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E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Desiati Spatriati


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8031-4400-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4400-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



»Spatriati«, das sind in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art Schlagenden, die Spinner, die Ziellosen und Alleinstehenden, kurz: die, die nicht dazugehören - so wie Claudia und Francesco. Claudia, leuchtend rotes Haar, mondweiße Haut, ist extravagant und durchsetzungsstark. Francesco, die »schwarze Traube«, akzeptiert stumm Geschlechterrollen und das »Gesetz des ruhigen Lebens« auf dem Land. Doch seine Mutter liebt ihren Vater. Und aus dem Ehebruch der Eltern entsteht eine ungleiche Freundschaft: Er verehrt sie abgöttisch, sie behandelt ihn wie den kleinen Bruder. Sie ist ihm stets zwei Schritte voraus, er sieht zu, wie sie an die falschen Männer gerät. Ihr lässt die Provinz keine Luft zum Atmen. Er ist den Traditionen Apuliens eng verbunden und kann dort doch nicht er selbst sein. Francesco folgt Claudia nach Berlin, wo ihn grenzenlose, auch sexuelle Freiheit erwartet - und neue Fremdheit. Tastend erzählt Mario Desiati von einer Herkunft, die einen nicht ohne Kratzer loslässt. Ein warmer, zarter Roman über den Schmerz der Selbstbefreiung und den späten Mut, es anders zu machen.

Mario Desiati, geboren 1977 in Locorotondo (Apulien), lebt in Rom, Berlin und seinem Heimatort Martina Franca, wo auch »Spatriati« spielt. Er war Verlagslektor und hat Gedichte, Erzählungen und mehrere Romane veröffentlicht. Für »Spatriati« erhielt er 2022 den renommiertesten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega.
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Wenn eine Kaltfront über Land auf eine Warmluftmasse trifft, steigt die warme Luft nach oben. So entstehen Gewitter. Regen und Blitze, Wasser und Feuer. Ich habe nie verstanden, wer von uns beiden warm und wer kalt ist, aber ich schätze mich glücklich, meiner mir entgegengesetzten Front in Claudia Fanelli begegnet zu sein, der , wie man hier die Unbestimmten nennt, die aus der Art Schlagenden, die, die sich nicht einordnen lassen, manchmal auch die Spinner oder die Waisen, die Alleinstehenden, die Unverheirateten, die Landstreicher und Vagabunden, oder vielleicht, wie in unserem Fall, die Befreiten.

Zum ersten Mal fiel sie mir auf dem Schulhof auf, ich fand sie anziehend, ihre roten Haare, ihre mondweiße Haut und ihre prominente Nase. Sie wirkte, als sei sie aus einer anderen Welt, einer fortschrittlicheren und aufgeklärteren, hier hingebeamt worden.

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben. Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich »aus Gründen der Staatsräson« aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ihr würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen. Das Gericht, das Elisa und Vincenzo – trotz des offenkundigen Mangels an Liebe füreinander – dazu verurteilt hatte, zusammenzubleiben, berief sich auf das grausame Gesetz des ruhigen Lebens: ein harter Verhaltenskodex, der den Menschen vor allem in sehr kleinen Orten Disziplin und absolute Strenge abverlangt.

Bevor Claudia in mein Leben trat, war die Realität das, wovon sie mir erzählten, und nicht das, was ich sah. Ich gehörte zu jenen Menschen, die sich von anderen, von den Ereignissen, von Vorschriften und Vorurteilen leiten lassen. Das Ehepaar Veleno hielt mich zu einem unaufgeregten Leben ohne große Sprünge an, zum notwendigen Minimum, um mich über Wasser zu halten. Für sie hatte das, im Grunde genommen, gut funktioniert.

Er, ein stattlicher, draufgängerischer Sportlehrer – für eine kurze Zeit war er gemeinsam mit meiner Mutter zum Fechten gegangen –, der ständig mit einer Beretta M9 herumlief, deretwegen er zwar regelmäßig angezeigt wurde, von der er sich jedoch niemals trennen würde. Noch hatte ich nicht verstanden, dass sich weiße Männer mittleren Alters mit einer Pistole bewaffneten, um ihre verlorenen sexuellen Ruhmestaten zu kompensieren.

Meine Mutter arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus von Martina Franca. In meiner Kindheit hatte sie mich eine Zeitlang »schwarze Traube« genannt, denn in Martina bauten alle weiße, säuerliche Verdeca-Trauben an, aus denen man einen trockenen Wein herstellt, der einem schon nach zwei Schlucken zu Kopf steigt. Sie hingegen hatte einen Sohn mit olivgrünem, dunklem Teint, wie ihn die Bauern am Ende des Sommers haben oder Sarazenen in den alten Geschichten. Aus der schwarzen Traube wird Primitivo oder Negramaro gemacht. Weine, die einem den Verstand vernebeln. Es wäre nützlich gewesen, mir das bei den impulsiven Entscheidungen meines Lebens ins Gedächtnis zu rufen.

Niemand in meiner Familie sah so aus wie ich. Niemand war so dunkel wie ich, niemand hatte einen so hohen Haaransatz, eine fliehende Stirn, niemand trug wie ich die Last der Trägheit, die mich ans Sofa fesselte, wo ich geistlose Zeitschriften las. Nachmittags war ich oft allein, meine Mutter lebte praktisch im Krankenhaus, manchmal verschwand sie für zwei oder drei Tage am Stück. Mein Vater verlor sich nach der Schule in den Bars des Orts, wo er mit seinen Abenteuergeschichten und seiner Athletenvergangenheit prahlte, um dann mit zerknitterter Kleidung und bedeutungsvollem Grinsen nach Hause zu kommen wie jemand, der eine Heldentat vollbracht hat und es kaum erwarten kann, davon zu erzählen. Aber er erzählte nie etwas. Vielleicht weil ich Angst hatte, nachzufragen, oder vielleicht weil er dachte, ich würde es ohnehin nicht verstehen.

Meine Mutter und mein Vater waren sehr unterschiedlich, und sie waren es auch hinsichtlich der Zeitformen, die sie verwendeten, wenn sie mit mir sprachen. Elisa war eine Frau des Präsens, oft in der ersten Person Plural: »Wir gehen aus«. Mein Vater kannte nur die Vergangenheitsform und manchmal, wenn er über mich sprach, das Futur. Er war ganz mit seinen Erinnerungen verflochten, einem Katalog von Anekdoten, die für ihn selbst glorreich waren, aber langweilig für alle anderen.

In einem stimmten Vincenzo Veleno und Elisa Fortuna jedoch auf wundersame Weise überein: Sie waren zwar selbst keinen einzigen Tag aufs humanistische Gymnasium gegangen, aber sie hegten der Schule gegenüber den Respekt, den man etwas Unerreichbarem entgegenbringt. Dort waren ihre Vorgesetzten ausgebildet worden, Chefärzte, Direktoren, Schulräte. Alles große Geister, die aus dem Titus-Livius-Gymnasium von Martina Franca hervorgegangen waren. Meine Eltern sagten, Latein würde mir alle Türen öffnen, ich würde dort die Kinder der wichtigen Familien kennenlernen. Für sie war dieser Weg der vielversprechendste. Sie waren Menschen, die die Wahrheit der anderen ganz genau kennen, die eigene jedoch nicht.

***

Für Claudia existierte ich zunächst überhaupt nicht. Sie war die Größte an der Schule, ihre roten Haare flimmerten um ihren Hals – sie hatten die Farbe der Maraska-Kirschen, die meine Großeltern im Sommer pflückten, um sie in granat- und amarantrote Konfitüre zu verwandeln. Claudias Augen waren verschiedenfarbig, eins hellbraun und eins blaugrün, was man hier »Waldaugen« nannte. Sie hatte hervorstehende Knochen, spitze Wangenknochen, ein langes und schmales Gesicht.

In den Pausen leerte sich der Schulhof des Gymnasiums, die Schüler flüchteten sich an die Mauern, wo es schattig war. Sie war die Einzige, die in der Sonne blieb. Wenn jemand das Quadrat des Schulhofs von oben hätte betrachten können, hätte er eine Asphaltwüste mit einem kleinen roten Punkt in der Mitte gesehen. Wir hatten einige schlechte Angewohnheiten gemeinsam: Auch sie fummelte sich im Gesicht herum und wickelte Haarsträhnen um ihren Zeigefinger. Unter ihren Büchern stachen die bunten Einbände der Mangas von Rumiko Takahashi hervor; wenn sie zur Schule kam, hörte sie Musik mit Kopfhörern, alle anderen waren ihr egal. In den Zwischenstunden spitzte ich Bleistifte in ihrer Nähe und unterhielt mich mit meinen Schulkameraden, Langweilern mit Quadratschädeln und Philip-Morris-Atem. Einmal belauschte ich das gemeine Verhör, dem sie von einer Schar Mitschüler unterzogen wurde: »Wieso bist du immer allein?«, »Wieso bist du nicht so wie die anderen?« Damit wollten sie sagen: »Wieso bist du so, wie du bist, und nicht so wie wir?« Scheinheilig drangen sie weiter in sie, ließen nicht von ihr ab, und Claudia antwortete: »Es ist schon schwer genug, so wie ich zu sein, wie sollte ich da auch noch wie die anderen sein.«

Unerwiderte Liebe ist ein einfacher Zufluchtsort für einsame, unsichere Jugendliche, die noch nicht wissen, wer sie sind, und ich wusste damals so gut wie nichts über mich. Alles, was ich bis dahin gewesen war, hielt ich verborgen, aus Angst davor, man könnte mich für untauglich halten. Meine Kindheit war geprägt von katholischen Jugendfreizeiten auf den Feldern und schlechten Provinzfußballmannschaften, von Trainern, die schnell handgreiflich wurden, und Pfarrern mit Holzbein, die sich ihre verstümmelten Glieder in der Sakristei einreiben ließen, während die Draufgängerischsten von uns in der leeren Kirche Fußball spielten und dabei den Altar als Tor benutzten.

Die Velenos schienen sich wegen der roten Male, von denen meine Beine übersät waren, keine Sorgen zu machen, ob ich betete oder sündigte, war ihnen egal, selbst wenn ich voller Dreck, Erniedrigung und Düngergeruch von den Feldern nach Hause kam.

Das Schuljahr war soeben zu Ende gegangen, der Sommer lag in weiten Mohn- und Getreidefeldern vor uns. Als ich nach Hause kam, war niemand da. Ich gab mich der Stille hin, dann der Abenddämmerung, die die Zimmer in Dunkelheit hüllte, und wurde melancholisch. Ich aß nur ein bisschen in Wasser getunktes Brot mit Salz und Tomaten, mein Abendessen, wenn meine Mutter Spätschicht hatte und mein Vater wegen irgendwelcher undurchsichtigen Besorgungen unterwegs war. Ich schlief auf dem Sofa ein. Morgens blieb die Wohnung still, nichts war zu hören von den Geräuschen, die mich normalerweise weckten, wenn meine Mutter vom Krankenhaus zurückkam oder mein Vater das Waschbecken zum Rasieren einlaufen ließ und vor dem Spiegel mit sich selbst sprach. Mit verklebten Augen und ausgetrockneter Kehle ging ich benommen und planlos umher, bis ich auf dem Resopaltisch – einer Schulbank, die mein Vater aus seiner Fachoberschule als Schreibtisch für mich hatte mitgehen lassen – einen weißen Umschlag fand: »Für meine schwarze Traube«. Ich hatte den Eindruck, meine Mutter habe das mehr für sich selbst als für mich geschrieben.

Sie hatte das Futur verwendet, das beunruhigte mich.

Zum ersten Mal betrat ich das Krankenhaus, und meine Nase wurde von einem benzinartigen Geruch erfüllt, das Getrappel von Schuhen auf dem Fußboden hallte in den halbleeren Fluren wider, die...


Mario Desiati, geboren 1977 in Locorotondo (Apulien), lebt in Rom, Berlin und seinem Heimatort Martina Franca, wo auch 'Spatriati' spielt. Er war Verlagslektor und hat Gedichte, Erzählungen und mehrere Romane veröffentlicht. Für 'Spatriati' erhielt er 2022 den renommiertesten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega.



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