E-Book, Deutsch, Band 8, 288 Seiten
Reihe: Aurelio Zen ermittelt
Dibdin Roter Marmor
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30888-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aurelio Zen ermittelt in der Toskana. Kriminalroman. Aurelio Zen ermittelt (8)
E-Book, Deutsch, Band 8, 288 Seiten
Reihe: Aurelio Zen ermittelt
ISBN: 978-3-293-30888-6
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In einem verschlafenen Badeort an der toskanischen Küste versucht sich Polizeikommissar Aurelio Zen von den Folgen eines Bombenanschlags zu erholen, den er nur knapp überlebt hat. Gleichzeitig bereitet er sich auf einen Prozess in den USA vor, bei dem er als Kronzeuge gegen die Mafia aussagen soll. Als in seinem Bekanntenkreis mehrere Menschen ermordet werden, scheint der Fall klar: Die ehrenwerte Gesellschaft hat die Jagd auf den unbequemen Commissario eröffnet.
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Islanda
Als das Licht ihn nicht mehr blendete, wurde Aurelio Zen klar, dass irgendetwas Merkwürdiges vor sich gegangen war. Unglücklicherweise hatte er einen Platz auf der Backbordseite des Flugzeugs gewählt, sodass die tief stehende Sonne ihn blendete. Die fast waagerechten Strahlen verbreiteten den harten Glanz des Februars und die lähmende Hitze des Augusts. Was die Sache noch schlimmer machte – es war allein seine Schuld. Der Platz, den man ihm ursprünglich zugewiesen hatte, lag auf der kühlen, schattigen nach Norden weisenden Seite des Flugzeugs. Doch das war unmittelbar nach dem Start nicht zu erkennen gewesen, während der dicke Geschäftsmann auf dem Sitz neben ihm, der eifrig in sein Notebook hämmerte, dagegen nur allzu präsent gewesen war. Deshalb hatte sich Zen, als er auf der anderen Seite eine leere Reihe entdeckte, dorthin gesetzt, worauf der Geschäftsmann prompt Zens ursprünglichen Platz einnahm und seinen ganzen Kram auf den Platz legte, auf dem er selbst gesessen hatte. Rein theoretisch hätte Zen wohl einen der Flugbegleiter kommen lassen und darauf bestehen können, dass er seinen rechtmäßigen Platz zurückbekam, doch das schien ihm nicht der Mühe wert. Wie alle anderen hatte er sein Rouleau heruntergelassen, als nach dem Mittagessen die Kabinenbeleuchtung ausgeschaltet wurde, doch das durchscheinende Licht war immer noch so stark gewesen, dass es den geisterhaften Gestalten, die sich auf dem Bildschirm vor ihm bewegten, jegliche Substanz nahm. Doch nun war diese penetrante Helligkeit verschwunden. Er schob das Rouleau ein kleines Stück hoch. Nein, es war keine Sonne mehr da. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie vielleicht schon untergegangen war, doch der weite Ozean tief unter ihnen glitzerte immer noch in ihrem Licht. Also musste die Sonne noch am Himmel stehen, nur dass sie sich jetzt offenbar hinter dem Flugzeug befand. Was bedeutete, dass sie nach Norden flogen. Und trotz seiner dürftigen Geografiekenntnisse wusste Zen, dass Amerika nicht nördlich von Europa lag. Er hatte die zwei Wochen seit seiner überstürzten Abreise aus Versilia auf der kleinen Insel Gorgona verbracht. Sie lag fünfunddreißig Kilometer von der toskanischen Küste entfernt und diente hauptsächlich als Gefängnisinsel für nichtgewalttätige jugendliche Straftäter. Nachdem man ihn mit einem Militärhubschrauber von Pisa dorthin geflogen hatte, brachte man Zen in einem leer stehenden Flügel des riesigen Hauses unter, das der Gefängnisdirektor ganz allein bewohnte. Letzterer entpuppte sich als großer, permanent gebeugt gehender Mann mit leiser Stimme, der so schüchtern war, dass er sich beinah ständig für alles entschuldigte. Einem Gefängnisgerücht zufolge, das Zen später von einem der Wärter erfuhr, war er früher Direktor an einem Gymnasium in Bari gewesen, bis gewisse Gerüchte über sexuelle Aktivitäten zwischen Personal und Schülern den Behörden zu Ohren kamen. »Also hat er einen Job bei der Grazia e Giustizia bekommen, und die haben ihn hierher geschickt«, bemerkte der Mann mit einem süffisanten Grinsen. »Da lungert er wenigstens nicht an irgendwelchen Ecken auf dem Festland herum, und diese Halunken hier kann er ganz gewiss nicht verderben. Wenn überhaupt, verderben die eher ihn. Einer von denen wollte mir mal für eine Zigarettenkippe, die ich gerade ins Klo schmeißen wollte, einen blasen. ›Was würdest du denn für eine ganze Packung tun?‹, hab ich ihn gefragt. ›Bei allem Respekt, Capo, aber ich weiß nicht, ob Sie so eine Intensivbehandlung aushalten würden. Da sollten Sie lieber noch ein paar von Ihren Kollegen einladen.‹« Zen nahm seine Mahlzeiten in der Kantine ein, die ein ausgezeichnetes Essen zubereitete aus den Produkten der Ländereien, auf denen die Gefangenen tagsüber arbeiteten. Er hatte dem Personal erzählt, er sei Ornithologe und erforsche das Verhalten diverser seltener einheimischer Möwenarten. Wie erhofft, führte die Aussicht auf ein langweiliges Gespräch über sein angebliches Forschungsgebiet dazu, dass man ihn in Ruhe ließ. Die übrige Zeit verbrachte er damit, das Labyrinth von Pfaden zu erkunden, das die Insel überzog, deren Vegetation aufgrund der 130-jährigen Geschichte als Strafkolonie noch völlig intakt war. Die östlichen Hänge der felsigen Insel waren mit Pinienwäldern bewachsen, so wie sie früher einmal die italienische Küste gesäumt hatten, die durch den Dunst verschwommen im Osten zu erkennen war. Ansonsten erstreckte sich, so weit das Auge reichte, stachliges, immergrünes Macchia-Gestrüpp. Nur gelegentlich spendeten Haine aus importierten Oliven, Steineichen und Edelkastanien, die überdauert hatten, etwas Schatten. Die Luft war absolut klar und duftete leicht nach Honig. Seine Idylle wurde nur von dem Gedanken an Gemma getrübt, vor allem durch die Tatsache, dass er gezwungen gewesen war, so überstürzt abzureisen, und nun keine Möglichkeit hatte, ihr zu erklären warum. Briefe und Telefongespräche waren ihm strengstens untersagt. Also musste es für Gemma so aussehen, als sei Zen – beziehungsweise Pier Giorgio Butani – einfach über Nacht aus Versilia verschwunden, ohne ein einziges Abschiedswort. Und obwohl er sich immer wieder sagte, dass ihre Beziehung nie über eine oberflächliche Affäre hinausgegangen wäre, war das doch ein brutaler, hässlicher und unbefriedigender Abschluss, der einen bitteren Nachgeschmack hinterließ. Zu Beginn seiner dritten Woche in der Abgeschiedenheit überbrachte der Direktor ihm die Nachricht, er möge am nächsten Morgen um neun Uhr seine Sachen gepackt haben und reisefertig sein. Pünktlich um fünf Minuten vor der angegebenen Zeit landete ein großer Militärhubschrauber mit zwei Rotoren – er war vom gleichen Typ wie der, der Zen auf die Insel gebracht hatte – auf dem Exerzierplatz, auf dem die Häftlinge jeden Morgen zum Appell und zur Verteilung der Aufgaben antreten mussten. Mit dem Gepäck in der Hand, das ihm kurz nach seiner Ankunft mit der Fähre von Livorno gebracht worden war, trottete er über den Asphalt auf den Hubschrauber zu. Die Sonne stand hell und klar am wolkenlosen Himmel, die Luft war lieblich und frisch, und bevor der Hubschrauber auftauchte, hatte absolute Ruhe geherrscht. Zen kam sich vor, als würde er aus einem Paradies vertrieben, in das er nie mehr zurückkehren könnte. Wenige Minuten später waren sie wieder in Pisa, auf dem militärischen Teil des Flughafens, weit weg vom kommerziellen Terminal. Hier brachte man Zen zu einem kleinen Düsenflugzeug ohne Beschriftung. Sein Gepäck wurde im Laderaum verstaut, während er über eine heruntergeklappte Treppe ins Innere stieg. Das bestand aus einer einzigen Kabine mit bequemen Sitzen vor einem flachen Tisch in der Mitte. Auf einem der Sitze saß der junge Diplomat, der ihn in der Klinik besucht hatte. Er stand sofort auf, schüttelte Zen die Hand und bat ihn, Platz zu nehmen. Dann holte er eine Thermosflasche mit hervorragendem Kaffee und zwei Becher hervor. Einen Augenblick später wurde die Treppe hochgeklappt, die Tür geschlossen und die Triebwerke gestartet. »Verzeihen Sie den primitiven Kabinenservice«, sagte Zens Begleiter, als das Flugzeug sich in Bewegung setzte. »Andererseits haben Sie hier vermutlich mehr Komfort, als Sie für den Rest Ihrer Reise haben werden. Zumindest brauchen Sie sich nicht den üblichen Sermon anzuhören, was Sie in dem unwahrscheinlichen Fall einer Landung auf dem Wasser tun sollen. Ob wohl jemals ein Leben durch eine dieser billigen Schwimmwesten gerettet wurde, die sie unter die Sitze stopfen? Mir kommt es so vor, als würden diese ganzen Sicherheitsinformationen nichts weiter bewirken, als eine irrationale Angst vorm Fliegen zu verbreiten. Dabei sind Flugzeuge eines der sichersten Verkehrsmittel. Stellen Sie sich mal vor, Sie müssten sich jedes Mal, wenn Sie in einen Bus, einen Zug oder ein Taxi steigen, einen Haufen euphemistisches Geschwafel anhören, was man tun soll, wenn das Ding irgendwo gegendonnert! Da würde doch kein Mensch mehr das Haus verlassen.« Das Flugzeug bog ruckelnd nach rechts, die Triebwerke heulten, und bevor Zen wusste, wie ihm geschah, hatten sie bereits abgehoben. Mehrere Minuten beobachtete er, wie sich die Küste in eine Landkarte verwandelte, dann wandte er sich wieder seinem Begleiter zu, der ihnen beiden gerade Kaffee einschenkte. Als er zu Zen aufblickte, war seine Miene wieder ganz professionell. »Ich hoffe, Ihr Aufenthalt auf Gorgona war erträglich«, sagte er. »Sehr angenehm, vielen Dank.« »Es schien kurzfristig die beste Lösung, angesichts der Ereignisse in Versilia.« Er sah Zen mit ernstem Gesicht an. »Sie scheinen einen guten Schutzengel zu haben. Die Mafia hat nun schon zweimal versucht, Sie umzubringen, und beide Male ist es ihr nicht gelungen. Das können nur wenige Leute von sich behaupten.« »Ist denn sicher, dass ich das anvisierte Opfer war?« »Dottore, in dieser Gegend ist nach allem, was wir wissen, noch nie jemand am Strand ermordet worden. Ein paar Messerstechereien spät in der Nacht unten in Viareggio, und gelegentlich begleichen Drogenbanden ihre Rechnungen untereinander, aber weiter nichts. Nun wird ein Firmenanwalt, der anscheinend keine Feinde hat, auf dem Platz, auf dem Sie seit mehreren Wochen sitzen, am helllichten Tag mit einer schallgedämpften Pistole aus kürzester Entfernung mit einen Schuss ins Herz getötet, und das von einem Killer, der niemandem auffällt, obwohl das Bagno zu der Zeit erstaunlich gut besucht war.« Zen nickte. »Sie haben vermutlich Recht.« ...