E-Book, Deutsch, 672 Seiten
ISBN: 978-3-641-28387-2
Verlag: Anaconda Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Infos & Material
DIE SYLVESTERGLOCKEN
Eine Geistergeschichte über Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten
Erstes Viertel
Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, dass Geschichtenerzähler und Geschichtenleser möglichst bald zu einem wechselseitigen Verständnis gelangen, so bitte ich, darauf zu achten, dass ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern auf alle ausdehne: kleine und große, junge und alte, solche, die erst noch größer werden oder bereits wieder kleiner – ich sage also, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schlafen würden. Ich meine nicht während der Predigt bei warmem Wetter, was ja hin und wieder vorgekommen ist, sondern in der Nacht und allein. Ich weiß, sehr viele Menschen erschreckt ein solcher Zustand sehr heftig schon am helllichten Tag, ich aber habe die Nacht im Auge. Bei Nacht muss dieser Fall erwiesen werden. Und ich bin bereit, ihn in jeder stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck erkoren wird, erfolgreich zu verteidigen, und man mag mir aus der Menge irgendeinen Gegner auswählen, der mit mir auf einem alten Kirchhof allein vor einer alten Kirchtür zusammentreffen und mich im Voraus ermächtigen soll, ihn bis zum Morgen einzusperren, falls das seiner Genugtuung dient. Denn der Nachtwind hat die düstere Angewohnheit, ein solches Gebäude stöhnend zu umwandeln, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er eindringen kann. Hat er sich endlich Zutritt verschafft, so winselt und heult er, um wieder hinauszustürmen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht, was immer es war, wobei er sich nicht damit begnügt, durch die Gänge zu huschen, um die Säulen zu streichen und die tiefe Orgel zu verführen, sondern sich zum Dach emporschwingt und das Gebälk zu zerbrechen strebt. Dann wirft er sich verzweifelnd auf die Steine am Boden und dringt murrend in die Grüfte ein. Alsbald kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden entlang und scheint in Flüstertönen die Inschriften zu lesen, die den Toten geweiht sind. An einigen schreit er schrill auf, wie im Gelächter, an andern ächzt und schluchzt er wie in Trauer. Einen vollends gespenstischen Ton schlägt er beim Altar an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord und Götzenanbetung in Auflehnung gegen die Gesetzestafeln, die so schön und glatt erscheinen und dennoch rissig und verletzt sind. Hu! Der Himmel bewahre uns, die wir behaglich ums Feuer sitzen! Er hat eine schreckliche Stimme, dieser Wind um Mitternacht, der in einer Kirche singt! Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die grausigen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei ein- und ausziehen können durch so manche luftige Bögen und Schlitze, wo sie sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umwirbeln und selbst das Gemäuer zum Beben und Erzittern bringen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, und eiserne Geländer vom Rost zerfressen, und die vom Wechsel des Wetters geschrumpften Blei- und Kupferplatten unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen, wo Vögel ihre kümmerlichen Nester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, wo der Staub alt und grau wird, wo fleckige Spinnen, von langer Ungestörtheit faul und fett, müßig im Geläut der Glocken hin und her pendeln, ohne je aus ihren luftigen Fadenschlössern zu fallen, oder matrosengleich in höchster Besorgnis hinaufklettern oder sich zu Boden fallen lassen, um ein Häuflein eilig krabbelnder Beine zur Rettung ihres Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt und weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, dort ist der wilde und traurige Ort bei Nacht, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hängen die Glocken, von denen ich spreche. Es waren alte Glocken, glaubt es mir. Sie wurden vor Jahrhunderten von Bischöfen getauft – vor so vielen Jahrhunderten, dass ihr Taufregister in unvordenklichen Zeiten verlorenging und ihre Namen niemand mehr kennt. Sie haben ihre Paten und ihre Patinnen gehabt, diese Glocken (übrigens, ich für mein Teil möchte die Verantwortung eines Paten lieber für eine Glocke als für einen Knaben übernehmen), und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Doch die Zeit hat die Gönner niedergemäht, und Heinrich VIII. ließ ihre Becher einschmelzen – sodass sie jetzt namen- und becherlos im Kirchturm hingen. Aber nicht sprachlos: weit gefehlt. Sie hatten klare, laute, lebhafte, volltönende Stimmen, die der Wind weit übers Land trug. Doch waren die Glocken viel zu hartnäckig, um sich von der Willkür des Windes abhängig zu machen, und kämpften ritterlich gegen ihn an, wenn er ihnen zu grillenhaft schien, und ließen ihre lieblichen Klänge wahrhaft königlich in lauschenden Ohren erklingen; und waren zudem darauf erpicht, in stürmischen Nächten eine arme Mutter zu grüßen, die über ihr krankes Kind wachte, oder eine einsame Frau, deren Gatte zur See war. Man behauptete sogar, dass sie hin und wieder einen tobenden Nordwestwind übertrumpften, »bis er Krämpfe kriegte«, wie Toby Veck zu sagen pflegte; denn obwohl ihn jeder Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und ohne ausdrücklichen Parlamentsbeschluss konnte ihn niemand zu etwas anderem (außer Tobias) machen. Er war zu seiner Zeit gesetzlich so getauft, wie die Glocken zu der ihrigen, wenn auch nicht mit ganz so viel Feierlichkeit und öffentlichem Jubel. Ich für mein Teil bekenne mich zu Toby Vecks Überzeugung, denn ich bin sicher, dass er hinreichend Gelegenheit hatte, sich die rechte Meinung zu bilden. Was immer Toby Veck sagte, sage ich also auch. Und ich stehe auf Toby Vecks Seite, obgleich er den ganzen Tag lang (und es war eine mühsame Aufgabe) draußen vor der Kirchtür stand. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge. Und das war ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, eisezehiger, zähneklappernder Warteplatz zur Winterzeit, wie Toby Veck wohl wusste. Der Wind kam zerrend um die Ecke, namentlich der Ostwind, als habe er sich eigens aufgemacht vom Ende der Welt, um Toby niederzuwehen. Ja, oft schien er ihn früher zu erreichen als erwartet, denn er raste um die Ecke und fuhr an Toby vorbei, drehte dann aber plötzlich wieder um, als wollte er ausrufen: »Ei, da ist er ja!« Unverzüglich flog dann Tobys kleine weiße Schürze über seinen Kopf wie das Hemd eines ungezogenen Bengels, und man sah das schwache Stöckchen vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen; seine Beine gerieten in ungeheure Tätigkeit und Toby selbst in schräge Körperhaltung, das Gesicht bald da-, bald dorthin wendend, wurde er so gezaust, gezerrt, getrieben, gestoßen, gewirbelt und von seinen Füßen gelupft, dass es von einem echten Wunder nur einen Schritt entfernt schien, dass er nicht wie manchmal eine Kolonie von Fröschen, Schnecken oder anderen leicht entführbaren Geschöpfen in die Luft gehoben wurde und an irgendeinem fernen Ort der Welt, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niederregnete. Aber obwohl es ihn so rau behandelte, war windiges Wetter am Ende doch eine Art Festtag für Toby. Zweifellos. Denn bei Wind schien er nicht so lange auf ein Sixpencestück zu warten wie zu andern Zeiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte ihn ab und erquickte ihn sehr, wenn er hungrig oder kleinmütig wurde. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber waren ein Ereignis und schienen ihm irgendwie gut zu tun – auch wenn schwer zu sagen gewesen wäre, auf welche Weise, Toby! Jedenfalls waren Wind, Frost und Schnee und vielleicht auch ein tüchtiger Hagelsturm Toby Vecks Glückstage. Nasses Wetter war am schlimmsten, die kalte, feuchte, dumpfe Nässe, die ihn wie ein klammer Mantel umhüllte – übrigens die einzige Art von Mantel, die Toby besaß, auf die er zugunsten seiner Behaglichkeit aber auch gerne verzichtet hätte. Regenwetter, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig fiel, wenn der Straßenschlund wie seiner im Nebel erstickte, wenn dampfende Schirme hin und her eilten, tanzten wie Kreisel, sooft sie auf dem überfüllten Fußweg aneinanderstießen und dabei kleine Schauer ungemütlicher Tropfen versprühten; wenn es in den Rinnsteinen rauschte und in den vollen Dachrinnen gurgelnd lärmte; wenn die Nässe von den vorspringenden Steinen und Simsen der Kirche – tropf, tropf, tropf – auf Toby niederträufelte und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu in bloßen Schmutz verwandelte: das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Dann konnte man ihn verzagt und mit trostlos langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorlugen sehen, einem so dürftigen Schlupfwinkel freilich, dass er im Sommer nie einen breiteren Schatten auf das sonnige Pflaster warf als ein dicker Spazierstock. Wenn er wenige Augenblicke später aber herauskam, um sich durch Bewegung aufzuwärmen, und einige Dutzend Male auf und ab trabte, reichte das schon, um ihn aufzuheitern, und...