Deville | Taba-Taba | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Deville Taba-Taba

Roman
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-293-31096-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-293-31096-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Alte sitzt am Ufer der Loire, wippt vor und zurück und murmelt monoton vor sich hin: Taba-Taba-Taba. Er ist Insasse einer psychiatrischen Anstalt und der beste Freund eines hinkenden Jungen - dem Sohn des Anstaltsleiters. Der Junge fristet mit seinem zu kurz gewachsenen Bein einen einsamen Alltag zwischen Bett und Rollstuhl und flüchtet sich in die Welt der Bücher. Als Erwachsener reist er in die ausgebrannte nordfranzösische Provinz auf der Suche nach seiner Familiengeschichte. Gleichzeitig beginnt eine Reise durch die französische Vergangenheit - von der Kolonialzeit über die Suez-Krise bis hin zu den jüngsten Attentaten in Paris.

Deville erzählt von weltbewegenden Ereignissen, historischen Krisen und persönlichen Wendepunkten - der Schlüsselroman seines großen Buchzyklus.

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Ein Quarantänebecken
Keiner der Irren, neben denen ich in diesen acht Jahren lebte – aber in der Kindheit sind acht Jahre ein ganzes Jahrhundert –, hielt sich für Christus oder Napoleon, dessen Neffe unser Lazarett mit Unterzeichnung dieses kaiserlichen Dekrets vom 1. Mai 1862 gegründet hatte: Napoleon, Kaiser der Franzosen von Gottes Gnaden und Volkes Wille, Grüßt alle gegenwärtigen und künftigen Untertanen. Auf der Grundlage des Berichts unseres Staatsministers für Landwirtschaft, Handel und Öffentliche Aufgaben; In Anbetracht des gemeinsamen Berichts von Doktor Mélier, dem Generalinspekteur der Gesundheitsämter, und von Herrn Isabelle, Architekt im Regierungsauftrag, über die notwendigen Arbeiten zum Bau eines Lazaretts auf der Landzunge von Mindin am Südufer der Loire … Mit den ersten Baumaßnahmen hatte man 1860 begonnen, im selben Jahr, in dem Louis Pasteur die These von der Urzeugung widerlegte und die Bakteriologie erfand. Ein Jahr später wütete eine Gelbfieberepidemie an den Ufern der Flussmündung. Daher wurde ein Quarantänebecken in die Salzfelder gegraben, das sowohl die Schiffe aufnehmen sollte, auf denen die Krankheit ausgebrochen war, wie auch alle verdächtigen Schiffe, bevor sie in die Häfen von Paimbœuf oder Nantes einlaufen durften. Das Becken musste tief genug sein, um den Dreimastern das Ankern zu ermöglichen, die, beladen mit Kokosnüssen, hübschen Muscheln, wahrscheinlich auch Papageien und Zuckerrohr, aus der Karibik zurückkehrten, und es musste genügend Platz bieten, damit die Mannschaft und die Passagiere von Bord gehen konnten; fast sieht man sie noch in ihren weißen Anzügen oder Kostümen und ihren Sonnenhüten, mit zitternden Händen halten sie ein Taschentuch vor ihre Lippen, sitzen abseits auf umgekippten Rumfässern. Auch das Expeditionskorps von General Bazaine, das Maximilian und dessen Frau Charlotte auf den Thron von Mexiko bringen sollte, musste hier warten. Nach den Originalplänen, über die ich verfüge, standen westlich des Beckens die Krankenstation und die Desinfektionsabteilung, ihnen schloss sich ein weiträumiger Lagerplatz für die Matrosen an, dann das Haus des Hafenmeisters, ein Waschhaus, ein Speisesaal und, noch weiter westlich, in der Mitte einer von Mauern umschlossenen Kreisfläche, das eigentliche Lazarett, das Lazarett im LAZARETT, so etwas wie die Einzelzelle im Gefängnis, das Tabernakel des Altars oder die Gummizelle einer Irrenanstalt: Dort sollten die Kranken eingeschlossen werden, von denen eine Ansteckungsgefahr ausging; sie waren also doppelt eingesperrt, wurde doch die gesamte Anlage, ursprünglich acht Hektar, zu ihren drei Landseiten hin bereits von einer hohen Mauer gesichert, an der außen ein Weg entlangging, der nirgendwohin führte. Die einzigen Zugänge lagen im Norden: stromaufwärts gegenüber dem Quarantänebecken der Kanal für die ankommenden Schiffe, stromabwärts das monumentale Tor, das bei Flut auf einige Meter Sand hinausging, bei Ebbe auf etliche Dutzend Meter Schlick, und das nur geöffnet wurde, um die infizierten Leichen auf Barken fortzuschaffen, damit man sie in der Flussmitte auf der Insel Saint-Nicolas-des-Défunts beerdigte. Durch diesen Triumphbogen würden nur Besiegte in Rückenlage ziehen. Anders als manch ein Arzt vielleicht behauptet hat – denn unter ihnen gibt es Spaßvögel, die den Schlüssel gerne zweimal umdrehen, wenn sie einen einsperren –, hat die Auferweckung des Lazarus mit der Etymologie des Lazaretts nichts zu tun. Das Wort entstand durch eine venezianische Kontamination von Lazaretto und Nazaretto im Namen der ersten Einrichtung zur geschlossenen Unterbringung von Pestkranken auf der kleinen Insel Santa Maria di Nazareth mitten in der Lagune. Auch jener heiliggesprochene römische Bürger namens Nazarius, über den Gregor von Tours im 6. Jahrhundert schrieb, man könne »die Reliquien des Heiligen Nazarius in einem Weiler am Ufer der Loire in der Diözese von Nantes« betrachten, hat nichts damit zu tun. Doch zur selben Zeit, als auf kaiserliche Anordnung hin das Quarantänebecken von Mindin am Südufer der Loire gegraben wurde, hob man gegenüber am Nordufer das Hafenbecken von Penhouët aus, und Saint-Nazaire erwachte zu neuem Leben: Der schottische Ingenieur John Scott errichtete dort auf Einladung der Brüder Pereire und der Saint-Simonisten eine Werft und begann mit dem Bau von Schiffen mit Stahlrumpf. Von überall strömten Arbeitskräfte herbei. Über diesen Ansturm im Westen berichtete La Revue des Deux Mondes 1858: Wer sich eine Vorstellung davon machen möchte, wie in wenigen Monaten eine kalifornische Stadt beziehungslos und in Schüben entsteht, kann dieses Spektakel in Saint-Nazaire nachvollziehen. Derzeit ist Saint-Nazaire eine merklich wachsende Ansammlung von Zuwanderern. Schier endlose Straßen entstehen, und überall erheben sich wie zufällig zusammengewürfelte Bauten jeder Art, vom Pariser Wohnhaus mit Toreinfahrt bis hin zu Matrosenschenken. Alles ohne Straßenbauamt, ohne Brunnen, ohne Polizei. Vor zwei Jahren war Saint-Nazaire ein Dorf, heute ist es eine Stadt. Im selben Jahr, 1858, kommt in Kairo eine kleine Eugénie-Joséphine zur Welt, ohne die ich das LAZARETT nicht gekannt hätte. Im Alter von vier Jahren erblickt dieses Mädchen im weißen Spitzenkleid die hohen smaragdgrünen Wellen mit ihren runden, in der Sonne durchsichtigen Kuppen, deren glasiges Herz goldgelb leuchtet, von der Gischt gesäumt wie von Stacheldraht. Das Schiff nimmt Kurs auf den Hafen von Marseille. Sieben Tage mit Zwischenstopp in Malta. Sie verlässt für immer das Land ihrer Geburt und weiß es nicht, freut sich über ihre Reise und gleitet unbekümmert von den Schlachten über die Skelette und die beim Rückzug Ertrunkenen. Im Jahr 1862 schließlich, dem Jahr ihrer Ankunft in Frankreich und der Gründung des LAZARETTS, lief im Hafenbecken von Penhouët die Impératrice-Eugénie vom Stapel, das erste in Frankreich gebaute transatlantische Linienschiff. Saint-Nazaire entwickelte sich zum Abfahrtshafen für den Linienverkehr nach Kuba und Mexiko. Hier löschte man importierte Steinkohle aus Cardiff, und damit war die Sache entschieden: Das Nordufer des Flusses sollte der Seefahrt und der Industrie dienen, das Südufer der Sommerfrische und dem Müßiggang. Nichts war unterschiedlicher als die beiden Ufer. Der Ästuar bildet eine Grenze, deren aufgewühltes Wasser bei jeder Flut das Beste mitnimmt. Durch einen dieser Streiche, die der alte Ozean den Geographen gerne spielt, hatte Saint-Brévin auf der Südseite der Loire in einem Jahrhundert mehrere Hundert Hektar Uferzuwachs bekommen und durch diese Sandablagerung die Landfläche der Nation vergrößert, die Schüler von Brémontier, der weite Flächen des Departement Landes aufgeforstet hatte, ab 1860 durch einen Pinienwald zu erhalten versuchten, damit Wellen und Meeresströmungen sich nicht zurückholten, was sie vergessen hatten. Häuser im baskischen und normannischen Stil wurden darauf errichtet, Parks und Gärten angelegt, bald auch ein Kasino gebaut, man pflanzte Orchideen und Mimosen, zog Rosen. 1882 wurde der südliche Stadtteil Saint-Brévin-L’Océan gegründet, kurz L’Océan genannt, und 1900 erhielt das Seebad vom Staat das Recht, sich Saint-Brévin-les-Pins zu nennen. Mangels Bazillen und tropischer Viren in ausreichender Menge hatte das Lazarett für infizierte Seeleute bereits im Jahr zuvor dichtgemacht. An der Spitze des Kampfs gegen Pest und Cholera in Frankreich stand damals Adrien Proust, Marcel Prousts Vater. Er konzentrierte die Mittel für seinen Sperrgürtel auf die viel stärker bedrohte Mittelmeerküste. Nachdem es während des Ersten Weltkriegs in ein Krankenhaus für Frontsoldaten umgewandelt worden war, beherbergte das ehemalige Lazarett nach dem Waffenstillstand »Kinder beiderlei Geschlechts, denen die gemäßigte Seeluft zuträglicher ist als ein raues Meeresklima«. Man taufte es um in »Genesungs- und Erholungsheim des Departements in Mindin«, eine Bezeichnung, die zu lang war für die Bréviner, die das LAZARETT logischerweise noch Jahrzehnte später, als die Einrichtung eine Irrenanstalt wurde, das LAZARETT nannten, da es ein solches ja einmal gewesen war. Nach all dem Dreck, dem Stacheldraht und den verbrannten Lungen machte sich der Chefarzt des LAZARETTS, Doktor Dardelin, mit einem kleinen, 1931 im Verlag La Vague in Pornic erschienenen Werk zum Vorsänger jener zwischen den Weltkriegen aufgekommenen Schwärmerei für Seebäder, Sonne und gesunde Kinder. Darin findet man überzeugende Texte über Luftkuren, Meerwasser- und Sonnenlicht-Heilverfahren, vermischt mit ausschweifenden Überlegungen zur Geopolitik und Geburtenförderung: Soeben hat man uns gesagt, wir sollten die alte Devise Si vis pacem para bellum durch die neue Si vis pacem para pacem ersetzen. Das ist nur Wortgeplänkel. Man hätte uns auch erklären müssen, wodurch: Generando pueros. Angesichts eines hasserfüllten Deutschlands und mit einem angriffslustigen Italien nebenan sollten die Frauen von Saint-Brévin wissen, dass es nur ein Mittel gibt, um nicht erneut vor einem Denkmal für Kriegsgefallene zu weinen: Kinder zeugen. Dieser kinderlose Lateiner hatte auf alles eine Antwort: Sind 47°15’ nördlicher Breite, derselbe Breitengrad, auf dem Neufundland und der Sankt-Lorenz-Strom liegen, nicht ein wenig zu weit nördlich für die Balneotherapie? Nein, entschied er, denn genau auf 2°10’ westlicher...


Deville, Patrick
Patrick Deville, geboren 1957, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Philosophie in Nantes und arbeitete dort anfänglich als Dozent. Er lebte in den 1980er Jahren im Nahen Osten, in Nigeria und Algerien. In den 1990er Jahren besuchte er Kuba, Uruguay, Mittelamerikanische Staaten und Staaten des ehemaligen Ostblocks. Er gründete und leitet die »Maison des écrivains étrangers et des traducteurs« und deren Zeitschrift Meet.

Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem als »bester Roman des Jahres« der Zeitschrift Lire, mit dem Fnac-Preis und dem Prix Femina.

Müller, Sabine
Sabine Müller, geboren 1959 in Lauffen am Neckar, studierte Germanistik, Philosophie und Pädagogik. Sie übersetzt Belletristik und wissenschaftliche Literatur aus dem Französischen und Englischen, u. a. Werke von Andreï Makine, Cecile Wajsbrot, (beide zusammen mit Holger Fock), Erik Orsenna, Philippe Grimbert, Annie Leclerc und Alain Mabanckou. 2011 wurde sie zusammen mit Holger Fock mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.



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