E-Book, Deutsch, Band 1, 456 Seiten
Reihe: Dietrich Bonhoeffer Studien
Dietz Offenbarung und Glaube
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25956-3
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine heilsgeschichtlich-hamartiologische Untersuchung der Theologie Dietrich Bonhoeffers
E-Book, Deutsch, Band 1, 456 Seiten
Reihe: Dietrich Bonhoeffer Studien
ISBN: 978-3-641-25956-3
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Sündenlehre ist ein Angelpunkt der Theologie Dietrich Bonhoeffers. In seinem Werk findet sich praktisch keine theologische Schrift, in der die Sündenthematik nicht zur Sprache kommt oder zumindest konzeptionell von Bedeutung ist.
Das ist der irritierende Befund dieser Studie. Im Kontext einer Wirklichkeit, in der die klassische Sündenlehre in Theologie und Kirche eher Abwehr hervorruft, will man Dietrich Bonhoeffer nur ungern als Vertreter eben dieser Sündenlehre verstehen. Wovon spricht dieser also, wenn er von »Sünde« spricht? Unter dieser Fragestellung analysiert Dennis Dietz das Gesamtwerk Bonhoeffers. Er entfaltet, wie Bonhoeffer nach dem Umgang Gottes mit der Sünde fragt, und eine Sündenlehre vorlegt, die »Sünde« nicht allein beim Individuum verortet, sondern gerade auch in sozialen Kategorien fasst. Die ebenso überraschende wie aktuelle Wahrnehmung einer stets präsenten doch oft übersehenen Grundlinie im Denken Dietrich Bonhoeffers.
- Sündenlehre als Angelpunkt der Theologie Bonhoeffers
- Neue Entdeckung im theologischen Denken des großen Theologen
- Ausgezeichnet mit dem »Manfred Lautenschläger Award for Theological Promise«
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Gegenstand der vorliegenden Studie ist die Hamartiologie Dietrich Bonhoeffers. Untersucht man dessen Werk hinsichtlich der Rede von Sünde, steht man vor der Schwierigkeit, dass diese kaum explizit geführt wird. Die Sündenlehre behandelt Bonhoeffer zumeist parenthetisch oder als Nebenthema anderer Fragestellungen. Gleichzeitig findet sich praktisch keine theologische Arbeit Bonhoeffers, in der die Sündenthematik nicht zur Sprache kommt oder zumindest konzeptionell von Bedeutung ist. Der Sündenbegriff ist »der Ausgangspunkt und die unbedingte Voraussetzung aller theologischen Sätze und Aussagen Bonhoeffers«1 und fungiert »in allen Teilen von Bonhoeffers Theologie als Weichenstelle der Argumentation […].«2 Die Hamartiologie steht gleichzeitig im Hintergrund und im Zentrum der Dogmatik Bonhoeffers, weshalb ihre Analyse gleichermaßen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden und für das Verständnis seiner Theologie von Bedeutung ist.
Auf interessante Weise spiegelt diese verborgene Ubiquität der Sündenlehre in Bonhoeffers Schriften die Universalität und gleichzeitige phänomenologische Entzogenheit der Sünde als eines theologischen und existentiellen Themas wider. Der Sünder kann seine Sünde nicht selbst erkennen; der Zugang zu der Erkenntnis, dass »er ein Sünder ist, fehlt ihm gerade deshalb, weil er ein Sünder ist.«3 Die Sünde stellt vor das Problem, dass sie sich dem intellektuellen Zugriff entzieht oder sich anders zeigt, als sie ist.4 Die Sünde ist »überall und nirgends […], ortlos (?t?p??)«5, sie macht sich »unidentifizierbar«6, ist »latent« und »implizit«7. Sünde ist eine »Entzugserscheinung«8, konspirativ, korrumpierend und sie verschleiert sich in »komplexen Verhängniszusammenhängen«9. Zur traditionellen dogmatischen Bestimmung der Totalität der Sünde gehört, dass man ihr auch und gerade im theologischen Fragen nicht entkommt, sondern ganz in ihr verstrickt nach ihr fragt. Auch Bonhoeffer stellt wiederholt das epistemologische Problem und Defizit des Sünders, der aus gebrochener Perspektive Theologie treiben will, heraus und sieht angesichts dessen den besten Weg für eine Hamartiologie darin, gerade nicht nach der Sünde selbst, sondern nach dem Sünd zu fragen und dies zudem allein »vom Ende her«10, d.?h. von der Rechtfertigung aus der Gnade Gottes. Mit einer solchen Hermeneutik ist eine doppelte Weichenstellung vorgenommen: Vom Sünder kann damit nur als dem gesprochen werden. Zweitens ist damit in der Hamartiologie unbedingt eine heilsgeschichtliche Gesamtperspektive zu wahren. Für Bonhoeffer hebt dementsprechend die »Geschichte in eigentlichem Sinne […] erst mit der Sünde«11 an und es gehe darum, diesen geschichtlichen, »realen Gang der Dinge von der Einheit durch Bruch zur Einheit«12 konkret zu erfassen. Da ferner die Sünde die ganze »Naturform der Gemeinschaft […] im innersten Kern«13 korrumpiere und mit ihr der »ethische Atomismus in die Geschichte«14 eintrete, handle es sich bei diesem ›realen Gang der Dinge‹ um die Geschichte der gebrochenen und zu restituierenden Gemeinschaft von Gott, Mensch und Menschen.
Eine diesen Prämissen und Leitmotiven folgende Hamartiologie ›vom Ende her‹ kann sich dem (hyperbolischen?) Phänomen Sünde erklärtermaßen nur annähern, es aber nicht inhaltlich fixieren und klären.15 Solche Hamartiologie ist in gewisser Weise ein infinitesimaler Versuch und kann den Sündenbegriff – in jeder Hinsicht – nicht positiv inhaltlich formulieren. Bonhoeffer betreibt eine approximative Hamartiologie, die Erscheinungsformen, Wirkungsstrukturen, aber auch die Grenzen der Sünde offenlegen will. Wo er selten doch den ›Inhalt‹ der Sünde konkret zu benennen sucht, da bestimmt er diesen symptomatisch gerade als das schlechthin Inhaltslose, als existentielle Leerstelle: »Der Inhalt der Sünde … [sic] Gottlosigkeit.«16
Die Sünde als eine sich ins Inhaltslose entziehende Macht ist für den Menschen unidentifizierbar. Als solche bezeichnet sie Bonhoeffer früh (mit Luther) als »Offenbarungsgegebenheit«17 und erklärt, dass es zum Wesen dieser gehöre, »entweder geglaubt oder geleugnet zu werden.«18 Die Sünde lässt sich nicht wissen, nicht fixieren, sondern ist nur aus Offenbarung erkennbar. Wir müssen, so Bonhoeffer, die »Sünde «19. Gottes Offenbarung in Kreuz und Auferstehung macht die Sünde sichtbar, identifiziert sie und bricht gerade so ihre Macht. Dass Gott die Sünde zu erkennen gibt, wirkt eine Machtbeschränkung der Sünde, die uns befähigt und in Anspruch nimmt, uns »dem Wirken des Wortes Gottes anzuvertrauen – gegen Spott und Resignation von allen Seiten, gegen die eigene Angst und den eigenen Zweifel.«20 Gottes Offenbarung am Kreuz ermöglicht Sündenerkenntnis und -kenntnis und die Auferstehung Christi spricht das Evangelium ›gegen Angst und Zweifel‹. Hamartiologie ist die systematische Approximation dieses Offenbarungsgeschehens. Was sich indessen der Offenbarung entgegenstellt, ist gerade Sünde als Unglaube gegen das Evangelium.21 Auf die Sünde hat der Sünder keinen Zugriff. Gottes Offenbarung in Kreuz und Evangelium gibt den Menschen so viel von der Sünde zu erkennen, wie es braucht, um unter ihrer Macht nicht zu Grunde zu gehen und in unscheinbaren, gemeinsamen Schritten unter Gottes Führung aus ihr herauszutreten. Was dieser Offenbarung und Führung entgegenwirkt, ist kapitale Sünde.
Ziel der Untersuchung
Die vorliegende Studie fragt nach den Grundstrukturen und -konzepten der Sündenlehre Dietrich Bonhoeffers und sucht diese in einem werkgeschichtlichen Durchgang insgesamt zu ermitteln und vorzulegen. Damit soll die Hamartiologie als bisher schwach ausgeleuchteter Bereich der Bonhoeffer-Forschung weiter erschlossen und seine Sündenlehre als Theorie vorgestellt werden, die für die gegenwärtige hamartiologische Diskussion gewinnbringend und perspektivenreich sein kann.
Mit Blick auf den Begriff ›Sünde‹ ist ferner zu konstatieren, dass dieser in der jüngeren Vergangenheit mehreren Verunsicherungen ausgesetzt war. Infolge der Befreiungstheologie, aber auch durch Eindrücke aus Philosophie und Soziologie besteht eine größere Aufmerksamkeit für überindividuelle Schuldzusammenhänge, welche die klassischen Hamartiologien mindestens irritiert hat. Ebenso hatte der verstärkte Dialog von Theologie und Naturwissenschaften viele konstruktive Infragestellungen traditioneller Formen zur Folge. Die darüber entstandene Uneinigkeit theologischer Sündenbegriffe strahlte schließlich in den säkularen Diskurs aus und auch manche moralisierenden Engführungen im kirchlichen Sprachgebrauch haben dazu beigetragen, dass der Begriff ›Sünde‹ – wo er bewusst und mit Ernst zur Sprache kommt – heute oft Skepsis und Abwehr hervorruft.22 Neben dem Interesse der Bonhoeffer-Forschung und dem systematisch-theologischen Bedarf nach anschlussfähigen, subtilen Sündenbegriffen besteht also auch ein generelles, gesellschaftliches Desiderat. Auf besondere Bereiche menschlichen Zusammenlebens fehlt ohne eine adäquate Rede von Sünde der begriffliche Zugriff oder ist zumindest gravierend verstellt.
Es besteht damit auch über die akademische Theologie hinaus der Bedarf, theologisch angemessene und zeitgemäße Sündenverständnisse zu erschließen. Als ein solches will diese Arbeit die Hamartiologie Bonhoeffers rekonstruieren und vorlegen. Dieses Vorhaben ist von mehreren Thesen zu Bonhoeffers Rede von Sünde geleitet, die den Titel »Offenbarung und Glaube« auf unterschiedliche Weise hamartiologisch entfalten. Meine Thesen lauten:
(1) Das der Rettungstat Gottes ist für Bonhoeffer nicht die Vernichtung der Sünde im Vorletzten, sondern die Begrenzung ihrer Macht durch den Glauben als Wirken des Heiligen Geistes. Gott wirkt den Glauben im Menschen als »Organ, das er selbst nie erwerben kann«23 und Offenbarungserkenntnis ermöglicht. In der (asymmetrischen) Offenbarung der Sünde und des Evangeliums in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi sieht Bonhoeffer eine Machtbeschränkung der Sünde und damit eine Befreiung des Menschen erfolgen, die ihn befähigt und in Verantwortung stellt, im Glauben unter Gottes Führung selbst an der Vollendung der Welt mitzuwirken. Diese These expliziert den Titel ›Offenbarung und Glaube‹ als .
(2) Die Sünde ist Gegenstand des Glaubens an Gottes Offenbarung sowie Gegenstand der Offenbarung, die im Glauben erkennbar wird. Sünde ist eine Offenbarungsgegebenheit und kann nur als Gegenstand eines ›glaubenden Erkennens‹ erkannt werden.24 Die Offenbarung der Sünde vollzieht Gott am Kreuz – »where death and sin are«25 – indem er sich durch die Sünde der Welt ans Kreuz stellen lässt und offenbart. Das s???da??? des Kreuzes macht die Sünde sichtbar für das glaubende Erkennen. Diese Erkenntnis ›vergewissert‹ sich im Bekenntnis. Glaubende Sündenerkenntnis vollzieht sich als...