E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: E-Book-Edition ITALIEN
Desiati Zementfasern
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8031-4112-5
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Reihe: E-Book-Edition ITALIEN
ISBN: 978-3-8031-4112-5
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Domenica Orlando, genannt Mimi, ist vierzehn, als sie ihr Dorf im süditalienischen Apulien verlassen muss, um mit den Eltern in die Schweiz zu gehen. Ihr Vater hat dort Arbeit in einer Fabrik gefunden: das Versprechen auf Reichtum für Tausende von Emigranten in den 1970er Jahren. Mimi erlebt im Norden ihre erste Liebe, zum 18- jährigen Ippazio, doch in der kargen Unterkunft, die sie mit vielen Landsleuten teilen müssen, bleiben den beiden nur kleine, verstohlene Streichholz-Momente des Glücks.
Jahre später, die Familie lebt längst wieder in Apulien, ist aus Mimi eine selbstbewusste Frau geworden, die immer noch jung ist, ihre halbwüchsige Tochter allein erzieht und in einer Krawattenfabrik arbeitet. Mit verblüffender innerer Freiheit und Konsequenz lebt sie ihr - nicht nur für süditalienische Gewohnheiten - unangepasstes Leben. Ihre eigentliche Stärke aber muss sie beweisen, als nach und nach die Männer krank werden und an den Spätfolgen ihrer Arbeit in der Asbestfabrik sterben. So kommt es, dass Mimi in einem Dorf der Frauen lebt. Doch erst die nächste Generation, ihre Tochter Arianna, wird nachfragen und die Frauen ermutigen, die Schuldigen zu suchen. Mario Desiati kommt selbst aus Apulien, er kennt sie, die verstummten Männer; er gibt ihnen die Stimme zurück, die ihnen genommen wurde.
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Eine alte, seit vielen Jahren verlassene Glashütte war das erste Dach der Orlando in der Schweiz. Denen, die sie entworfen, die sie gebaut und die dort gearbeitet hatten, wäre niemals in den Sinn gekommen, was später aus ihr werden sollte: eine von Menschenleben pulsierende Lunge. Seit über zwanzig Jahren diente sie als erste Unterkunft der italienischen Emigranten, die keinen Platz zum Schlafen hatten. Sie lag am Ende einer Schotterstraße auf dem Ausläufer eines kleinen Berges wie ein Quader aus abgestoßenen, von großen Rissen durchzogenen Blöcken. Der Boden war mit Glasscherben übersät, noch immer lagen sie bis in die hintersten Winkel der alten Fabrik verstreut. In der einzigen großen Halle ragten Trennwände aus Sperrholz und Wellblech auf, die hohe Decke aus Zinn und Asbest widerstand dem winterlichen Schnee und den langen, unablässigen Regenfällen, die die Nächte begleiteten. Sie widerstand dem Hagel, dem Wind, sie widerstand fast allem, nur der Kälte ergab sie sich augenblicklich. Die Kälte drang ein und setzte sich heimtückisch an den Gegenständen fest. Die Kälte der Dinge war am schwersten zu ertragen. Die Kälte der Betten, der Decken, der Stühle, die Kälte des ersten Schlucks Milch, der hart und bröcklig wie Geröll aus den Bergen die Kehle hinunterrann. Doch es waren dies die Jahre des Glases, weil das Privatleben der Menschen, die um Mimis Dasein kreisten, zu Glas wurde, weil alles, was sie umgab, aus Glas war. Durchsichtig und ungeschützt, ohne einen Zufluchtsort. Für Mimi hatte alles den vagen Geschmack eines Abenteuers, das sich um sie herum ereignete. Während der Fahrt in der littorina hatte sie, umringt von vielen Verwandten, einen Rosenkranz in der Hand gehalten. Aber sie hatte eher nachgedacht als gebetet. In Bari sah sie sich von den Koffern einer unbekannten Familie bedrängt. Diese Leute, die den Gang in Besitz nahmen, brachten sie mehr als alles andere zum Staunen: Sie ähnelten ihr, wie Schildkröten trugen sie ihr Leben mit sich herum, in riesigen Schachteln und Koffern mit prallen Bäuchen. Sie waren zu sechst, zwei erwachsene Männer, Brüder vielleicht, eine Frau und drei Kinder. Sie waren mager, fast unterernährt, misstrauisch beäugten sie die Orlando, und dieselbe Empfindung wurde von diesen erwidert. Vor ein paar Jahren hatte die Cholera in Bari gewütet, und Mama Rosanna ermahnte Mimi, sich von den Fremden unbedingt fernzuhalten. Die Reise war ihr wie ein Fest erschienen, ein Weihnachten entlang einer mit Eisen beschlagenen Strecke: Alle waren da, Mutter Rosanna, Vater Antonio, ihr Bruder Biagino, die Tante, die Cousins. Die Körbe wurden aufgemacht, und sie aßen das weiche, feine Brot, über das die kleinen gelben sonnengetrockneten Tomaten gerieben wurden. Biagino, zehn Jahre aus Trotzanfällen und wütendem Geschrei, rannte durch die Gänge des Zuges und versetzte die nach Kerosin stinkenden Abteile in Aufruhr. Im Bahnhof von Zürich angekommen, dachte Mimi, dass sie noch nie zuvor in einem so großen Gebäude gewesen war, und noch viele Jahre später sollte sie sich daran erinnern, dass sie sich damals gefragt hatte: »Was machen wir jetzt?«, worauf ihr einer geantwortet hatte: »Dafür gibt’s Governo, der hilft.« Es war wie ein Wunder, als hätte man ihre Gedanken gelesen. Die Luft roch nach Eisen und Rauch, ein Strom Männer und Frauen schob Wagen voller Gepäck, und er schien die Mauer aus Menschen, die an den Gleisen wartete, zum Einsturz bringen zu müssen. Und wieder meinte Mimi, ein Wunder zu erleben, als der durch die schmalen Bahnsteige zusammengedrängte und zu langsamen Schritten gezwungene Strom der Reisenden sich in der Menschenmauer verlor, von der auch die Orlando verschluckt wurden wie von Nebel. Onkel Peppe erwartete sie. Der Onkel war seit dem Vormonat da und hatte einen Platz zum Wohnen gefunden, wo man sehr wenig zahlte: »Ein Palast ist es nicht, aber man kann anständig leben.« »Aus Lecce seid ihr?« Spöttisch, in entstelltem Dialekt ausgesprochen, war dies der erste italienische Satz, den die Orlando zu ihrer Begrüßung hörten, als sie im Haus aus Glas ankamen. »Ihr habt Glück, ihr werdet nur wenige Nächte in diesem Haus bleiben, ich habe ein ganzes Jahr hier gelebt und war fast immer allein«, sagte ein Mann mit einem Gesicht voller Falten, einem einzigen Zahn, der ihm vorne im Mund baumelte, und einem Besatz fettiger grauer Haare. Governo – er war Lukaner – regelte die Neuankünfte und zweigte einen Teil der Mietzahlungen für sich ab. Er beschrieb den mit weit aufgerissenen Augen lauschenden Orlando ihr erstes Heim jenseits der rosaroten Alpen, die sie hinter sich gelassen hatten. Es war Ende Oktober, aber schon jetzt herrschte eine Kälte wie im tiefsten Winter, die Schals aus rauer Wolle genügten nicht, und auch die Hoffnung, weniger arm zu werden, war zerbrechlich geworden wie Glas. Woran erinnerte sich Mimi, wenn sie an jenen ersten Morgen weit weg vom Meer dachte? Ihre Füße rutschten in den Überschuhen aus Plastik, die Gummisohlen knirschten auf dem unebenen Boden der alten Fabrik; das Knirschen unter ihren Füßen war der erste Eindruck von diesem Haus. Die Feldbetten, hintereinander aufgestellt, bildeten mit ihren geraden Linien ein exaktes Quadrat, Trennwände markierten die kleinen Zellen und schufen viele kleine Zimmer, in denen viele andere Domenicas und Orlandos ihr neues Leben beginnen würden. Die Ecke, wo die Familie Orlando unterkam, war für Leute aus Lecce bestimmt. Davon gab es gut zwanzig, mindestens drei andere Familien, und sie kamen alle aus dem Capu, dem Salento, aus Orten wie Corsano, Acquarica, Salve oder Presicce. Die große Halle des Hauses aus Glas war nach einer strikten geographischen Ordnung unterteilt: Sizilianer, Kampanier, Sarden, Lukaner und Apulier. Ein verzerrtes Abbild des italienischen Stiefels. Die Kalabresen gehörten nicht mehr dazu, eines Nachts hatten sie Stühle verbrannt, um sich zu wärmen, und den ganzen Raum mit Flammen und Rauch erfüllt. Viele bekamen eine Rauchvergiftung, die Frauen löschten den kleinen Brand, indem sie mit Decken auf die Flammen schlugen und Schüsseln mit Regenwasser auf dem Boden ausgossen. Die Spitze des Stiefels sollte geräumt werden. Governo hatte entschieden, dass all ihre Landsleute für die Schuld der drei verantwortungslosen Kalabresen zahlen mussten. Vielleicht hieß er darum Governo, »Regierung«, vielleicht aber auch, weil er der erste Italiener gewesen war, der mit dem gearbeitet hatte, was sie dort »Ternitti« nannten. Ternitti war eine entstellte Form des Wortes Eternit, Ternitti wurden auch die Fabriken genannt, wo man mit Asbestzement zu tun hatte; schließlich war Ternitti im Salento das Synonym für Dach, Ziegel, Zement und den Großteil des Materials, das auf Baustellen benutzt wurde, auch wenn es kein Asbest war. Pionier zu sein hatte seine negativen Seiten und seine Privilegien. Governo galt als einer, der im Krieg gewesen war, einer, dem der Geruch von Schießpulver am eigenen Leib haften geblieben war. Aber das waren nur die Reste des Krokydoliths, des Blauasbests, den er seit zehn Jahren Tag für Tag mit der Harke in große Säcke einsammelte. Das Privileg bestand darin, jeden Zentimeter, jeden einzelnen Menschen und alle Regeln dieses Stücks Italien außerhalb von Italien zu kennen. »Man lebt ein bisschen beengt hier, aber bald werden die von der Ternitti euch ein Haus geben.« »Ein großes Haus?«, fragte der kleine Salvatore, der Sohn von Onkel Peppe. »Ein Haus aus Holz in der Nähe der Fabrik, klein, aber warm.« Mimi ignorierte den scharfen Ton, mit dem Governo das Adjektiv »warm« hervorhob. Das Haus aus Glas wurde im kommenden Winter Mimis Zuhause, und die Kälte begleitete sie wie eine Strafe. Sie drang ihr in die Knochen, brannte auf ihren Handrücken, die Zehen platzten auf wie reife Früchte. Auf der Nase wuchsen Frostbeulen, kleine gelbliche Blasen voller Blut, die ihr das Atmen schwermachten. Mama Rosanna arbeitete als Schneiderin im Akkord, wie viele andere Frauen in der Glasfabrik. Mimi half ihr, die Säume umzunähen und die Rückkehr der Männer von der Ternitti angenehmer zu gestalten. Jahre später sollte Mimi die Zeit des Glases wie die Frühgeschichte vorkommen, als die Männer draußen auf Jagd gingen, eine urzeitliche, primitive Jagd jedoch, von der man jeden Tag mit mehr Verletzungen zurückkehrte, Wunden vom Krallenhieb wilder Tiere, Kratzern, die keiner sehen konnte: Sie stammten von der Ternitti, Furchen im Fleisch, die die Membran der Eingeweide offenbarten. Bevor sie emigrierten, hatte Mimi einen langen, unvergesslichen Sommer erlebt. Wie Blitze aus einem unerreichbaren Jenseits kehrten in den eiskalten Nächten und an den langen Nachmittagen, die nie zu Ende gingen, der Abdruck von den warmen, spitzen Felsen auf der Serra und in Tricase Porto wieder, und ihr Duft, ein kostbarer Balsam des nachmittäglichen...