Devi / Ivanov Mord in Switzerland Band 2
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-85882-754-8
Verlag: Appenzeller
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
18 Kriminalgeschichten
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-85882-754-8
Verlag: Appenzeller
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Nach dem Erfolg des Vorgängers «Mord in Switzerland» (2013), präsentieren die Herausgeberinnen Mitra Devi und Petra Ivanov eine weitere Sammlung spannender Stories. «Mord in Switzerland 2» enthält 18 ernste, humorvolle und packende Kriminalgeschichten von bekannten Schweizer Autorinnen und Autoren sowie von vielversprechenden Neuentdeckungen. Sie alle treiben in 18 Kantonen literarisch ihr Unwesen; morden, rauben, stehlen und betrügen von Genf bis ins Engadin, vom Bodensee bis zum Lago Maggiore. Diesmal sind auch französische, italienische und rätoromanische Kurzkrimis dabei, die ins Deutsche übersetzt werden. Ein lustvoller Sprung über die Sprachgrenzen mit viel Lokalkolorit, eingebettet in mitreissende Geschichten. Typisch schweizerisch und erstaunlich international.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
EIN KURZES GLÜCK SUNIL MANN Sie schläft, endlich schläft sie. Schwer liegt ihr Kopf auf meiner Brust, sie murmelt im Traum, wie sie es früher oft getan hat, die Atmung gleichmässig und tief. Regen klopft monoton aufs Fensterbrett, und die schräg gestellten Jalousien klappern leise, wenn Wind aufkommt. Durch die Lamellen flackert Strassenlampenlicht und lässt schemenhafte Umrisse aus der Dunkelheit treten: Möbelstücke, ihr Reisekoffer, mein Anzug, der über einem Kleiderbügel am Schrank hängt. Wir sind ziemlich herumgekommen, sie und ich sowieso. Doch in diesem Moment gibt es nur noch uns, endlich wieder vereint in diesem schäbigen Hotelzimmer. Ein kurzes Glück nur. Seit ich hier bin, breitet sich ein Frieden in mir aus, der mir die Tränen in die Augen treibt. Ich weine lautlos, froh, dass sie mich nicht sehen kann. Der Duft ihrer Haare erinnert mich an früher, an schwerelose Tage. An jene Nächte in Erstfeld, als wir uns noch fremd waren und uns Nacht für Nacht erforschten, die Leidenschaft, die grosse, die ewige Liebe, wie ich glaubte. Was war ich jung. Und so unglaublich naiv. Natürlich sagten sie: «Was denkst du dir bloss, so eine wie sie mit einem wie dir? Sieh euch doch an, das kann ja nicht gut gehen!» Mutter schüttelte den Kopf, während sie Zwiebeln hackte, Vater zog an seiner Pfeife und schwieg wie immer. Doch ich konnte an seinen missbilligenden Blicken erkennen, dass er nicht viel von Gloria hielt. Die wenigen Freunde, die ich hatte, reagierten ähnlich. «Die nimmt dich doch nur aus!», warnten sie mich, wenn wir uns samstags im «Havanna» in Altdorf trafen und zogen Gloria dabei mit ihren Augen aus. Sie hatte Kurven, eine richtige Latina halt, und dass wir uns in Erstfeld im «La Rosa» kennengelernt hatten, wussten auch alle, da hatte ich nie ein Geheimnis draus gemacht. Ich war bei Weitem nicht der einzige, der regelmässig dort verkehrte, viele fuhren nach Feierabend oder häufiger noch an den Wochenenden die kurze Strecke über die Gotthardroute nach Süden, parkten in einer verschwiegenen Seitengasse des Dörfchens und gingen dann die paar hundert Meter zum Etablissement zu Fuss. Tranken etwas an der Bar und liessen sich, noch ehe das Glas leer war, von der auserkorenen Dame in eines der schmuddeligen Zimmer in den oberen Stockwerken führen, wo sie für einen Lappen bekamen, wonach sie gierten. Während des Tunnelbaus hatte sich das Rotlichtmilieu hier angesiedelt und konnte sich halten, nachdem die Arbeiter verschwunden waren. Zumindest eine Zeitlang. In jener Nacht hatte ich wie immer erst eine Zigarette geraucht, den Kragen meiner Windjacke hochgeschlagen und konnte mich einmal mehr nicht zwischen der «Taverne» und dem «La Rosa» entscheiden. Am Ende schritt ich auf das letztere zu, und als ich eintrat, stand sie dort an der Bar und lehnte sich vertraulich zu einem massigen Kerl hinüber. Ein Lastwagenchauffeur vielleicht oder ein Motorradfahrer auf der Durchreise. Er hatte wässerige Augen, graumelierte Locken und sah kräftig aus, trug abgewetzte Jeans, dazu ein kariertes Hemd und schwere Stiefel. Gloria rückte sofort von ihm ab, als sie mich entdeckte, und kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Dunkle Haare fielen über ihre Schultern, hohe Wangenknochen und die Lippen rot wie Cocktailkirschen. Katzenaugen und lange Wimpern. Ich konnte mich nicht sattsehen an ihr. Ich war mir sicher, dass ich sie hier noch nie angetroffen hatte, denn dass sie mir nicht aufgefallen wäre, war schlicht unmöglich. Sie lächelte mich herausfordernd an, und ich spürte, wie das Blut in meinen Unterleib schoss. In dieser Nacht fielen wir wie Tiere übereinander her, und als wir fertig waren, gewährte sie mir eine Extrarunde ohne Aufpreis. Viel später erzählte sie mir, dass sie in diesem ersten Moment an der Bar etwas in mir gesehen hatte, etwas ganz Besonderes. Es sei eine Art Erkennen gewesen, wie es nur ganz selten geschehe, sie hätte sofort gewusst, dass wir zusammengehörten. Und ich, ich war vom ersten Augenblick an verliebt. Von da an trafen wir uns regelmässig, auch ausserhalb des Milieus. Und als sie eines Morgens, nach einer stürmischen Nacht in meiner kleinen Mietwohnung an der Blumenfeldgasse, ihren Slip und das im Bett getragene T-Shirt in den Korb mit der Schmutzwäsche schmiss, anstatt die Kleidungsstücke wie zuvor wieder mitzunehmen, ahnte ich, dass es etwas Ernstes würde. Bereits nach zwei Monaten konnte ich mir ein Leben ohne Gloria nicht mehr vorstellen. Ich ging wie auf Wolken, und sie, sie schien stets zu wissen, was mich gerade umtrieb, wonach mir der Sinn stand. Als wäre ich ein offenes Buch für sie. Man könnte jetzt monieren, dass es kein Kunststück sei, die Bedürfnisse eines Mannes zu erraten, aber sie gab mir tatsächlich das Gefühl, mir meine Wünsche von den Lippen abzulesen. Zudem war sie eine fabelhafte Köchin, wie ich bereits bei ihrem ersten Carne asada mit hausgemachter Chimichurrisauce feststellte. Zwar arbeitete Gloria weiterhin im «La Rosa», doch tagsüber kümmerte sie sich um den Haushalt, tätigte Einkäufe und hielt die Wohnung in Schuss. Und als sie mit ihrem Rollkoffer einzog, ging ich meinen Chef bei der Raiffeisenbank um eine Gehaltserhöhung an, schliesslich hatte ich drei Jahre lang zum selben Lohn und ohne Aussicht auf einen besseren Posten am Schalter gearbeitet. Er wand sich und verwies auf die schlechte Wirtschaftslage, den tiefen Dollarkurs, die in einer Krise steckende Branche. Was Vorgesetzte immer anführen, wenn es um mehr Geld geht. Am Ende holte ich zwar weniger heraus, als ich mir erhofft hatte, doch es reichte gerade, damit Gloria nur noch an den Wochenenden anschaffen musste. Von Montag bis Freitagnachmittag waren wir nun ein ganz normales Paar, und ich blendete gekonnt aus, was Gloria in der restlichen Zeit tat. Das Unheil ereilte uns an einem lauschigen Abend im September. Gloria hatte nach dem Nachtessen einen Spaziergang vorgeschlagen, und Arm in Arm schlenderten wir durch Altdorf. Vor dem Tell-Denkmal erzählte ich ihr die Sage um den Schweizer Volkshelden, danach flanierten wir durch die Marktgasse und besahen uns die hell erleuchteten Schaufenster. Ich zeigte ihr, wo am Lehnplatz ich arbeitete, und als es kühler wurde, kehrten wir auf einen Schlummertrunk in die nahe gelegene Buena Vista Bar ein. Wir waren in einer sehr romantischen Stimmung. Gloria lachte viel, sie strahlte irgendwie von innen, und mir hätte es genügt, sie einfach anzusehen. Dazusitzen und sie zu bewundern, in alle Ewigkeit. Sie trug an diesem Abend ein enges, samtgrünes Kleid, das ihre Figur betonte, und hochhackige Schuhe wie immer. Und während sie die Blicke aller Männer im Lokal auf sich zog, wurde mir bewusst, wie glücklich sie mich machte - und wie stolz. Sie gehört mir, sie ist mein, dachte ich und betrachtete uns im Wandspiegel hinter den Regalen mit den Flaschen. Schon seltsam, einer wie ich mit einer wie ihr. Farblos und langweilig nannten mich meine Arbeitskolleginnen hinter meinem Rücken. Einer, den keiner richtig wahrnahm. Und Gloria? Sie war immer der Mittelpunkt, alle Augen hafteten an ihr. Manchmal, in stillen Momenten, fragte ich mich, was sie in mir sah. Weshalb sie bei mir blieb. Doch ich schob die Antwort immer schnell von mir, ich wollte sie nicht kennen. Als wir ausgetrunken hatten, bemerkte ich, dass sich nur noch eine einzige Zigarette im Päckchen befand, dabei war ich mir sicher, dass es am Morgen noch beinahe voll gewesen war. Gloria meinte, ich solle mich nicht so anstellen, unten neben den Toiletten gäbe es einen Automaten. Sie nahm sich die letzte Zigarette und küsste mich auf den Mund. «Ich warte draussen auf dich, mi amor», hauchte sie, und ihre letzten beiden Worte brannten sich in mein Herz. So fühlt sich Glück an, sagte ich mir, während ich Münzen in den Automaten warf. Ich grinste immer noch, als ich in den Schankraum zurückkehrte. Gloria stand vor der Bar und rauchte. Als hätte sie meinen Blick gespürt, wandte sie sich um und winkte mir durch die Fensterscheibe zu. Der Lieferwagen schoss von rechts ins Bild, er bremste hart ab und gleichzeitig glitt die seitliche Schiebetür auf. Zwei Arme packten Gloria, die vor der Bar stand, sie schrie auf und versuchte sich zu wehren, doch sie hatte keine Chance. Die Zigarette fiel zu Boden, da schloss sich die Wagentür schon wieder. Das Ganze war so schnell abgelaufen, dass die meisten Barbesucher den Vorfall gar nicht mitbekommen hatten. Ich stürzte hinaus, die Kehle wie zugeschnürt, doch der Camion raste bereits über den Rathausplatz, bog dann rechts ab und verschwand in der Einfahrt zum Kapuzinerweg. Jetzt erst brüllte ich auf und rannte dem Fahrzeug hinterher, bis ich die Zwecklosigkeit darin erkannte, und als ich verzweifelt zurückkehrte, glomm auf dem Trottoir immer noch Glorias Zigarette, ein feiner Rauchkringel stieg auf, während die Glut langsam verlöschte. Ich taumelte und musste mich an der Hauswand abstützen. Mir war, als fiele ich ins Bodenlose. Kaum bemerkte ich die Tränen, die mir übers Gesicht liefen, als ich benommen zum Telefon griff, um die Polizei zu alarmieren. In diesem Augenblick vermeldete das Gerät einen eingehenden Anruf. Eine unterdrückte Nummer. Mit zitterigem Finger strich ich über das grüne Symbol auf dem Display und hörte als Erstes Motorenlärm und Gloria, die im Hintergrund verängstigt schrie. «Keine Polizei, wenn du sie wiedersehen willst», knurrte eine raue Männerstimme mit italienischem Akzent. «Du redest mit niemandem und gehst jetzt direkt nach Hause. Wir rufen dich gleich wieder an.» Ich rannte den ganzen Weg bis in die Blumenfeldgasse. Atemlos stürzte ich in mein Appartement, da begann...