E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Demuth Niederungen und Erhebungen
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95757-739-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95757-739-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Bauernhof, eine Kleinstadt, ein Haus am Fluss, eingebettet in das durch Eiszeitgletscher geformte Geländeprofil Süddeutschlands. Sie bilden den Erfahrungsraum dieser autobiografischen Erzählung, in dem sich die deutsche Geschichte spiegelt. Die äußere Gegend wird dabei zur inneren Landschaft. Aufgewachsen in einem Landstrich, der lange nicht alles preisgegeben hat, was im Nationalsozialismus etwas gegolten hat, vor allem Zucht, Unterordnung und Gehorsam, sind es besonders ältere Geschichten, die sich in der Landschaft wie im eigenen Leben Volker Demuths eingelagert haben, Geschichten von Aufbegehren, Freiheitsdrang und einem schwierigen Glück. Vom Bauernkrieg des 16. Jahrhunderts über den Zweiten Weltkrieg und die Adenauer-Zeit bis in die globalisierte Gegenwart führt die literarische Reise durch Erinnerungen, Bedeutungen und Mythen. Die Lebensorte werden dabei zum Fahndungsraster einer schmerzlichen und zuletzt befreienden Spurensuche und dem Versuch einer Antwort auf die Frage, wo man hingehört und wer man ist.
Volker Demuth, 1961 geboren in Süddeutschland, war Professor für Medientheorie an der Fachhochschule für Gestaltung in Schwäbisch Hall. 2004 gab er die Lehrtätigkeit auf und lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und publiziert in verschiedenen Kunst- und Kulturzeitschriften.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Randlage Kleinstadt
Du musst immer wissen, woher du kommst. Ein Satz, den ich zu jener Zeit mehr als ein Mal zu hören bekam, als es danach aussah, dass ich mich absetzte, dass ich das Weite suchte, als ich lieber heute als morgen weg wollte von da, wo ich herkam. Ein Satz, der nicht bloß etwas feststellen, der vielmehr etwas festlegen oder festsetzen wollte von mir, und das zeitlebens. Der mir das auf den Rücken schnallen wollte, wie ein niemals abzuschüttelndes Gepäck: das Herkommen. Es klang nach Unausweichlichkeit, nach dem Gesetz einer nicht lösbaren Verbindung, und irgendwie klang es auch nach grimmiger Abrechnung. Aber was wurde mir da aufgebunden? Es gibt Fragen, die scheinen zuerst kaum lösbar, doch irgendwann findet man eine bleibende und verlässliche Antwort darauf. Und es gibt diese anderen Fragen, auf die man sogleich eine Antwort in Händen zu halten glaubt, dann aber sieht man, wie sie einem durch die Finger rinnen, bis man ohne etwas Greifbares dasteht. Genau so erging es mir bei der Frage, woher ich komme. Je älter ich wurde und je länger ich das Herkunftsgepäck mit mir herumschleppte, desto weniger sah ich mich imstande, eine Antwort darauf zu geben. Dabei kam mir jeder weitere Versuch, so ernsthaft er gemeint war, doch in der nächsten Sekunde völlig nichtssagend vor. Nichts konnte mich länger als ein paar Tage oder Wochen zufriedenzustellen. Irgendwann begriff ich, in jeder meiner Antworten lag etwas Trügerisches. Ich begann die Vermutung zu hegen, dass es diesen fragwürdigen Ort Herkunft überhaupt nicht gab. Er war ein leerer, wechselnder Name, das Lockmittel eines selbst verwünschten Märchens. Letztlich nichts als eine Erfindung, die sich umso fasslicher und unumstößlicher gab, je illusionärer sie in Wahrheit war. Eine Zeitlang versuchte ich, mich selbst davon zu überzeugen, dass die Herkunft sich in ein Unterwegs verwandelt hatte, dass das Zuhause kein Ort wäre, sondern immer woanders, doch glaubte ich in Wahrheit nicht so recht daran. Am Ende hielt ich es für eine weitere Selbsttäuschung. Sicher war ich mir nur darüber, dass mit der Frage, woher man kam, eine ganze Landschaft von Erfindungen, Träumen, Vermutungen und Ahnungen auftauchte. Mit den Jahren sah ich ein, dass es Erfindungen gab, die sich von der Wirklichkeit nicht unterscheiden ließen. Und wahrscheinlich, zumindest dachte ich das, ging es genau darum, wenn ich wissen wollte, woher ich kam. Um jene innere Geografie, um die Landschaft aus Empfindungen und die Karte der Gedanken, die sich in mir breitmachten und mein Fleisch und Blut ausfüllten. An langsame Tage erinnere ich mich und an die arbeitssame, der Ordnung hingegebene Stadt. Die frühen Kindheitsjahre hindurch war sie mir mit ihren nüchternen Straßen und einfachen Geschäften etwas gewesen, wo am Ende eines jeden Tags der ganze Ort in die Nacht umsiedelte, in die Dunkelheit eines Hauses, wo die Zeit sich allmählich dichter ins Gewebe meiner Träume fädelte. Das Haus – das heute in andere Hände übergegangen ist, indem nun eine bosnische Familie darin wohnt, die im bisher letzten europäischen Krieg nach Deutschland geflohen ist – gehörte der sogenannten Adenauer-Ära an und war eins der schmucklosen, zweckdienlichen Arbeiterhäuser einer oberschwäbischen Kleinstadt, die sich nicht ohne spürbare Mühe aus den Nachkriegsschwierigkeiten herauszuwinden versuchte. Damals wusste ich nicht, wie das Haus, ganz anders als der Großelternbauernhof, mich einschloss und mit welcher Enge die Stadt das Haus umgab. Bauer zu werden, den Hof zu übernehmen, wie es der Erbfolge gemäß, nun, da der Paul nicht aus dem Krieg zurückgekommen war, an ihm gewesen wäre, hatte sich der Vater standhaft geweigert. Ich denke mir, er hatte es zu oft zu hart gehabt dort als Kind, der Großvater in der Straßenmeisterei beschäftigt, um etwas Geld heimzubringen, der große Bruder im Osten, und er, der Zwölfjährige, mit dem Kuhgespann allein unterwegs zur Mühle oder beim Futterholen morgens um fünf auf den Riedwiesen. In den Kriegsjahren, wo auch auf anderen Höfen Mangel an Arbeitskräften herrschte, war er, sobald im Sommer die großen Ferien begannen, an andere Höfe verliehen worden, hatte dort die Arbeit eines Erwachsenen verrichten müssen, bis er sich nicht mehr auf den Beinen hatte halten können und auf dem Feld einfach umgefallen war, zusammenbrach. Und die Mutter, die in der Stadt, wo sie geboren war, sich eine Arbeit als Näherin und ein zwar zurückhaltendes, aber doch selbstbewusstes städtisches Aussehen zugelegt hatte, weigerte sich, aufs Dorf zu ziehen. So war der Hausbau am Stadtrand das äußere Zeichen dafür, dass ihre kurz zuvor erfolgte Heirat die Entscheidung gegen das bäuerliche Dorfleben zur Voraussetzung hatte. Solange ich im Haus am Stadtrand lebte, also meine ganze Kindheit und Jugend hindurch, verschwand der Vater täglich in der Werkstatt des Unternehmens, dessen anfallende Schlosserarbeiten er ausführte, während die Mutter zu den hundert Näherinnen in die Knabenmodenfirma ging. Zwei Mal im Jahr, im Frühjahr und Herbst, bestellte man mich in die Firma ein, und ich musste einen Nachmittag lang die Kollektion für die nächste Saison vorführen, vor dem Chef auf und ab gehen, mich drehen, wonach verschiedene Änderungen mit Nadeln abgesteckt wurden. Nach der Pleite der Firma – wobei ich mir einrede, meine Model-Dienste hätten nicht unmittelbar etwas damit zu tun gehabt – musste die Mutter eine neue Arbeit annehmen, die nichts mit dem zu tun hatte, was sie gelernt hatte. Die Arbeit stellte jene andere Welt dar, in der die Eltern jeden Tag untertauchten, sich für uns Kinder entzogen und aus der sie am Abend etwas ins Haus zurückbrachten, einen fremden, feindseligen Geruch einschleppten, eine beklemmende Abwesenheit und verdrießliche Erschöpfung. Mein Zimmer lag im oberen Stockwerk, und von der Schräge des Dachs gedrängt, neigte sich darin an einer Seite die Wand. Dort, wo höhere Möbel keinen Platz fanden, war mein Bett aufgestellt. Das hatte Folgen. Wie durch ein magisches Gesetz führte es in jenen Übergangszonen meines müden Bewusstseins oder von im Fieber verbrachten Tagen, wo sich die Dinge in eigenartig flüssige Gestalten und Undinge auflösten, dazu, dass die Mauer ganz langsam aus ihrer Verankerung geriet und begann, die Wand aus ihrer steinernen Starrheit zu lösen. Tatsächlich sah ich, wie sie sich auf mich zubewegte. Zentimeter um Zentimeter. Und je ängstlicher ich zu ihr emporstarrte, desto unaufhaltsamer, so kam es mir vor, sank sie auf mich herab, bis sie mich, noch bevor ich in einem unruhigen Schlaf Zuflucht finden konnte, unter sich begraben würde. Jede dieser fantastischen Nächte ließ mich am anderen Morgen mit der Gewissheit zurück, dass es für dieses eine Mal noch nicht geschehen, dass ich noch einmal verschont geblieben war. Dass jedoch jenes Schicksal nicht aufgehoben, sondern für mich lediglich aufgespart blieb. Erst sehr viel später, lange nach dem Verlassen des Hauses, sollte die Wand aus jenen Zimmern verschwinden, in denen ich fortan lebte, in den Hotels, den wechselnden Unterkünften, auch im Haus am Fluss. Trotzdem rechne ich jederzeit damit, dass sie, wie alle gespensterhaften Dinge, irgendwann wiederkehren könnte. Während mir die Jahre in den dünnen Leib wuchsen – unter dem Eindruck der ersten Fernsehbilder einer Hungerkatastrophe, die uns vom afrikanischen Kontinent erreichten, wurde ich nun gelegentlich Biafra-Kind genannt –, war der Arbeitergroßvater in dem Haus gestorben. Mit einem schauerlichen Gefühl hatte ich verfolgt, wie der Sarg die enge Treppe heruntergehievt wurde, worin der Großvater entweder ein letztes Mal auf beiden Beinen oder im Kopfstand das Haus verließ. Die Eltern gingen standhaft und bisweilen verdrossen neben uns Kindern durchs Dick und Dünn ihrer Ehe. Ich trieb mich, wenn ich nicht in der Schule saß oder auf dem Wiesenstück vorm Schlachthof mit anderen Fußball spielte, allein in der Stadt herum. Doch sind es vor allem Bilder von ihrem Rand, die dabei in meiner Erinnerung auftauchen, durch die Zeit und die Zwischenräume späterer Lebensphasen verschoben und verzerrt. Dieser Rand aber, der Eindruck ist in mir beständig geblieben, hatte etwas Undurchsichtiges, Vages und dabei doch eine seltsame Festigkeit, als würde er irgendetwas zusammenhalten oder einschnüren. Von seinen Neubauten war es nicht weit zum Ausgestoßenen, den Müllhalden und Baracken. Ich sehe mich dort jahrelang in der Mondlandschaft der Kiesgruben und dem Leblosen ihrer Abraumhalden herumsteigen. Oder im Ödland hinter den Glashäusern jener Gärtnerei bei den Eisenbahnschienen, einer weiteren unbeachteten Randzone der Stadt. Bilder nicht mehr existierender Orte, mit denen mich etwas verbindet. Die für mich eine Färbung besitzen und die in mir etwas auslösen, eine Art Resonanzschwingung. Unser Verhältnis zur Vergangenheit wird hauptsächlich von jenen Dingen beeinflusst und vielleicht sogar angeleitet, die wir als unsere eigene Geschichte im Gedächtnis bewahrt haben. In jedem von uns gibt es so etwas wie eine besondere Stimmung oder ein Vorurteil des Erinnerns. Ich habe es...