar verschiedenen Charakters und Werthes), sittliche Bildung, Reinigung empirisch aufzählt, so hat auch die Poetik ein Mannigfaches solcher Wirkungen für die Dichtung, dem Wechsel der von ihr nachgebildeten Gegenstände entsprechend, angenommen. Die Poetik erkannte also in empirischer Unbefangenheit das Mannigfache der poetischen Wirkung an. Aber der Grund dieser Wirkung lag ihr nur in dem Verhältniss zwischen dem Nachbilden, den Gegenständen desselben und den Mitteln. Allein aus diesem Verhältniss wurden von ihr die Formen und Regeln der Dichtung abgeleitet. In diesem Verhältniss hat sie ihr einheitliches Princip. Sie denkt den Dichter als nach Regeln zum Zweck bestimmter Wirkung sein Werk hervorbringend. Sie ist eine Technik, und in ihr herrscht der Verstand. Von ihrem einfachen Grundgedanken aus hat sie mit unübertroffener Klarheit die Formen der Dichtung definirt, deren Theile zergliedert und die Regeln festgestellt, nach denen diese Theile gebildet und zusammengefügt werden müssen.
So ist eine Elementarlehre und Technik der Poesie entstanden, welche durch die Begrenzung des angegebenen Princips sowie der benutzten schönen Literatur eingeschränkt, aber innerhalb dieser Einschränkung mustergültig und höchst wirksam ist. Das Schema ihrer Ableitungen ist folgendes: jede Kunst Nachahmung; die Künste, welche durch Farben und Form abbildlich darstellen, werden von denen unterschieden, welche in Rede, Rhythmus und Harmonie ihre Darstellungsmittel haben. Unter diesen letzteren wird der Dichtung ihr Rang bestimmt. In der Weise der Nachbildung ist dann der Unterschied von erzählender und dramatischer Dichtung begründet. Insbesondere eine technische Betrachtung der Tragödie wurde nun durch die Lehre von der Einheit der Handlung, der Schürzung und Lösung des Knotens, der Peripetie und der Erkennung begründet, wenn auch die Erörterung der Möglichkeiten öfters in Casuistik ausartet.
Auch sofern diese Technik des Dramas, als abstrahirt aus dem beschränkten griechischen Kreis theatralischer Kunst, bestritten worden ist, diente sie doch, bei den neueren Dramatikern das ästhetische Bewusstsein von einer Technik der Bühne auszubilden. Der Schöpfer des spanischen Theaters Lope de Vega hat in Betrachtungen über die dramatische Kunst der Technik des Aristoteles Regeln wie die von der Verbindung des Ernsten und Lächerlichen, die er aus der Praxis des spanischen Theaters entnahm, gegenübergestellt und seine eigene Technik damit gerechtfertigt, dass Regeln und Muster der Alten mit dem Geschmack seiner Zeitgenossen nicht in Uebereinstimmung zu bringen seien. Die von Descartes beeinflusste Poetik, Corneille und Boileau haben in Auseinandersetzung mit der Tradition der Aristotelischen Theorie die Kunstweise des französischen Dramas zu einer strengen Technik ausgebildet. Je genauer man die im Wesenhaften so regelmässige Form der Shakespeare’schen Tragödie betrachtet, desto mehr möchte man vermuthen, dass der uns verborgene Vorgang, in welchem das ältere englische Theater, ja noch die Shakespeare unmittelbar voraufgehende Kunstweise von Marlowe und Greene, zu dieser Formstrenge fortgebildet worden ist, nicht ohne irgend eine Auseinandersetzung mit der vorhandenen technischen Theorie stattgefunden hat. Am Beginn unserer neueren deutschen Dichtung stehen Gottsched und der Streit der Aristotelischfranzösischen Poetik mit der schweizerischen. Lessing gedachte die Poetik des Aristoteles zu commentiren: er wollte sie in ihrer Reinheit herstellen und vertreten. Er hat in seinem Laokoon und seiner Dramaturgie auf der Grundlage dieser Poetik fortgebaut, im ächten Geiste derselben und doch mit Lessing’scher Selbständigkeit. Und als der Sturm gegen alle Regeln vorüber war, als unsere beiden grossen Dichter eine Technik unserer Poesie herzustellen trachteten, als zwischen ihnen in den neunziger Jahren jene merkwürdigen Debatten über Epos und Drama stattfanden, in denen noch nicht ausgenutzte Schätze von Beobachtungen über dichterische Formen gesammelt wurden: da waren sie erstaunt und erfreut, sich mit Aristoteles, den sie nun wieder verglichen, so vielfach einstimmig zu wissen.
Goethe schrieb am 28. April 1797: »ich habe die Dichtkunst des Aristoteles wieder mit dem grössten Vergnügen durchgelesen, es ist eine schöne Sache um den Verstand in seiner höchsten Erscheinung. Es ist sehr merkwürdig, wie sich Aristoteles bloss an die Erfahrung hält und dadurch, wenn man will, ein wenig zu materiell wird,...