E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Didion Sentimentale Reisen
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1438-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1438-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.
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Nach Henry
Im Sommer 1966 lebte ich in einem geborgten Haus in Brentwood und hatte gerade ein Baby bekommen. Drei Jahre vorher hatte ich mein bisher einziges Buch veröffentlicht. Mein Mann schrieb gerade sein erstes. In unserem Haushaltsbuch für jene Monate findet sich für den April keinerlei Einkommen, für den Mai 305,06 Dollar, für den Juni wieder keines, für den Juli 5,29 Dollar, Dividende des einzigen Vermögens, das wir hatten, fünfzig Transamerica-Aktien, die mir meine Großmutter hinterlassen hatte. In diesem Haushaltsbuch finden sich Wäschereilisten und Termine bei Kinderärzten. Es finden sich sechzig Geschenke zur Taufe und sechzig Karten zum Dank, der Schlussverkauf bei Saks und ein Versuch, eine Vorauszahlung von fünfzehn Dollar bei Southern Counties Gas wieder einzutreiben, aber es findet sich nicht das Datum im Juni, an dem wir Henry Robbins kennenlernten.
Heute erscheint mir das als ein eigenartiges, quälendes Versäumnis, ein Versäumnis, das auf den speziellen Bewusstseinsriss schließen lässt, den Neugeborene und geborgte Häuser im Gemüt von Menschen erzeugen können, die sich so recht und schlecht durchs Leben schlagen. Bis zu jenem Abend im Juni 1966 war Henry Robbins ein Abstraktum für uns, noch so ein Lektor aus New York, ein Fremder von Farrar, Straus & Giroux, der angerufen oder geschrieben und gesagt hatte, er komme nach Kalifornien, um ein paar Autoren zu treffen. Ich hatte in jenem Sommer eine so schlechte Meinung von mir als Schriftstellerin, dass ich mich irgendwie schämte, mit noch einem Lektor essen zu gehen, mich wieder einmal hinzusetzen und über die »Arbeit« zu diskutieren, die ich nicht tat. Doch am Ende ging ich hin: Am Ende zog ich ein schwarzes Seidenkleid an und ging mit meinem Mann ins Bistro in Beverly Hills, lernte Henry Robbins kennen und begann auf der Stelle zu lachen. Wir lachten bis zwei Uhr morgens, als wir schon längst nicht mehr im Bistro, sondern im Daisy waren und immer wieder »In the Midnight Hour« und »Softly as I Leave You« hörten und dazu unsere lustigen, hinreißenden, bezaubernden Stimmen, Stimmen, die verlorengegangene Wäschestücke, Babysitter und die Aussicht auf 5,29 Dollar vergessen ließen, Stimmen voller Verheißung, Schriftstellerstimmen.
Kurzum, wir betranken uns zusammen, und ehe der Sommer vorüber war, hatte Henry Robbins mit uns beiden Verträge unterzeichnet, und von jenem Sommer 1966 bis zum Sommer 1979 vergingen nur sehr wenige Wochen, ohne dass einer von uns beiden mit Henry Robbins über etwas sprach, was uns amüsierte, interessierte oder beunruhigte, über unsere Hoffnungen und unsere Zweifel, über Arbeit, Liebe, Geld und Klatsch, über gute und schlechte Neuigkeiten. An jenem Morgen im Juli 1979, als wir aus New York die Nachricht erhielten, Henry Robbins sei vor ein paar Stunden auf dem Weg zur Arbeit gestorben, sei mit 51 Jahren im U-Bahnhof 14. Straße tot umgefallen, gab es nur einen einzigen Menschen, mit dem ich darüber reden wollte, und dieser Mensch war Henry.
»Die Kindheit ist das Königreich, in dem niemand stirbt«, lautet eine Zeile in einem Gedicht von Edna St. Vincent Millay, die mir im Gedächtnis haftengeblieben ist, seit ich sie zum ersten Mal las, als ich tatsächlich noch ein Kind war und niemand starb. Natürlich starben Menschen, aber sie waren entweder sehr alt oder starben einen ungewöhnlichen Tod, starben beim Floßfahren auf dem Stanislaus oder beim Laden einer Schrotflinte oder wenn sie betrunken mit 150 über den Freeway fuhren: Der Tod wurde entweder als »Segen« oder als außergewöhnlicher Fall hingestellt, als dramatischer Wendepunkt in der Geschichte eines Menschen (nie der eigenen). Krankheit erledigte sich von selbst in jenem Königreich, in dem ich und die meisten Leute, die ich kannte, noch lange über die Kindheit hinaus verweilten. Ein unerklärliches Fieber verschaffte einem bloß den Genuss einer Woche im Bett. Brustschmerzen offenbarten sich, nachdem sie untersucht worden waren, als Hypochondrie.
Mit der Zeit bemerkten viele von uns, dass unsere guten Erfahrungen bei weitem nicht für alle galten, dass wir bis dahin gesegnet, gefeit oder schlicht begünstigt gewesen waren, Spieler mit einer Glückssträhne, doch da waren wir voll ausgelastet: gefangen in Tagen, die zu erfüllt schienen, zu abwechslungsreich, zu gedrängt voll mit Freunden, Aufgaben und Kindern, Abendgesellschaften und Abgabeterminen, Verpflichtungen und noch mehr Verpflichtungen. »Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn alle, die man kennt, weg sind«, sagte ein alter Mensch, den ich kannte, zu mir, und ich nickte, ohne zu verstehen, doch, kann ich, kann ich mir vorstellen, dachte sogar – Gott verzeih mir –, dass es einen gewissen Frieden geben müsse, wenn man alle Anforderungen und Ansprüche überlebte, wenn man niemanden kannte, sich ungebunden treiben ließ. Ich glaubte, die Tage würden in alle Ewigkeit zu erfüllt sein, zu gedrängt voll mit Freunden, die zu sehen man keine Zeit hatte. Ich glaubte, wenn ich über die Zukunft nachdachte, wir würden alle noch die Beerdigung der anderen mitbekommen. Aber ich irrte mich. Ich hatte es mir nicht vorstellen können, ich hatte es nicht verstanden. So würde es gehen: Ich würde Henrys Beerdigung mitbekommen, aber er nicht meine.
Die Beerdigung war keine richtige Beerdigung, sondern eine Gedenkstunde der üblichen Art, eine Gelegenheit für uns alle, uns an einem tropischen New Yorker Augustmorgen im Vortragssaal der Gesellschaft für Ethische Kultur Ecke 64. Straße und Central Park West zu treffen. Wenn man mit Sprache arbeitet, ist es eine Binsenweisheit, dass von anderen Leuten geprägte Sätze sich ständig über die eigene Erfahrung legen, und dieser Morgen in New York machte da keine Ausnahme. »Bleibe bei mir: Geh nicht fort« war eine Zeile, die ich die ganze Gedenkfeier über unausgesprochen hörte; mein Mann sprach und ein halbes Dutzend anderer Schriftsteller und Verleger, die Henry Robbins nahegestanden hatten – Wilfrid Sheed, Donald Barthelme, John Irving, Doris Grumbach, Robert Giroux von Farrar, Straus & Giroux, John Macrae von Dutton –, doch der Unterton, den ich dabei hörte, war ein Fragment eines Gedichts von Delmore Schwartz, vor dreizehn Jahren gestorben, Opfer eines anderen New Yorker Sommers.
Bleibe bei mir: Geh nicht fort, und dann:
Wir drosseln das Tempo, ehe wir alt werden,
Gehen zusammen auf der entschwindenden Straße,
Wie Chaplin und seine Waisenschwester.
Fünf Jahre vorher hatte Henry den Verlag Farrar, Straus verlassen und war zu Simon & Schuster gegangen, und ich war mitgegangen. Zwei Jahre danach hatte er Simon & Schuster verlassen und war zu Dutton gegangen. Diesmal war ich nicht mitgegangen, war geblieben, wo ich einen Vertrag hatte, und blieb doch Henrys Waisenschwester, Henrys Autorin. Ich erinnere mich, dass er sich von Zeit zu Zeit Sorgen machte, ob wir auch genug Geld hatten, und dass er sich manchmal, mit Mühe, zu der Frage durchrang, ob wir welches brauchten. Ich erinnere mich, dass er den Titel Spiel dein Spiel nicht mochte, und ich erinnere mich, dass ich ihn aus einem Hotelzimmer in Chicago am Telefon beschimpfte, weil True Confessions, der Roman meines Mannes, noch nicht bei Kroch & Brentano im Fenster war, und ich erinnere mich an einen Halloween-Abend 1970 in New York, an dem unsere Kinder in dem Haus in der 86. Straße, wo Henry, seine Frau und ihre beiden Kinder damals wohnten, zusammen singen gingen. Ich erinnere mich, dass seine Wohnung in der 86. Straße weiße Vorhänge hatte und dass wir an einem heißen Sommerabend alle dort saßen, Hühnchen in Estragonaspik aßen und zusahen, wie sich die Vorhänge in der Brise vom Fluss hoben und senkten, und unsere Welt erschien uns ziemlich verheißungsvoll.
Ich erinnere mich, dass ich mich mit Henry über den Gebrauch der zweiten Person im zweiten Satz von Wie die Vögel unter dem Himmel stritt. Ich erinnere mich, dass er tief verletzt und empört war, wenn jemand von uns, jemand von seinen Waisenschwestern oder -brüdern, eine schlechte Kritik oder ein böses Wort oder auch nur einen Brief bekam, von dem er sich vorstellte, er könnte selbst unseren flüchtigsten Augenblick beeinträchtigen. Ich erinnere mich, dass er nach Kalifornien geflogen kam, weil ich wollte, dass er die ersten hundertzehn Seiten von Wie die Vögel unter dem Himmel las, und sie nicht nach New York schicken wollte. Ich erinnere mich, dass er eines Abends 1975, als ich ihn brauchte, in Berkeley auftauchte; ich sollte an dem Abend einen Vortrag halten, und die Veranstaltung war für mich dadurch belastet, dass ich den Vortrag vor Mitgliedern des Englischen Seminars halten sollte, die einst mir Vorträge gehalten hatten. Bis Henry kam, war ich wie von Sinnen vor Angst, der opferbereite Star meines eigenen Entblößungstraums. Ich erinnere mich, dass er zuerst in den Fakultätsklub kam, wo ich übernachtete, und mich dann über den Campus zum Raum 2000 LSB begleitete, wo ich sprechen sollte. Ich erinnere mich, dass er mir sagte, alles würde gutgehen. Ich erinnere mich, dass ich ihm glaubte.
Ich glaubte immer, was Henry mir sagte, außer bei zwei Dingen, dem Titel Spiel dein Spiel und dem Gebrauch der zweiten Person im zweiten Satz von Wie die Vögel unter dem Himmel. Ich glaubte ihm sogar noch, als Zeit, Persönlichkeitsentwicklung und die Schwierigkeit, sich den Lebensunterhalt mit dem Verlegen oder Schreiben...