E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Didion Das Letzte, was er wollte
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2167-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2167-7
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joan Didion, geboren 1934 in Sacramento, Kalifornien, arbeitete als Journalistin für verschiedene amerikanische Zeitungen und war Mitherausgeberin der Vogue. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen der amerikanischen Literatur, die mit ihren fünf Romanen und zahlreichen Essaybänden das intellektuelle Leben der USA im 20. Jahrhundert entscheidend prägte. Joan Didion starb im Dezember 2021 in New York.
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5
Sie hatte nicht vorgehabt, aus dem Wahlkampf auszusteigen. Sie war morgens in Newark noch auf den letzten Drücker in die Maschine gekommen, und dann hatte sie, abgesehen von der Cola beim Auftanken in Kansas City, achtundzwanzig Stunden lang nichts zu sich genommen, doch sie hatte nicht einen Moment lang ans Aussteigen gedacht, weder im Flugzeug noch auf der Kundgebung in South Central, noch beim großen Händeschütteln am Maravilla-Projekt, nicht einmal, als sie, in Beverly Hills auf dem Bürgersteig hockend, auf den Pressespiegel über die VIP-Benefizveranstaltung wartete (die VIP-Benefizveranstaltung, deren Gäste, wie sich herausstellte, größtenteils Leute waren, die sie in ihrem früheren Leben als Elena Janklow gekannt hatte, die VIP-Benefizveranstaltung, bei der sie, wäre ihr früheres Leben als Elena Janklow normal verlaufen, unter dem Regal-Rents-Partyzelt gestanden, dem Kandidaten zugehört und sich dabei ausgerechnet hätte, wie lange es noch dauern würde, bevor sie Gute Nacht sagen und heimfahren konnte zu dem Haus am Pacific Coast Highway, um sich dort auf die Veranda zu setzen und eine Zigarette zu rauchen) – nicht einmal da war sie auf den Gedanken gekommen:
Sie hatte den ganzen Tag wie üblich funktioniert.
Sie hatte sich zweimal mit einem Bericht gemeldet.
Sie hatte sich zuerst von der Evergreen-Zentrale in Kansas City aus gemeldet und dann, während der toten Zeit im Holiday Inn in Torrance, mit dem Update. Sie hatte drei Anfragen vom Büro erhalten und beantwortet, alle drei dazu, warum sie beschlossen habe, sich nicht mit der Tickermeldung über eine vertrauliche Meinungsumfrage zu befassen, die auf kurzfristige Verschiebungen in der Wählergunst hindeutete. . Die Stunde, die sie, auf dem Bürgersteig hockend, auf den Pressespiegel über die VIP-Benefizveranstaltung gewartet hatte, war nicht ungenutzt verstrichen: Sie hatte in der Zeit einen Entwurf für die Sonntagsanalyse verfasst.
Sie hatte die verführerische Vertrautheit der VIP-Benefizveranstaltung ausgeklammert.
Den Duft von Jasmin.
Den kleinen blauen See aus Jakarandablüten auf dem Bürgersteig, wo sie hockte.
Das Gefühl, dass unter dem Zeltdach nichts Schlimmes passieren würde, und die logische Folgerung, dass unter dem Zeltdach überhaupt nichts passieren würde.
Das dort war ihr altes Leben gewesen, und das hier war ihr neues Leben, und sie musste unbedingt dranbleiben.
Sie war drangeblieben.
Sie hatte Schritt gehalten.
Später sollte es ihr so vorkommen, als wäre nichts an diesem Tag ausgesprochen schiefgelaufen, aber eben auch nichts ausgesprochen gut. So hatte etwa in Newark ihr Name auf der Passagierliste gefehlt. Beim Secret Service hatte es einen Personalwechsel gegeben, und ihre Presseausweise waren im Gepäck gewesen, und der diensthabende Agent hatte sie nicht in die Maschine lassen wollen. Wo ist der Hund, hatte der Agent mehrmals zu niemandem direkt gesagt. Die Flughafenbehörde wollte doch einen Hund stellen, wo ist der Hund.
Es war erst sieben Uhr morgens und schon heiß gewesen, und sie hatten auf dem Rollfeld gestanden, zwischen Gepäck und Kameraausrüstungen. Ich habe gestern Abend mit Chicago gesprochen, hatte sie gesagt und dabei versucht, den Agenten dazu zu bringen, dass er sie ansah, während sie ihre Taschen durchwühlte, um diese Presseausweise zu finden. Und das stimmte. Sie hatte gestern Abend mit Chicago gesprochen, und sie hatte gestern Abend auch mit Catherine gesprochen. Nicht gesprochen hatte sie gestern Abend allerdings mit ihrem Vater. Ihr Vater hatte zweimal eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter in Georgetown hinterlassen, aber sie hatte nicht zurückgerufen. Hey, hatte ihr Vater bei seinem ersten Anruf gesagt. Dann kam das Atmen, das Klicken. Sie ortete etwas Glattes, Hartes in ihrer Tasche und dachte schon, es wären die Presseausweise, aber es war nur ein Röhrchen Aspirin.
, hatte Catherine gesagt.
, hatte ihr Vater bei seinem zweiten Anruf auf ihren Anrufbeantworter gesprochen.
Aber ich habe das Okay von Chicago für diesen Flug, hatte sie dem Agenten gesagt.
Wir haben keinen Hund, es dauert bestimmt den ganzen Tag, den Scheiß hier abzusuchen, hatte der Agent gesagt. Er schien diese Worte an einen Tontechniker zu richten, der auf dem Rollfeld hockte und seine Ausrüstung durchwühlte.
Sie hatte den Agenten am Ärmel berührt, um ihn endlich dazu zu bringen, dass er sie ansah. Wenn das mal eben jemand mit Chicago abklären würde, hatte sie gesagt.
Der Agent hatte seinen Arm abrupt weggezogen, sie aber immer noch nicht angesehen.
Wer ist sie, hatte er gesagt. Sie steht nicht auf der Liste für die Pressemaschine, was macht sie hier.
Der Tonmann hatte nicht hochgesehen.
Sagen Sie ihm, dass Sie mich kennen, hatte sie zu dem Tonmann gesagt. Sie kam nicht darauf, zu wem er gehörte, aber sie wusste, dass sie ihn schon in der Maschine gesehen hatte. Ihr fortgeschrittenes Alter, wie sie es im Verlauf dieses Wahlkampfes zu nennen sich angewöhnt hatte (da ihr diesbezüglich nie jemand widersprach, war daraus mittlerweile eine peinliche Reflexhandlung geworden, ein Tick, der sie erröten ließ, sobald sie diese Worte aussprach), machte die Bitte um Hilfe auf unklare Weise zu etwas Demütigendem, aber das war jetzt nicht wichtig. Wichtig war jetzt, in die Maschine zu kommen. Wenn sie nicht in die Maschine kam, würde der Wahlkampf ohne sie weiterlaufen. Der Wahlkampf war in vollem Gang, der Wahlkampf hatte einen Zeitplan. Dieser Zeitplan würde sie automatisch durch den Sommer führen, den Juli, August, bis in die eisig kalten Kuppeln mit dem herabfallenden Konfetti und den hochfliegenden Luftballons.
Um das Problem mit Catherine würde sie sich später kümmern.
Mit Catherine war sie immer klargekommen.
Ihren Vater würde sie später anrufen.
Sagen Sie ihm, dass Sie mich kennen, wiederholte sie, an den Rücken des Tonmannes gewandt.
Der Tontechniker holte ein Multikabel aus seiner Tasche, richtete sich auf und sah sie blinzelnd an. Dann zuckte er die Achseln und ging.
Ich bin die ganze Zeit in dieser Maschine, ich bin seit New Hampshire in dieser Maschine, sagte sie zu dem Agenten und verbesserte sich dann: Ich bin die ganze Zeit mit dieser Maschine unterwegs gewesen. Sie konnte den flehenden Ton in ihrer Stimme hören. Jetzt fiel es ihr ein: Der Tonmann war von ABC. Während der Vorwahlen in Illinois hatte sie am Rand einer Satellitenanlage gestanden und war von ihm umgeschubst worden, als er versuchte, sich möglichst weit vorzudrängeln.
Reg dich ab, Alte, ich muss arbeiten, hatte er gesagt, als sie protestierte.
Sie sah ihn die Treppe hochlaufen, immer zwei Stufen auf einmal, und in der DC-9 verschwinden. Die Prellung, die er ihr beigebracht hatte, war nach zwei Monaten immer noch ein blauer Fleck. Sie spürte, wie ihr der Schweiß unter der Gabardinejacke herablief; wenn er auf dem Weg zur Treppe an ihr vorbeigekommen wäre, dann hätte sie ihm bestimmt ein Bein gestellt. Sie hatte die Gabardinejacke angezogen, weil es in Kalifornien immer kühl war. Wenn sie die Presseausweise nicht fand, würde sie gar nicht erst nach Kalifornien kommen. Der Tonmann von ABC würde nach Kalifornien kommen, aber sie nicht. Reg dich ab, Alte, ich muss arbeiten. Sie begann, ihren Koffer auf dem Rollfeld auszupacken, legte zuerst ihre Tonbänder und Notizbücher heraus, dann eine ungeöffnete Packung Strumpfhosen, Beweise ihrer Seriosität, Geiseln ihrer festen Überzeugung, dass die Presseausweise tatsächlich existierten.
Ich konnte nur diese Woche nicht mit in der Maschine sein, sagte sie zu dem Agenten. Und Sie sind ganz neu dabei. Deshalb kennen Sie mich nicht.
Der Agent zog sein Jackett gerade, sodass sie sein Schulterholster sehen konnte.
Sie nahm einen neuen Anlauf: Ich hatte eine private Angelegenheit zu regeln, deshalb konnte ich diese Woche nicht mit in der Maschine sein, sonst würden Sie mich kennen.
Auch das war demütigend.
Warum sie diese Woche nicht mit in der Maschine gewesen war, ging den Agenten nichts an.
Ich hatte einen familiären Notfall, hörte sie sich hinzufügen.
Der Agent drehte ihr den Rücken zu.
Moment noch, rief sie. Sie hatte die Presseausweise in der Seitentasche ihres Kulturbeutels gefunden und rappelte sich hoch, um den Agenten einzuholen, ließ die Tonbänder, Notizbücher und Strumpfhosen offen auf dem Rollfeld liegen, um ihm die Metallkette mit den hell glänzenden rechteckigen Plastikscheiben zu reichen. Der Agent prüfte die Presseausweise und warf sie ihr dann zu; sein Blick war leer. Als sie schließlich in die Maschine gelassen wurde, hatten die Kameracrews die frischen Lunchpakete bereits unter sich aufgeteilt (es gebe nur noch das Roastbeefsandwich von gestern...