E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Demir Unter Extremisten
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-99001-260-4
Verlag: edition a
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein Gefängnisseelsorger blickt in die Seelen radikaler Muslime
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-99001-260-4
Verlag: edition a
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Sie haben gemordet, Bomben gebaut, aufgehetzt, waren im Syrienkrieg. Jetzt, in Haft, zerbrechen die einen fast daran. Sie verstehen nicht, wie es mit ihnen so weit kommen konnte, flehen Allah um Vergebung an und wollen ihrem Leben ein Ende setzen. Die anderen sind hart wie Stein. Sie missbrauchen das Gefängnis als Brutstätte der Radikalisierung und ihm, dem Gefängnis-Imam, der an die Schweigepflicht gebunden ist, vertrauen sie an: Sobald wir draußen sind, werden wir wieder morden, Bomben bauen, aufhetzen.
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SIND EXTREMISTEN AUCH NUR MENSCHEN WIE DU UND ICH?
Jene tausenden Stunden, die ich nunmehr mit meiner Tätigkeit als muslimischer Gefängnisseelsorger in der Justizanstalt Josefstadt zubringe, stellen Tag für Tag aufs Neue ein Abtauchen in die Untiefen mir fremder Welten dar, schroffe, zerklüftete Seelenlandschaften, und wenn ich sie durchwandere, lerne ich von Mal zu Mal mehr darüber, wie diese zumeist jungen Männer (95 Prozent der mir Anvertrauten sind männlich) ticken, wie sie denken, wie sie fühlen, was sie dazu bringt, einen Weg einzuschlagen, der Menschen weltweit ins Verderben stürzt und jene, die den Terror nicht am eigenen Leib erfahren, vor dem Schreckgespenst seines jederzeit möglichen Auftretens erschaudern lässt. Und ich erkenne dabei, dass der Bedrohung, die von diesen Fundamentalisten ausgeht, zwei, ebenso fundamentale, Kommunikationsprobleme zugrunde liegen. Das eine habe ich bereits am Beispiel des Tschetschenen Musa in Grundzügen angedeutet – und es ist wohl besonders schwer zu lösen, weil es ein gesamtheitlich gesellschaftliches Problem darstellt. Es hat mit einem eklatanten Mangel an Bildung zu tun, im Konkreten damit, dass die allermeisten Muslime, die in die Fänge von IS-Predigern geraten, wenig bis gar nichts über den Islam wissen, sich jedoch aufführen, als hätten sie die Heilige Schrift selbst verfasst. Sie haben zumeist nicht den blassesten Schimmer, was tatsächlich im Koran steht (kennen also nicht eine Sure), haben nicht den Funken einer Ahnung, was die Sunna vorgibt (was also Muhammad, der letzte Prophet, gesagt, getan oder gebilligt hat), und sind auch völlig blank, wenn es um die Hadithe geht, jene Aufzeichnungen also, die das Wirken des Propheten zeigen. Koran. Sunna. Diese zwei Begriffe kommen im Zusammenhang mit dem Islam besonders häufig vor, und man sollte sie in ihren Grundzügen und Bezügen zueinander erfasst haben, um ein Gespür für die Mechanismen des Islam zu erhalten – einer Religion im Übrigen, die, wie wir noch sehen werden, mit Christentum und Judentum unwahrscheinlich viel gemein hat und sich weniger unterscheiden, als die meisten Menschen es für möglich halten würden. Unter dem Koran versteht man nicht mehr und nicht weniger als das pure Wort Gottes. Von A bis Z. Was nicht gleichbedeutend ist mit dem Aufruf, auch alles wortwörtlich zu nehmen – schließlich gibt es ergänzende Prophetengeschichten, Metaphern et cetera. Wie auch die Verpflichtung, historische Bezüge nicht einfach auszublenden und die Heilige Schrift eins zu eins auf die Gegenwart anzuwenden. Der Koran ist die unabänderliche, in allen Fassungen und Sprachen weltweit wortgleiche Botschaft Allahs an die Menschen, herabgesandt an den Propheten Muhammad im Verlauf von 23 Jahren. Sie weist 114 Suren mit einer unterschiedlichen Anzahl von Versen auf und besteht seit nunmehr 1400 Jahren in der ewiggleichen Fassung. Der Koran ist die Hauptquelle der Muslime. Ihn jedoch, wie es oft geschieht, als direktes Gegenstück zur Bibel zu sehen, ist problematisch, wenn nicht grundlegend falsch. Die Bibel ist – im Vergleich zum Koran und sehr verallgemeinernd dargestellt – ein in epischer Breite abgefasstes Kompendium aus Gottes Wort, dem Wort Jesu, seinem Leben, seinen Taten, Bezeugungen durch die Apostel, mit all ihren Evangelien, Psalmen et cetera. Der Koran indes ist das pure Wort des Herrn. Unkommentiert. Darum bedarf es umso mehr einer Sunna und der vielen Hadithe, um ihn unter möglichst zeitgemäßer Deutung anwenden zu können, um also den Muslimen den Umgang mit ihm zu erleichtern und eine Praxisnähe für den Alltag herzustellen. Die Sunna besagt, was Prophet Muhammed zeitlebens tatsächlich getan, gesagt oder gebilligt hat. Tatsächlich getan? Woher weiß ich das als Muslim oder auch bloß als ein am Islam Interessierter? Eine berechtigte, ganz und gar entscheidende Frage, an der sich auch die Gelehrten gelegentlich reiben. Hier kommen die so genannten Hadithe ins Spiel. Sie sind die verschriftlichten Überlieferungen, also Zeugnisse darüber, was Muhammad getan, gesagt oder gebilligt haben soll. Die Sunna (was Muhammad tatsächlich sagte und tat) findet sich in diesen Hadithen wieder, ist somit Teil einer Vielzahl von Büchern, in denen die Abertausenden von Hadithen gesammelt sind. Viele dieser Hadithe sind oft belegt, hunderte Male und öfter, entstammen strikt voneinander abweichenden, historisch gesicherten Quellen und verfügen somit über eine äußerst hohe Glaubwürdigkeit. Andere wiederum sind bloß einige Male oder überhaupt nur einmal »belegt« und allein deshalb mit der allergrößten Vorsicht zu genießen. Bei Hadithen dreht es sich demzufolge – in heutiger Diktion – um überwiegend kurzgehaltene Statements über Muhammad und sein Denken, Sagen, Tun. Behandelt eure Frauen am besten, ist etwa eines. Vielfach belegt. Äußerst authentisch. Der Prophet hat gerne Datteln gegessen, ein anderes. Was bedeutet das für mich, als ein Muslim, der in Wien lebt und nicht auf die nächste Palme klettern kann? Muss ich nun auch Datteln essen? Nein, natürlich nicht. Auch ist die Sunna keine Pflicht, sie legt Zeugnis ab über Leben und Wirken des Propheten. Muslime folgen der Sunna zum Beispiel beim Ablauf des Gebets. Es sind dies zwei bewusst extrem kontrastierende Beispiele, die bloß veranschaulichen sollen, worum es geht. Und aufzeigen, dass dem Missbrauch von Hadithen Tür und Tor geöffnet ist, stoßen sie auf – nennen wir es – unmündige, religiös unbedarfte Muslime, Menschen also, die wenig bis nichts über den Islam wissen. Eigenes Unwissen einzugestehen ist dem Menschen seit jeher ein Gräuel. Trifft einen Muslim dieser Vorwurf, wiegt er doppelt schwer, denn der Islam dient vielen Menschen identitätsstiftend, ist also für das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl von entscheidender Bedeutung, tragen sie doch ihr Bekenntnis im guten Glauben wie eine lodernde Fackel ihrer selbst vor sich her. Gerade in jüngerer Zeit sprießen solch zweifelhafte, wahllos erfundene Hadithe wie Giftpilze nach einem warmen Spätsommerregen, insbesondere über das Internet. Selbstverständlich lassen sie sich bei genauer Beschau nicht aus des Propheten Leben ableiten, nicht in dieser oder auch nur ähnlicher Form. Doch wen interessiert’s, solange sie nicht hinterfragt werden? Und so geistern sie als angebliche Worte, Gedanken, Taten oder Neigungen des Propheten in unüberschaubarem Wildwuchs durch die islamische Welt, und sie öffnen – weil unreflektiert für bare Münze genommen – extremistischen Umtrieben Tür und Tor. Wer also nicht wenigstens in Ansätzen Bescheid weiß, ist dem, was ihm ein x-beliebiger Hinterhofprediger (aber bisweilen auch selbsternannte Autoritäten) aufschwatzt, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Und so fällt es auch vielen meiner Häftlingen wie Schuppen von den Augen, wenn sie erstmals im Leben mit dem Koran, dem unverfälschten Wort Gottes konfrontiert werden und ich ihr falsches Islambild mit seiner tatsächlichen, friedfertigen Natur und einem gütigen, barmherzigen und gerechten Gott zu korrigieren versuche. Dass solche Bestrebungen einer Richtigstellung gerade Imame der Islamischen Glaubensgemeinschaft, wie auch ich einer bin, bei IS-Propagandisten auf ihrer schwarzen Liste der Todfeinde stellen, ist nicht weiter überraschend. Unsereins wird als bedrohlicher denn jeder Kreuzzügler eingestuft – worunter Extremisten nicht bloß die Teilnehmer an den christlichen Kreuzzügen des Mittelalters verstehen, die die päpstlichen Heere bis Jerusalem geführt haben, sondern auch jene an der späteren Reconquista, die mit besonderer Grausamkeit (und ebenfalls »im Namen Gottes«) gegen Muslime und Juden geführte Wiedereroberung und »Säuberung« der Spanischen Halbinsel nach fast achthundert Jahren maurischer Herrschaft – abgeschlossen 1492 mit dem Fall von Granada, der letzten arabischen Bastion in Andalusien. Dass der IS in seinen Propagandaschriften zum Kreuzzug gegen Imame aufruft, verschärft meine persönliche Situation. Immerhin stehe ich in der Öffentlichkeit und bin als Leiter der Islamischen Gefängnisseelsorge darum bemüht, schwarze Schafe zurück auf den Pfad der Tugend zu leiten. Dennoch werde ich nicht müde, mich tagein tagaus gegen jede Form von Extremismus und für die Bekämpfung von Terror auszusprechen. Auch habe ich eine entsprechende Deklaration initiiert und – mit dreihundert Imam-Kollegen – unterfertigt. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, tun muss. Erst kürzlich hat der österreichische Verfassungsschutz die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich darüber informiert, dass die offizielle, im Darknet kursierende Zeitschrift des IS dazu aufgerufen hat, alle Imame der Unislamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich zu ermorden: Tötet sie allesamt, indem ihr sie schlachtet, ihnen die Köpfe abschneidet, sie in die Luft sprengt, mit dem Auto überfahrt oder auf eine andere Weise eliminiert. Nicht gerade ermunternde Worte. Und doch – darin herrscht unausgesprochener Konsens in der Welt der aufrechten, dem friedfertigen Weg des Islam dienenden Imame – dürfen wir nicht einen Augenblick zögern, unsere Arbeit fortzuführen, das Wissen der Menschen über den Islam zu stärken. Auch wenn es mir manchmal kalt den Rücken hinabläuft, wenn ich zum hundertsten, tausendsten Mal den Satz höre: Imam, ich schwöre, das habe ich nicht gewusst. Ja, da ist er wieder, dieser fundamentale Mangel an Bildung, das Unwissen über die eigene Religion, das so viele Missverständnisse und...