E-Book, Deutsch, 179 Seiten
E-Book, Deutsch, 179 Seiten
ISBN: 978-3-17-031224-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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2 Verwandtschaft mit anderen Verfahren
In diesem Kapitel soll zunächst im Sinne eines Überblicks auf das breite Spektrum von Möglichkeiten und Methoden eingegangen werden, Entspannung im therapeutischen Vorgehen zu nutzen. Im fünften Kapitel werden dann die beiden klassischen und wissenschaftlich am besten untersuchten Entspannungstechniken, die Progressive Relaxation und das Autogene Training, genauer dargestellt ( Kap. 5). Eine Entspannungsreaktion kann auf verschiedene Art und Weise ausgelöst werden. Wir haben im ersten Kapitel systematische von unsystematischen Vorgehensweisen unterschieden ( Kap. 1). Zu den systematischen Techniken zählen insbesondere die Progressive Relaxation, das Autogene Training, das Biofeedback und die meditativen Ansätze. Unsystematisch ist Entspannung mit den persönlichen Vorlieben und Erfahrungen im Lebensstil verbunden. Dazu zählen beispielsweise Arbeitspausen, Mittagsschlaf, Spazierengehen, Freizeitaktivitäten, Tanzen, Musikhören, Lesen, Ausgleichssport, soziale Kontakte, Schlafrhythmus, Sauna, Essen, Rauchen oder Alkoholkonsum. Letztere Beispiele machen deutlich, dass Entspannungsgewohnheiten, selbst wenn sie momentan gut wirksam sind, auch negative Auswirkungen haben können. So berichten Raucher wie in Kapitel 1.1. ausgeführt nicht selten über eine intensive Entspannungsreaktion, die mit dem Anzünden einer Zigarette und dem ersten tiefen Inhalieren verbunden ist ( Kap. 1.1). Dieser Ablauf, vor allem der erste tiefe Atemzug, scheint eine hohe Wirksamkeit und vor allem ein hohes Konditionierungspotential zu haben. Um die gleiche Intensität einer Entspannungsreaktion mit einer einfachen Entspannungsübung zu erreichen, bedarf es längerer Übungszeit und viel Erfahrung mit konditionierter Entspannung. Daher greifen Raucher in Stresssituationen doch lieber wieder zur gewohnten Zigarette. Transfer: Gewohnheiten zur Veränderung nutzen
Gewohnheiten haben für unsere Alltagsbewältigung eine große Bedeutung und sind zudem schwer veränderbar. Daher empfiehlt Krampen (2013) folgende didaktische Vorgehensweise: Bevor man zum Beispiel in einer Gruppe in die Technik eines Entspannungsverfahrens einführt, lässt man die Teilnehmer über ihre bisherigen Entspannungsvorlieben berichten. Das was ein Mensch schon kann und gewohnt ist, sollte dabei – wenn immer möglich – positiv bewertet werden. Oft beklagen Teilnehmer in diesem Zusammenhang auch frühere negative Erfahrungen mit Entspannungstechniken. Hier empfiehlt es sich zunächst kurz genauer nachzufragen, wie die Übungen angeleitet und durchgeführt wurden. Auch dabei sollten die bisherigen Versuche nicht abgewertet werden, sondern aus der bisherigen Enttäuschung eher Räume für neue Erfahrungen geöffnet werden. Bei der weiteren Vermittlung der Entspannungstechnik kann dann an den berichteten Vorerfahrungen der Teilnehmer angeknüpft werden. Der Bezug auf die vertrauten Entspannungserfahrungen reduziert die Anspannung vor dem neuen Schritt und die oft hohen Erwartungen an das zu lernende Entspannungsverfahren werden auf ein realistisches Maß begrenzt. Sehr verbreitet ist die Vorstellung, dass bei der ersten Übung direkt intensive Entspannungserlebnisse auftreten oder dass man »abschalten« müsse. Besser ist daher die Botschaft, dass es zunächst um ein langsames Vorgehen und Vertrautwerden mit der Körperwahrnehmung geht. Die Aufmerksamkeit wird immer wieder auf kleine Veränderungen gelenkt und Erfolge beim Lernen werden systematisch verstärkt. Entspannungsverfahren sind unterschiedlich systematisch aufgebaut und standardisiert (Petermann und Vaitl 2004). Trotz gemeinsamer Wirkfaktoren unterscheiden sich systematische Verfahren durch die Vorgehensweise, wie der Entspannungszustand eingeleitet wird (Induktion), sowie den jeweiligen physiologischen oder mentalen Schwerpunkt, auf den die Entspannung gelenkt wird (z. B. Muskelwahrnehmung, Sprache, Imagination, Atmung, Bewegung). Auch die zugrundeliegenden Erklärungsmodelle differieren und sind in unterschiedlichem Ausmaß auch philosophisch und ideologisch geprägt, bzw. haben ein von der europäischen Medizin abweichendes Erklärungsprofil (z. B. Yoga, Tai Chi). Nicht alle haben den Übergang in eine alltagsnahe Kurzform der Entspannungsübung vorgesehen, so dass körperorientierte Entspannungsverfahren oft Zeit beanspruchen und im Tagesablauf gezielt eingeplant werden müssen. Insbesondere Yoga, Qi Gong und Tai Chi brauchen auch etwas Raum für die Übungen und Bewegung, so dass diese Entspannungsformen kaum am Arbeitsplatz sondern mehr in der Freizeit durchgeführt werden können. Eine wichtige Differenzierung ist daher der Schwerpunkt bzw. das Hauptziel des Verfahrens. Bei progressiver Relaxation und Autogenem Training steht das Auslösen und Lernen der Entspannungsreaktion (Konditionierung eines Entspannungsreflexes) ganz im Mittelpunkt, während beispielsweise imaginative und meditative Verfahren oder auch die Verfahren der Achtsamkeit über eine Aktivierung der inneren Erlebniswelt Entspannung eher als Nebeneffekt nutzen. Auch Yoga oder Qi Gong betonen zunächst den körperaktivierenden Ansatz und regulieren das Spannungsniveau über die Atmung. Sie erreichen die eigentliche Entspannung erst durch die Gesamtübung vor allem als Ergebnis. Eine Übersicht über die Schwerpunkte der einzelnen Verfahren findet sich in Tabelle 10.1 ( Tab. 10.1). Inhaltlich gibt es bei den körperorientierten Entspannungsverfahren auch einen vielfältigen Bezug zu den verschiedenen Formen der Physiotherapie. 2.1 Physiotherapie und Sport (Entspannung und Bewegung)
Zur Entspannungsreaktion im Sinne eines ganzheitlichen Erlebnisses gehört vor allem die Erfahrung der Polarität zwischen Anspannung und Entspannung. Diese Polarität ist in klassischer Weise Gegenstand der Physiotherapie, die sich bei der Behandlung an den Beschwerden und den Funktions-, Bewegungs- bzw. Aktivitätseinschränkungen der Patienten orientiert. Entsprechend gab es immer schon eine Nähe zu körperorientierten Entspannungsverfahren und ein Kennenlernen der Progressiven Relaxation ist beispielsweise ein – wenn auch kleiner – Bestandteil der physiotherapeutischen Ausbildung (Krahmann und Haag 1996). Das Wort Physiotherapie beinhaltet die Begriffe »Körper« und »Behandlung« und hat ihre Wurzel in der Krankengymnastik. Früher war es vor allem eine Form des spezifischen Trainings und der äußerlichen Anwendung von Heilmitteln, mit der die Bewegungs- und Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers wiederhergestellt oder verbessert werden sollte. Heute arbeiten Physiotherapeuten nicht mehr nach mechanistischen Modellen, sondern haben Homöostasemodelle des Organismus in ihre Behandlung integriert. Diese komplexeren Formen der Sichtweise unseres Organismus verbinden das muskuläre System mit den Funktionen des vegetativen Nervensystems, des Lymphsystems, der Faszien, der Verdauung, hormonellen Funktionen und vor allem auch psychischen Reaktionsweisen und sozialer Funktionsfähigkeit. Sporttherapie, Entspannungsverfahren, Manuelle Therapie, Craniosacral-Therapie, Osteopathie sind ebenso zum Standard geworden, wie beispielsweise der Einfluss der Kinesiologie und der traditionellen chinesischen Medizin. Nicht alle Entwicklungen in der Physiotherapie sind wissenschaftlich ausreichend validiert, dennoch entwickelt die Physiotherapie so umfänglich wie kaum ein anderer Bereich in der Medizin ein bio-psycho-soziales Krankheits- und Gesundheitsmodell. Im präventiven Bereich steht das Erhalten bzw. Wiederherstellen der natürlichen Funktion des Körpers im Vordergrund. In der früheren Krankengymnastik hatten sich insbesondere Atemtechniken zur Entspannung etabliert. Eine Umfrage von Krahmann an bundesdeutschen Krankengymnastikschulen ergab 1986, dass dort als häufigstes Verfahren die Atem- und Lösungstherapie nach Schaarschuch und Haase gelehrt wurde (Krahmann u. Haag 1996). Damals lag beispielsweise die Progressive Relaxation an zweiter Stelle. Krahmann unterscheidet bei der Anwendung von Entspannung in der Physiotherapie zwischen Entspannung als Technik und als Prinzip: • Als Technik dient Entspannung der Beseitigung schmerzhafter Muskelspannung, muskulär bedingter Bewegungseinschränkungen der Gelenke oder zu Verbesserung eines gestörten Muskelgleichgewichts. Techniken wie die Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation PNF zielen darauf ab, nach maximaler Muskelanspannung eine maximale Muskelentspannung zu erreichen oder durch Anspannung von Antagonisten gegen Widerstand eine Entspannung von Agonisten zu erreichen. Praktische Beispiele für solche Vorgehensweisen sind unter anderem die Mitchell-Technik und Alexander-Technik...