Dillon | Der Glanz eines neuen Tages | E-Book | www2.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

Dillon Der Glanz eines neuen Tages

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-23265-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 544 Seiten

ISBN: 978-3-641-23265-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die junge Lorna arbeitet ehrenamtlich in einem Hospiz in London. Zuletzt hat sie die exzentrische Betty gepflegt, die ihr zwei Dinge mit auf den Weg gab: den Rat, dem Leben mit Mut zu begegnen, und ihren Dackel Rudy. Und so wagt Lorna einen Neuanfang und kehrt mit Rudy zurück in ihre Heimat Longhampton, wo sie sich den Traum einer eigenen Galerie erfüllen möchte. Doch in Longhampton lauern auch die Geister der Vergangenheit: Hier zerbrach ihre Familie und auch ihre Jugendliebe, die sie nie vergessen konnte. Erst als Lorna die ältere menschenscheue Künstlerin Joyce bei sich aufnimmt, erfüllt sich das Leben beider Frauen mit neuem Glanz.

Lucy Dillon kommt aus Cumbria, einer Grafschaft im Nordwesten Englands. Sie studierte Englische Literatur in Cambridge und lebt heute mit ihren zwei Hunden, einem alten Range Rover und viel zu vielen Büchern in einem Dorf in der Nähe von Hereford.
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Prolog


Betty Dunlop hatte keine Angst vor dem Tod. Andererseits hat sie auch keine Angst vor der Luftwaffe, dem Kalten Krieg, der Gefahr eines nuklearen Winters, Salmonellen, Cholesterin oder einem ihrer unterschiedlich grässlichen Ehemänner gehabt.

Lorna Larkham war nicht so entspannt. Je näher sich der Tod an Bettys Bett im St-Agnes-Hospiz heranschlich, desto schneller schlug ihr das Herz in der Brust, und zwar so heftig, dass sie ihre Beine krampfhaft still halten musste, um nicht aufzuspringen und aus dem Zimmer zu rennen.

Die alte Reise-Uhr schien stehen geblieben zu sein. War es möglich, dass es erst sieben war? Lorna war um sechs gekommen, um die Schicht ihres Ehrenamts anzutreten. Die Stationsschwester hatte sie abgefangen, noch bevor sie ihre Jacke ausgezogen hatte, und Lorna darauf vorbereitet, dass Betty – die in der Woche zuvor dreiundneunzig geworden war, ihr Haar aber immer noch mit Lockenwicklern aufdrehte und mit Haarspray in Form brachte – in der Nacht immens abgebaut hatte.

»Uns war sofort klar, dass irgendetwas nicht stimmt, als sie nicht nach ihrem Kakao geklingelt hat.« Beim Anblick von Lornas panischer Miene hatte die Schwester ihr eine Hand auf den Arm gelegt. »Sie weilt noch unter uns. Lassen Sie einfach die Musik laufen und reden Sie weiter, auch wenn sie nicht antwortet. Lassen Sie Betty spüren, dass sie nicht allein ist. Ich bin am anderen Ende der Station, falls Sie mich brauchen.«

Jetzt ließ Lorna unauffällig ihr Strickzeug sinken, um Bettys schwere Augenlider zu betrachten. Stricken war auch Bettys Hobby gewesen; sie hatten darüber gesprochen, als Lorna zum ersten Mal gekommen war, um ihr ein Stündchen Gesellschaft zu leisten. Lorna brachte immer ihren Strickbeutel mit ins Hospiz. Sie hatte festgestellt, dass das rhythmische Klappern die Momente des Schweigens überbrückte, wenn die Patienten in einen Dämmerschlaf fielen. Für viele war das ein vertrauter Klang, eine Kindheitserinnerung an Mütter und Tanten, die stopften und strickten und munter plauderten. Während eine Reihe nach der anderen entstand, schien der Charakter der alten Damen ins Strickmuster einzufließen. Später stiegen dann unvermittelt Erinnerungen auf und ließen angesichts bestimmter Wollreste Junes wissende Augen oder Mabels Seidenblumen lebendig werden. Betty, das war jetzt schon klar, würde nicht mehr vom Perlmuster zu trennen sein: stark strukturiert und von einem grellen Grün, das Lorna mit dem sauberen Geruch von Pears-Seife verband. Sie wollte ihr Strickzeug gerade umdrehen, als eine kaum merkliche Bewegung ihren Blick auf sich zog.

Rudy, Bettys Dackel, hatte sich in seinem Körbchen geregt. Draußen war ein prächtiger weißer Mond hinter einer Wolke hervorgetreten. Unvermittelt fühlte sich der Raum kühler an, als hätte jemand das Fenster geöffnet.

Lornas Herz klopfte ihr bis zum Hals, lebendig, heiß und entschlossen. Die Musik – ein banales klassisches Stück, das eine der Pflegerinnen ausgewählt hatte – war verstummt, aber Betty atmete nicht aus.

Mit jedem Summen der elektrischen Wechseldruckmatratze schnürte sich Lornas Brustkorb stärker zusammen. War das der letzte Atemzug? Oder dieser? Sie blinzelte und hielt nach Indizien Ausschau, die sie eigentlich gar nicht wahrhaben wollte. Die Pflegerinnen hatten Lorna darauf vorbereitet, was es hieß, dem Ende eines Lebens beizuwohnen, aber bislang hatte sie es nie erlebt, nicht wirklich. Die Sekunden erstarrten im Raum, dann bewegten sich die Laken über Bettys eingefallenem Körper, und das Leben ging weiter. Vorerst.

Lorna stieß Luft aus, ein zittriges Echo von Bettys Atem, und berührte vorsichtig die fleckige Hand auf der Bettdecke. Sie spürte, wie sich die Haut unter ihrem Finger bewegte, weich und durchscheinend. Bis vor Kurzem hätte Lorna nicht geglaubt, dass der Tod Betty je ereilen würde. Sie hatte so leuchtende Augen und nahm an allem so regen Anteil, selbst im Hospiz noch. Letzte Woche hatten sie über das soeben verstrichene Weihnachtsfest geredet. Lorna hatte von den erstaunlich lustigen Abenden im Tierheim erzählt – eine ehrenamtliche Tätigkeit, die sie vor allem deshalb übernommen hatte, um der Familie von Jessicas Mann und deren erbittertem Konkurrenzkampf bei Wissensspielen zu entkommen –, und Betty hatte von der Feier mit ihren Kindern Peter, Susie und Rae berichtet. Ihr Gesicht hatte geleuchtet, als sie Raes wunderbaren Weihnachtskuchen und Peters schicken Wollmantel beschrieben hatte. Als sich Lorna bei der diensthabenden Pflegerin erkundigt hatte, wann die Kinder denn da gewesen seien, hatte Debra nur mit dem Kopf geschüttelt. Niemand war da gewesen. Vielleicht war das bereits ein Anzeichen dafür gewesen, dass Betty langsam entschwand, wie eine Sandburg, die allmählich von der Flut fortgespült wird.

»Wir sind hier, Betty«, sagte sie forscher, als sie sich fühlte. Es war erschütternd, mit anschauen zu müssen, wie sich Bettys Hülle und ihr inneres Wesen in einem unsichtbaren Prozess voneinander lösten. »Rudy und ich. Alles ist gut.«

Betty selbst hatte sicher keine Angst vor dem, was ihr bevorstand. Ihre Geschichten – und sie hatte Hunderte zu erzählen – strotzten nur so vor Sorglosigkeit und Mut: wie sie sich zitternd vor Kälte auf Dächern im West End die Nächte um die Ohren geschlagen hatte, um sich, kaum älter als Lornas Nichte, während der Luftangriffe der Deutschen an der Brandüberwachung zu beteiligen; wie sie einen Soldaten geheiratet hatte und nach Kanada gezogen war, um den Soldaten und seine Fäuste nur wenig später gegen einen italienischen Koch und Alkoholiker einzutauschen; wie sie irgendwann eine Bar übernommen und später Avon-Produkte verkauft hatte; wie sie mit vierundvierzig von einem smarten Anwalt namens Herb ein Überraschungsbaby bekommen hatte und nach seinem Tod mit seinem Geld nach Hendon zurückgezogen war. Betty war in ihrem Leben oft ins kalte Wasser gesprungen, stets mit einem riesigen Vertrauensvorschuss, und wie eine Katze immer wieder auf den Füßen gelandet.

Lorna sah, dass Betty ins Schattenreich ihrer Erinnerungen abgedriftet war, und hörte ihre rauchige Stimme in ihrem Kopf: »Angst ist gut, Schätzchen«, hatte sie lachend erklärt, als Lorna sie angesichts ihrer Geschichten fassungslos angeschaut hatte. »Sie zeigt einem die eigenen Grenzen auf.«

»Ich möchte meine Grenzen gar nicht kennen, vielen Dank«, hatte Lorna in all ihrer Feigheit erwidert.

»Warum denn nicht?« Bettys Augenbrauen waren wunderbar, so hochmütig wie die von Joan Crawford. »Ihre Grenzen liegen möglicherweise ganz woanders, als Sie denken.«

Lorna hatte sich schnell darauf verlegt, die CDs neben dem Bett durchzuschauen. Betty hatte ihren wunden Punkt getroffen. Tatsächlich wusste Lorna gar nichts über ihre Grenzen. Dabei gab es vieles, was sie gerne über sich wissen würde, Fragen, die sie niemals loswerden würde, weil niemand mehr da war, der sie beantworten könnte. Ihre Mum war fort, und ihr Dad war fort, und damit hatte sich die kleine Welt hinter Jessica und ihr geschlossen und sie beide allein zurückgelassen. Was für eine Person steckte in ihr? Was für Charakterzüge und Schwächen, die bereits in ihr angelegt waren, würden mit den Jahren zum Vorschein kommen – sollte sie denn, anders als ihre Eltern, das mittlere Alter überschreiten und vielleicht sogar eine hochbetagte Dame werden? Derartige Fragen und ein Gefühl der Leere, weil sie es nie erfahren würde, stiegen an solchen Abenden auf, wenn Bettys und ihre eigenen Erinnerungen in der Luft hingen und in der geteilten Stille verschmolzen.

Rudy drehte sich in seinem Korb um und legte den Kopf auf die Pfoten. Lorna wählte eine CD von Glenn Miller aus. Falls Bettys Zug heute Abend abfahren sollte, würde ihr ein bisschen Swing für ihre Reise zum nächsten Ort sicher gefallen. Lorna drückte auf den Startknopf, nahm ihr Strickzeug und wappnete sich für die letzte halbe Stunde. Nur noch dreißig Minuten. Es würde nicht während ihrer Schicht passieren, dazu war Betty zu nobel.

Sie strickte und lauschte, zwei Reihen, drei Reihen, vier. »Dieses Perlmuster werde ich nie richtig hinbekommen«, murmelte Lorna, damit Betty wusste, dass sie da war. »Ein richtiger Murks ist das.« Als Licht von draußen in den Raum fiel und über die Wände wanderte, sah sie auf und merkte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Bettys Nase und ihre Wangenknochen traten schärfer hervor, während ihr Atem schwerfällig geworden war. Unvermittelt hatte Lorna einen metallischen Geschmack im Mund. Sie äugte zu dem Klingelknopf für die Pflegerin hinüber, dann riss sie sich zusammen. Sie würde das schon schaffen.

Die alte Dame atmete tief und laut. Lorna fragte sich, ob sie in ihren Träumen jemanden sah, dem dieser Seufzer galt. Jemanden, der aus der Welt heulender Sirenen, geborstener Wände und bitteren Tees hervorgetreten war – in einer Jugend, in der die Angst alles überlebendig und gleichzeitig flüchtig erscheinen ließ, sodass man lächelnd die Hand ausstrecken und sofort zugreifen musste.

Auf »Little Brown Jug« folgte die »Moonlight Serenade«, Bettys Hochzeitslied. Ihre Hand auf der Bettdecke zuckte. Lorna beobachtete sie. Welcher ihrer Ehemänner würde ihr erscheinen? Für welchen würde sie sich entscheiden? Kam ihre Familie, ihre Mutter, ihr Vater, die viktorianische Großmutter? Der Gedanke hatte etwas Tröstliches. Selbst wenn man allein dalag, in einem sterilen Krankenhausbett zum Beispiel, war man von vertrauten Gesichtern umgeben, die liebevoll die Hand nach einem ausstreckten und einen gern wiedersehen würden. Die sich mehr nach einem sehnten als das Leben.

Ihr Inneres fühlte sich plötzlich hohl an, feucht und kühl wie eine Meeresgrotte.

Einen Moment lang legte sie ihr...


Dillon, Lucy
Lucy Dillon kommt aus Cumbria, einer Grafschaft im Nordwesten Englands. Sie studierte Englische Literatur in Cambridge und lebt heute mit ihren zwei Hunden, einem alten Range Rover und viel zu vielen Büchern in einem Dorf in der Nähe von Hereford.



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