E-Book, Deutsch, 140 Seiten
Didion Was ich meine
22001. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8437-2758-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Ein einzigartiges Werk, das einen immer wieder regelrecht sprachlos zurücklässt.« Daniel Schreiber
E-Book, Deutsch, 140 Seiten
ISBN: 978-3-8437-2758-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.
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Hübsche Nancy
Die hübsche Nancy Reagan, Ehefrau des Gouverneurs von Kalifornien, stand im Speisezimmer ihres gemieteten Hauses auf der 45. Straße in Sacramento und hörte einem Fernsehjournalisten zu, der ihr erklärte, was er vorhatte. Sie hörte aufmerksam zu. Nancy Reagan ist eine sehr aufmerksame Zuhörerin. Das Fernsehteam wolle sie dabei beobachten, sagte der Fernsehjournalist, wie sie genau das tue, was sie normalerweise an einem Dienstagvormittag zu Hause tue. Weil ich ebenfalls dort war, um sie dabei zu beobachten, wie sie genau das tat, was sie normalerweise an einem Dienstagvormittag zu Hause tat, waren wir im Begriff, bestimmte mediale Grenzen zu erkunden: Der Fernsehjournalist und die beiden Kameramänner konnten Nancy Reagan dabei beobachten, wie sie von mir beobachtet wurde, oder ich konnte Nancy Reagan dabei beobachten, wie sie von diesen dreien beobachtet wurde, oder einer der Kameramänner konnte einen Schritt zurücktreten und eine -Studie von uns anderen machen, wie wir einander beobachteten und beobachtet wurden. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass wir etwas Aufschlussreichem auf der Spur waren, der Wahrheit über Nancy Reagan in vierundzwanzig Bildwechseln pro Sekunde, aber der Fernsehjournalist entschied sich dafür, das Besondere an diesem Augenblick zu übersehen. Er schlug vor, dass wir Nancy Reagan dabei beobachteten, wie sie im Garten ein paar Blumen pflückte. »So etwas würden Sie doch normalerweise auch tun, oder?«, fragte er. »Das stimmt«, sagte Nancy Reagan mit Schwung. Nancy Reagan sagt fast alles mit Schwung, vielleicht weil sie einige Jahre lang Schauspielerin war und die Angewohnheit junger Schauspielerinnen hat, noch die beiläufigsten Sätze mit weitaus mehr dramatischer Emphase auszustatten, als es an einem Dienstagvormittag in der 45. Straße in Sacramento normalerweise erforderlich ist.
»Eigentlich«, fügte sie dann hinzu, mit dem Ausdruck von jemandem, der gleich eine erfreuliche Überraschung enthüllt, »eigentlich brauche ich Blumen.«
Sie lächelte jeden von uns an, und ich lächelte zurück. Wir hatten alle an diesem Morgen schon ziemlich viel gelächelt. »Und danach«, sagte der Fernsehjournalist bedächtig und musterte den Esstisch, »obwohl Sie schon ein wunderschönes Arrangement hier haben, könnten wir es so einrichten, dass es aussieht, als würden Sie sie arrangieren, Sie wissen schon, die Blumen.«
Wir lächelten einander erneut an, dann ging Nancy Reagan entschlossen in den Garten, ausgerüstet mit einem dekorativen Strohkorb von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser. »Äh, Mrs Reagan«, rief der Fernsehjournalist ihr hinterher. »Darf ich fragen, was für Blumen Sie auswählen werden?«
»Tja, ich weiß nicht«, sagte sie und blieb mit ihrem Korb auf einer Treppenstufe zum Garten stehen. Die Szene entfaltete ihre eigene Choreografie.
»Meinen Sie, Sie könnten Rhododendron brauchen?«
Nancy Reagan schaute kritisch zu einem Rhododendronbusch. Dann drehte sie sich zu dem Fernsehjournalisten um und lächelte. »Wussten Sie, dass es jetzt eine Nancy-Reagan-Rose gibt?«
»Äh, nein«, sagte er. »Das wusste ich nicht.«
»Sie ist furchtbar hübsch, sie ist, oh, irgendwie korallenrot.«
»Wäre die … Nancy-Reagan-Rose etwas, das Sie eventuell jetzt pflücken würden?«
Ein silbrig klingelndes Lachen. »Ganz bestimmt könnte ich sie pflücken. Aber ich sie nicht.« Eine Pause. »Was ich brauchen , ist Rhododendron.«
»Schön«, sagte der Fernsehjournalist. »Sehr schön. Jetzt werde ich eine Frage stellen, und wenn Sie einfach eine Knospe abknipsen könnten, während Sie antworten …«
»Eine Knospe abknipsen«, wiederholte Nancy Reagan und nahm ihren Platz vor dem Rhododendronbusch ein.
»Lasst uns einen Probelauf machen«, sagte ein Kameramann.
Der Fernsehjournalist schaute ihn an. »Mit anderen Worten, mit Probelauf meinst du, sie soll nur so tun, als würde sie eine Knospe abknipsen.«
»Nur so tun, ja«, sagte der Kameramann. »Nur so tun, als würde sie knipsen.«
Ich erzähle Ihnen das alles, weil ich immer, wenn ich jetzt an Nancy Reagan denke, genau so an sie denke, als Standbild, die hübsche Nancy Reagan, wie sie gleich eine Rhododendronblüte pflückt, die zu groß ist, um in ihren Fünfzehn-Zentimeter-Durchmesser-Korb zu passen. Nancy Reagan hat ein interessiertes Lächeln, das Lächeln einer guten Ehefrau, einer guten Mutter, einer guten Gastgeberin, das Lächeln von jemandem, der wohlhabend aufwuchs und ans Smith College ging und einen Vater hat, der ein angesehener Neurochirurg ist (der Eintrag über ihren Vater im Who’s Who von 1966–67 ist neun Zeilen länger als der über ihren Ehemann) und einen Ehemann, der der Inbegriff eines netten Kerls ist, ganz zu schweigen davon, dass er der Gouverneur von Kalifornien ist, das Lächeln einer Frau, die eine Art Tagtraum der Mittelschichtsamerikanerin auszuleben scheint, circa aus dem Jahre 1948. Das Set für diesen Tagtraum ist perfekt ausstaffiert, jedes Detail stimmt. Dort, in diesem gemieteten Haus in der 45. Straße, steht auf den weißen Streichholzbriefchen GOUVERNEURSSITZ, aber es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass dort NANCY UND BONNIE stünde, und auf dem Couchtisch im Wohnzimmer liegen die auf das porträtierte Leben abgestimmten Magazine: Es gibt zwei Hunde namens Lady und Fuzzy, und es gibt zwei Kinder namens Pattie und Ronnie. Pattie, fünfzehn, gilt als künstlerisch begabt und geht auf ein Internat in Arizona. Ronnie, zehn, der als normaler Junge bezeichnet wird, besucht eine Privatschule in Sacramento. Er wird auch »der Skipper« genannt. Jeder am Set lächelt, die Privatsekretärin, der Leibwächter, der Koch, die Gärtner. Und draußen im Garten lächelt Nancy Reagan, im Begriff, die Rhododendronblüte zu pflücken. »Oh, nein, nein, «, sagt sie zum Fernsehjournalisten, der offenbar eine Frage gestellt hat. »Was unsere Freunde betrifft, ist nichts anders als vorher, warum, sonst wären sie keine Freunde. Freunde sind eben … «
Später am selben Tag. Nancy Reagan hat die Rhododendronblüten mehrmals gepflückt und arrangiert, und das Fernsehteam ist gegangen. Nancy Reagan hat mir den Hobbyraum gezeigt, wo der Gouverneur, der Skipper und einige der Abgeordneten gern mit einer elektrischen Eisenbahn spielen. Sie hat mir die Originalzeichnungen einiger -Comics gezeigt, die Charles Schulz dem Gouverneur geschenkt hat, nachdem der Gouverneur einen Glück-ist-Charles-Schulz-als-EinwohnerKaliforniens-zu-haben-Tag ausrief. Sie hat mir ein Foto des Gouverneurs beim Springreiten gezeigt. (»Sein Pferd Nancy D.«, sinnierte sie, »starb an dem Tag, als wir nach Sacramento kamen.«) Sie hat mir gesagt, dass der Gouverneur nie Make-up trägt, nicht einmal im Film, und dass die Politik härter ist als das Filmgeschäft, weil es kein Studio gibt, dass dich beschützt. Wir sind nach Downtown gefahren, und sie hat mir gezeigt, wie sie die alten ledergepolsterten Wände im California State Capitol (»dunkel, furchtbar, schäbig«) durch beigefarbene Leinentapeten ersetzt und die Böden mit Teppichen in gefälligen Grünschattierungen ausgelegt hat. »Einen hübschen Arbeitsplatz zu haben, ist wichtig für einen Mann«, hat sie mir erklärt. Sie hat mir das Apothekerglas voller Bonbons auf dem Schreibtisch des Gouverneurs gezeigt, das immer gefüllt sein muss. Sie hat mir gezeigt, wie sie die Pfadfinderinnen begrüßt, wenn sie ihnen in den Korridoren des Kapitols begegnet.
Sie hat mir all diese Dinge gezeigt, und nun sind wir zurück im Wohnzimmer des gemieteten Hauses in der 45. Straße und warten darauf, dass der Skipper von der Schule nach Hause kommt. Die Ankunft des Skippers, wurde mir gesagt, ist der Höhepunkt eines Tages von Nancy Reagan.
Der Skipper wird um 15 Uhr 20 erwartet. Er besucht eine Privatschule und wird in einer Fahrgemeinschaft nach Hause gebracht. An diesem Tag hat Ronald Azavedo Fahrdienst, ein Autobahnpolizist, der den Reagans zugewiesen wurde. Wir warten noch etwas länger, hören das Auto aber nicht vorfahren. Nancy Reagan geht zur Treppe und lauscht einen Augenblick. »Ich vermute, er ist die Hintertreppe hochgeschlichen«, sagt sie. »Ronnie? Ronnie?«
Ronnie scheint nicht vorzuhaben, in Erscheinung zu treten. »Tschüss«, sagt er von irgendwoher.
»Komm rein, Ronnie, nur für eine Minute.«
»Tach«, sagt er, als er im Türrahmen auftaucht.
»Was macht Chucks Erkältung?«, fragt Nancy Reagan.
»Chuck ist nicht erkältet.«
»Chuck ist nicht erkältet?«
»Nein. Bruce hat eine Zahnspange.«
»Bruce hat eine Zahnspange«, wiederholt Nancy Reagan.
»Tschüss«, sagt der Skipper.
»Tschüss«, sage ich.
Nancy Reagan lächelt mich strahlend...