E-Book, Deutsch, 193 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm, Gewicht: 353 g
Impulse zu einem gesellschaftlichen Diskurs
E-Book, Deutsch, 193 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 210 mm, Gewicht: 353 g
ISBN: 978-3-205-20733-7
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Namhafte Persönlichkeiten haben dazu ihre Gedanken, Analysen und Perspektiven beigesteuert: Shlomo Avineri, Wolfgang Benz, Rabbiner Schlomo Hofmeister und Imam Ramazan Demir, Charlotte Knobloch, Bundesminister Sebastian Kurz, Botschafter Ronald S. Lauder, Karl Fürst Schwarzenberg, Bassam Tibi, Ingo Zechner und andere.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Terrorismus, Religiöser Fundamentalismus
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Geschichte des Judentums Geschichte des Judentums außerhalb Israels/Palästinas
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte des Judentums (Diaspora)
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Antisemitismus
- Geisteswissenschaften Jüdische Studien Geschichte des Judentums Antisemitismus, Pogrome, Shoah
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften Interdisziplinär Futurologie (Interdisziplinär)
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Gewalt Völkermord, Ethnische Säuberung, Kriegsverbrechen
Weitere Infos & Material
Warum Israel Eine Einleitung Von Ingo Zechner »The world is turnin’, I hope it don’t turn away« Neil Young, On the Beach Am Strand Unlängst hat mir ein lieber Freund eine Auswahl seiner Fotos aus mehreren Jahrzehnten gezeigt. Eines davon, fast ganz abstrakt, lässt einen nächtlichen Himmel erkennen, einen Strand und das Meer, das kein Horizont vom Himmel trennt. »Tel Aviv«, sagte ich zu ihm, ohne zu zögern, obwohl das Bild für manchen Blick ort- und zeitlos erscheinen mag. Er nickte leicht überrascht, und ich wusste selbst nicht, was mich so sicher gemacht hatte: Waren es die schemenhaft erkennbaren, aber dennoch so charakteristischen Strandsessel, in denen zwei ebenso schemenhaft erkennbare Menschen mit dem Rücken zur Kamera sitzen? Oder war es mein Gefühl, das sich im selben Moment einstellte und das ich immer empfand, wenn ich in der Nacht am Strand von Tel Aviv saß und den Blick auf das Meer fallen ließ: dieses intensive, schwer zu erklärende und daher so merkwürdige Gefühl von Freiheit. Roland Barthes hat die Fotografie als Medium mit dem Tod und dem Verschwinden in Verbindung gebracht: Er hat sie als »Emanation des vergangenen Wirklichen« betrachtet, »als Magie und nicht als Kunst«. Offenbar hat sie jedoch eine weitere Dimension, in der nicht die Erinnerung des unwiederbringlich Verlorenen dominiert, sondern die Wiederholung des Wirklichen und des Möglichen. Zu den Stärken des Films als Medium zählt, dass er diese andere Dimension der Fotografie, in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft unaufhörlich ineinander greifen, zu entfalten vermag. Eine Frage, viele Antworten »Pourquoi Israël«: »Warum Israel«, ist der Titel eines herzzerreißend schönen Films, den Claude Lanzmann am Beginn seiner Karriere als Filmemacher Anfang der 1970er-Jahre gedreht hat. Unter den vielen Szenen, die sich in mein Gedächtnis eingeprägt haben, sind mindestens drei, die mit der Landung eines Flugzeugs sowjetischer Juden am Flughafen von Tel Aviv zu tun haben. In einer sieht man einen eben angekommenen, älteren Mann, wie er am Ausgang auf seinen Bruder wartet, der in Israel lebt und ihn abholen soll. Wie lange er diesen nicht mehr gesehen habe, will Lanzmann von ihm wissen. Seit 32 Jahren, antwortet der Mann. Die zärtliche Geste, mit der die beiden Brüder einander schließlich umarmen, ersetzt alle weiteren Fragen und Antworten – zumindest für einen Moment. In einer anderen, schmerzlich langen Szene ist eine alte Frau zu sehen, die sich mit großer Mühe durch einen endlos scheinenden Korridor schleppt, indem sie sich mit der einen Hand der Wand entlangtastet und mit der anderen auf einen jungen Mann stützt, der sie geduldig Richtung Ausgang führt. In der dritten Szene begleitet das Filmteam einen Mann, eine Frau und deren kleine Tochter vom Flughafen zu jenem Ort am Roten Meer, wo sie die ihnen von den Behörden zugewiesene Wohnung beziehen werden. Auf der gemeinsamen Autofahrt erkundigt sich der Mann, ob ihr Weg an der Klagemauer vorbeiführen werde. Warum er diese sehen wolle, fragt Lanzmann den Mann, der sich selbst als säkularen Juden beschreibt und sagt, dass er in der Sowjetunion mit Religion und Tradition nichts zu tun gehabt habe. »Weil sie das Symbol unserer jüdischen Traurigkeit ist«, gibt dieser zur Antwort. Und nachdem er dann vor ihr gestanden hat, die geliehene Kippa auf dem Kopf, sagt er den verstörenden, für einen nicht-religiösen Juden umso schwerer wiegenden Satz: »Ich war seit 2.000 Jahren nicht mehr hier.« Warum Israel: drei Szenen, drei Antworten auf die Frage, die der Film in den Raum stellt und in epischer Länge von mehr als drei Stunden ebenso behutsam wie vielfältig beantwortet. Von Auschwitz nach Masada Genau genommen spielen Frage und Antwort im Filmtitel bereits ineinander. »Pourquoi Israël«: Für eine Frage fehlt hier das Fragezeichen. Man kann darin auch eine Antwort lesen. »C’est pourquoi« lautet eine Redewendung im Französischen, was soviel heißt wie »deshalb«. »(C’est) pourquoi Israël«: »Deshalb Israel«. Gleich zu Beginn, in der zweiten Szene des Films, gleitet die Kamera langsam über die Schriftzüge im Boden der Gedenkhalle von Yad Vashem: Auschwitz, Mauthausen, Sobibor, Bergen-Belsen, Dachau und die Namen anderer Lager und Schauplätze der Schoah, während aus der Tiefe des Raumes ein Gebet für die sechs Millionen Toten zu hören ist. Deshalb Israel. Einige Szenen später wird im Hintergrund das Felsplateau von Masada sichtbar, dessen Festung der israelischen Armee von der Mitte der 1960er- bis in die 1990er-Jahre als Initiationsort gedient und als Symbol jüdischen Widerstandswillens gegolten hat: in Erinnerung an den kollektiven Selbstmord von 960 jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Jüdischen Krieg gegen die römische Besatzung. »Masada darf nie wieder fallen.« Deshalb Israel. Zwischen den beiden Szenen liegen nur wenige Minuten, zwischen den beiden Ereignissen jedoch beinahe 19 Jahrhunderte, und der Film folgt zu Beginn und auch später immer wieder den Echos und Reminiszenzen, die es nahelegen, Verbindungslinien zwischen beiden zu ziehen. Antisemitismus und Judenhass Zu diesen Echos und Reminiszenzen zählt auch die Frage, die ein junges Mädchen beim Besuch ihrer israelischen Schulklasse in der Gedenkstätte Yad Vashem stellt, umgeben von den Bildern des Grauens: »Warum, warum der Hass?« Es ist eine ebenso eindringliche wie rhetorische Frage, die sie selbst in ähnlicher Weise beantwortet, wie es Arnold Schönberg unter dem Eindruck des Jahres 1938 in seinem »Vier-Punkte-Programm für das Judentum« getan hat, das im vorliegenden Band abgedruckt ist: Der Hass komme daher, dass die Juden ihren eigenen Glauben behielten, dass sie sich stets dagegen gewehrt hätten zu konvertieren. Nur dass Schönberg einen Schritt weiter gegangen ist und den jüdischen Glauben durch das Auserwähltsein bestimmt hat: »Daß wir Gottes erwähltes Volk sind, ist Teil des religiösen Glaubens, den noch kein Jude aufgegeben hat.« Aber stimmt diese Antwort? Und wenn sie stimmte, wäre es dann nicht konsequent, jene Schlussfolgerung zu ziehen, die Schönberg gezogen hat: »wenn das Judentum eine Religion ist, wenn unsere Nationalität auf dem Glauben beruht, wir seien Gottes auserwähltes Volk, wäre der Antisemitismus unausweichlich und der Kampf dagegen Unfug.« Mit Ausnahme der Antisemiten werden wenige damit übereinstimmen, dass man den Antisemitismus nicht bekämpfen muss. Und dass die Juden in letzter Instanz selbst daran schuld sind, wenn man sie hasst, kann man in Schönbergs Variante getrost ins Reich jüdischer Legenden verweisen, die der Verzweiflung über den Hass einen letzten Rest an Selbstbewusstsein abzugewinnen versuchen. Zur antisemitischen Variante dieses Gedankens hat Schönberg selbst bereits alles gesagt: »Wir wissen, daß wir nicht so sind wie unsere Feinde uns beschreiben.« Die kritischen und besorgten Stimmen, die der vorliegende Band versammelt, gehen in ihren Diagnosen zum Hass weit auseinander. Da sie Schlüsselbegriffe wie jenen des Antisemitismus unterschiedlich verwenden, ist das auf den ersten Blick nicht immer gleich sichtbar. In Übereinstimmung mit dem Grundkonsens der Antisemitismusforschung, die er mit seinen eigenen Arbeiten stark geprägt hat, unterscheidet Wolfgang Benz zwischen Antisemitismus und Judenfeindschaft, wobei in beiden der religiös motivierte Antijudaismus nur eine geringe Rolle spielt. Doch weiß man oft nicht so recht, woran man gerade ist. Einmal scheint Judenfeindschaft der weitere Begriff zu sein, der den modernen, rassistisch motivierten Antisemitismus mit umfasst und im nationalsozialistischen Genozid kulminiert. Dann wieder scheint die Judenfeindschaft eine Jahrhunderte alte Konstante zu sein, die zwar auf Ressentiments beruht, welche aber anders als im Antisemitismus immerhin »nicht mit Gewalt und Gewaltbereitschaft verbunden sind oder mit Vernichtungs- bzw. Vertreibungswünschen einhergehen«. Ob man vor dem Hintergrund einer unklaren begrifflichen Unterscheidung beruhigt sein kann, dass der Antisemitismus – einer Langzeitstudie zufolge – zumindest in Deutschland tendenziell abnimmt, ist eher fraglich. Die von Charlotte Knobloch vorsichtig, aber umso nachdrücklicher artikulierte »Sorge vor weiterem importiertem Antisemitismus, der sich zu dem vorhandenen gesellt«, lässt sich damit nicht vom Tisch wischen, zumal Knobloch die damit verbundene »Ambivalenz der jüdischen Gemeinschaft in der Flüchtlingsfrage« ganz offen anspricht. Bassam Tibi ist da weniger zurückhaltend und spricht vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte als muslimischer, vor Jahrzehnten nach Deutschland ausgewanderter Syrer vom panarabischen und islamistischen Judenhass und Antisemitismus, mit dem viele (Tibi sagt alle) neu ankommenden Flüchtlinge sozialisiert wurden. In seiner wütenden Polemik gegen die Naivität der von ihm zitierten »Willkommenskultur« geht ein wenig unter, dass es ihm selbst ja auch gelungen ist, sich vom Judenhass und Antisemitismus zu befreien. Warum sollte das den neu ankommenden Geflüchteten grundsätzlich nicht ebenso gelingen, auch wenn sie nicht das Glück haben werden, wie Tibi, bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zu studieren? Dass sie es ganz allein nicht schaffen werden, kann man von Tibi jedenfalls lernen. Und dass die Grundsätze der Kritischen Theorie und der Dialektik der Aufklärung heute selbst in akademisch geprägten Milieus weitgehend vergessen und in die meisten anderen Lebenswelten überhaupt nie vorgedrungen sind, wird es allen Beteiligten nicht einfacher machen. Naivität ist hier also tatsächlich nicht angebracht, aber wo wäre sie das...