E-Book, Deutsch, Band 2.2, 428 Seiten
Dietz / Faix / Bils Transformative Ethik - Wege zur Liebe
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7615-7039-5
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Sexualethik zum Selberdenken
E-Book, Deutsch, Band 2.2, 428 Seiten
Reihe: Interdisziplinäre Studien zur Transformation
ISBN: 978-3-7615-7039-5
Verlag: Neukirchener
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Thorsten Dietz, geb. 1971, ist Professor für Systematische Theologie an der Ev. Hochschule Tabor und Privatdozent an der Universität Marburg.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
2/
Menschsein in Beziehungen
Klare sexualethische Regeln gelten als typisch christlich. Vor allem außerhalb der Kirche gelten sie auch als typisch aus der Zeit gefallen, als ein Relikt der Welt vor der Aufklärung, mit dem sich heute keine Orientierung mehr geben lässt. Für nicht wenige ist damit der Ansatz einer christlichen Ethik insgesamt gescheitert. Wir sind der Überzeugung, dass es nicht die Orientierung am Evangelium war, die problematische Konsequenzen hatte, sondern der Versuch, aus der Bibel zu jeder wichtigen Frage eindeutige Auskunft gewinnen zu wollen. Ein solcher Umgang mit der Bibel ist weder bibeltreu noch auch nur respektvoll. Der Anspruch, der Bibel gerecht zu werden, meint etwas anderes, als eigenen bzw. traditionellen Einschätzungen mit der Berufung auf die Bibel eine unangreifbare Autorität zu verleihen.
Wie aber lässt sich in diesen Umwandlungen so etwas wie ein ethischer Kompass gewinnen? Woran orientiert man sich christlich gesehen in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen?
2.1Gottebenbildlichkeit des Menschen als anthropologische Grundlage
2.1.1Bedeutung des Menschenbildes für die theologische Ethik
In der neueren Theologie ist es Konsens, dass ethische Orientierung nicht allein durch konkrete Regeln und Normen vermittelt werden kann. So unverzichtbar diese jeweils bleiben, ist es vor allem das Bild bzw. das Verständnis des Menschen aus christlich-biblischer Sicht, das entscheidend ist. Im Text Gott und die Würde des Menschen ist das Ergebnis der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands für ethische Fragen unterschiedlichster Art: Die »entscheidende Orientierung wird im biblischen Bild des Menschen gefunden.«1 Ähnlich stark wird die Bedeutung der Anthropologie in den jüngsten ethischen Studientexten der GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen Europas) und der katholischen Kirche herausgestellt.2
So haben auch wir im ersten Band unserer Ethik vielfach betont, dass die Orientierung an den Narrativen und Normen der biblischen Texte besonderes Augenmerk auf das dort entfaltete Gottes- und Menschenbild legt.3 Dabei konnten wir uns anschließen an einen sehr breiten Konsens über ein relationales Menschenbild4 in der heutigen Theologie sowohl in evangelischen als auch in katholischen Ausprägungen.
Im Zusammenhang mit diesem Narrativ machen wir deutlich, dass es in der Story stehende Bezugspunkte gibt: Zielbestimmung des Lebens, Orientierung am Handeln Gottes und das Verständnis des Menschen. Die Sicht des Menschen ist ein Kristallisationspunkt des Story-Konzepts. Der Mensch als Geschöpf, als Sünder:in, berufen, gerechtfertigt und geheiligt, zur Vollendung bestimmt – im Verständnis des Menschen lässt sich die Logik der ganzen Story verdichten. Umgekehrt gilt: Ohne narrative Entfaltung wäre die christliche Sicht des Menschen hoffnungslos abstrakt. Es ist der besondere Beitrag des Story-Konzepts, die Vielschichtigkeit eines jeden Verständnisses vom Menschen von Anfang an bewusst zu machen.
An dieser Stelle führen wir nun in diesem Band die Reflexion weiter. Auch das Verständnis von Sexualität und Geschlecht ist eine eminent anthropologische Herausforderung.
Der Begriff des »christlichen Menschenbildes« ist seit langem gängig und vermeintlich selbstverständlich. Dabei sollte man sich hüten vor allzu griffigen und robusten Idealvorstellungen eines christlichen Menschenbildes. Das Menschenbild der Bibel beschreiben zu wollen, wäre eine Illusion. Die biblischen Bücher bieten höchst unterschiedliche Beschreibungen des Menschen, die nicht immer bruchlos ineinandergreifen.
Um sich das nur an einem Beispiel vor Augen zu führen: In den biblischen Texten gibt es kein Gehirn. Alles, was uns heute an neurologischen Erkenntnissen zufließt, ist vollständig jenseits des biblischen Denkens. Das gilt auch für Aspekte wie das Wissen um neurologische, psychiatrische und psychopathologische Befunde, Phänomene von Neurodiversität über Suchterkrankung bis zu Persönlichkeitstypologien. Wenn man versuchen würde, aus den unterschiedlichen anthropologischen Aussagen der Bibel so etwas wie ein Menschenbild zu konstruieren – es wäre völlig aus der Zeit gefallen.
Insofern geht es in diesem Kapitel um grundsätzliche Linien, die mit zentralen Anliegen des biblischen Gotteszeugnisses verknüpft werden, und die bis heute anregend und inspirierend sind. Das gilt vor allem für anthropologische Merkmale der Hebräischen Bibel, die zu Recht in den letzten Jahrzehnten große Aufmerksamkeit gefunden haben.5
Wir orientieren uns dabei zunächst an biblischen Grundlinien zur Sicht des Menschen (2.1.2). Besondere Bedeutung für jede protestantische Theologie hat die Perspektive der reformatorischen Theologie Martin Luthers (2.1.3). Sie ist in mancher Hinsicht eine Wiederentdeckung wichtiger biblischer Anliegen und dies in einer Weise, die in der Moderne noch anschlussfähig ist. Gerade für die Themenstellungen in diesem Band ist schließlich die feministische Theologie ein grundsätzlicher Einschnitt der neueren Theologie (2.1.4). Denn sie bietet nicht nur zusätzliche Erkenntnisse aus einer feministischen Sicht, sie zeigt vor allem auch, wie stark die faktische Ausrichtung der Theologie auf die männliche Perspektive selbstverständlich gewesen ist – bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
2.1.2Würde und Auftrag des Menschen in der Bibel
Seit Jahren wird das Bild des Menschen im Alten Testament intensiv diskutiert. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Texte der sogenannten »Urgeschichte« im Buch Genesis. Diese Texte, vor allem die ersten drei Kapitel, sind in der Wirkungsgeschichte besonders intensiv berücksichtigt worden.
In Gen 1,27 begegnet uns die viel bedachte Wendung vom Menschen als dem Bild Gottes: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.« (Gen 1,27)
Wo die deutschen Bibelausgaben jeweils Bild übersetzen, werden im Hebräischen zwei Begriffe verwendet: zelem und demut. Die Versuche der Tradition, zwischen diesen beiden Worten einschneidende Differenzen finden zu wollen, sind zum Scheitern verurteilt. Wir müssen diesen Vers insgesamt im Kontext des Horizonts der damaligen Zeit verstehen.
Würde aller Menschen
Das Wort zelem bedeutet in der Regel Statue, Bild Gottes – das ist in der antiken Umwelt Israels der jeweilige König. Man spricht heute von einer übergreifenden Königsideologie des Alten Orients. Der Monarch galt als von Gott erwählte und mit Herrschaft versehene Person.
In der Antike insgesamt und auch in Israel gibt es grundlegende Unterschiede von Menschen. Der König (bzw. Pharao) hat eine Sonderrolle zwischen Gott und den Menschen. Die Existenz von Sklaven ist selbstverständlich und wird auch im AT vorausgesetzt. Schließlich ist die Unterscheidung zwischen dem eigenen Volk und den Fremden grundlegend. Daher ist die Formulierung von Gen 1,26–28 revolutionär. In dieser Beschreibung des Menschen als Bild Gottes findet eine Aufhebung aller sozialen Schichten statt. Bernd Janowski spricht von einer »Royalisierung«6 des Menschen. Wo alle Menschen Bild Gottes sind wie sonst in der historischen Umwelt der König, wird das Menschenbild gleichsam »demokratisiert«.7
Auftrag des Menschen
Jeder Mensch bzw. die Menschheit tritt in eine königliche Rolle ein. Die Menschen haben nun den Auftrag, der traditionell dem Herrscher gebührt: Sachwalter der Gottheit zu sein in der Übernahme von Verantwortung und Fürsorge für seine Umwelt. Die alttestamentliche Rede von der Gottebenbildlichkeit beschreibt »nicht ein gegebenes Wesen des Menschen, sondern zielt auf das, was zu werden er kraft göttlicher Bestimmung berufen ist«.8
Geschlechtliche Differenzierung von männlich und weiblich
Welche Bedeutung hat an dieser Stelle die Nennung der geschlechtlichen Differenz von männlich und weiblich?9 Wir werden auf diese Frage im nächsten Kapitel ausführlich zurückkommen, an dieser Stelle halten wir jedoch schon einmal folgende Beobachtungen fest: Der biblische Text nennt hier nicht die Substantive, sondern die Adjektive männlich und weiblich. Es sind die Worte, mit denen die geschlechtliche Differenzierung auch bei den mitgeschaffenen Tieren benannt wird. Es geht also um die biologische Differenzierung, die der Mensch mit allen Lebewesen teilt. Wenn dieser Text eine grundsätzliche Aufwertung des Menschen in eine königliche Rolle insgesamt betreibt, so muss man hinzufügen: Diese Aufwertung gilt ausdrücklich für alle Menschen, egal ob sie männlich oder weiblich sind.
Im Kontext von Gen 1 fällt auf, dass der Text vielfach mit solchen Gegenüberstellungen arbeitet: Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wasser und Erde. Stets geht es dabei nicht um die Behauptung einer binären Polarität, sondern um die Ganzheit der Schöpfung, es geht um alle Menschen. Die typischen Begriffe für alle Lebewesen machen deutlich: Ungeachtet aller sozialen Differenzen ist der Mensch von königlicher Würde.
Beziehungswesen Mensch
Gen 2 beschreibt den Menschen,...