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E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
Demand / Knörer MERKUR 8/2025, Jg.79
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12443-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nr. 915, Heft 08, August 2025
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
ISBN: 978-3-608-12443-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Weltgeschichte
- Rechtswissenschaften Öffentliches Recht Verwaltungsrecht Schul-, Hochschul- und Prüfungsrecht, Wissenschaftsrecht, Forschung
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
- Geisteswissenschaften Philosophie Ethik, Moralphilosophie
Weitere Infos & Material
ESSAY
Navid Kermani
Der Westen, in dem ich geboren bin
Axel Honneth
Der Standpunkt moralischen Fortschritts.
Eine Verteidigung im Geiste Kants
Helmut Müller Sievers/Greg Laugero
Christian Meiers „Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte“ in der Ära Trump.
Ein Lektüregespräch
KRITIK
Marietta Auer
Rechtskolumne.
Die Kosten zweckwidrigen Rechts am Beispiel des WissZeitVG
Rachel Nolan
Was soll ich hier noch?
Der Niedergang Venezuelas
MARGINALIEN
Jürgen Osterhammel
Bye, Bye Soft Power
Stefan Kühl
Wertekatalog, Sprichwörter und Leerformeln.
Zur Arbeit von Expertenkommissionen
Susanne Neuffer
Recherche
Marius Goldhorn
Die Prozesse
Anke Stelling
Nur so viel (Sechs Superlative)
DOI 10.21706/mr-79-8-20
Axel Honneth
Der Standpunkt moralischen Fortschritts
Eine Verteidigung im Geiste Kants
Man ist sich heute weitgehend darüber einig, dass erst mit der Herausbildung der europäischen Moderne die Idee entstanden ist, wir sollten uns die Zukunft als Fortsetzung eines weit in die Vergangenheit zurückreichenden Prozesses des moralischen Fortschritts vorstellen; seither haben wir uns daran gewöhnt, die Weltgeschichte so zu betrachten, als habe sie zwar nicht kontinuierlich, aber doch aufs Ganze gerechnet moralische Verbesserungen mit sich gebracht, die der Verbreitung von sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit dienlich waren. Gegen diese Vorstellung werden heute massive Vorbehalte geltend gemacht, die teils mit empirischen Gründen, teils aber auch mit ihrerseits wiederum moralischen Gründen gerechtfertigt werden; und man wird sich schnell eingestehen müssen, dass eine solche Skepsis angesichts der politischen Weltlage auch nicht vollkommen an den Haaren herbeigezogen ist. Wer wird infrage stellen wollen, dass die großen Hoffnungen der Jahre direkt nach den demokratischen Revolutionen im Osten Europas ebenso schnell wieder zerstoben sind, wie sie aufgekommen waren: Der weiter zunehmende Graben zwischen Arm und Reich, die neoliberale Entfesselung der Finanzmärkte, die neuentbrannten Kriege in diversen Regionen der Welt, die globale Ausbreitung diktatorischer Regime und das drohende Herannahen einer ökologischen Katastrophe, all das sind Zeichen, die statt in die Richtung eines weiteren moralischen Fortschritts in Richtung der Wiederkehr eines gesellschaftlichen Naturzustands, eines Krieges aller gegen alle weisen.
I.
Allerdings setzt die heutige Kritik nicht an diesen Regressionstendenzen der jüngsten Gegenwart an; sie greift wesentlich tiefer und behauptet, dass es nicht nur heute keinen Grund gebe, auf eine zukünftige Zunahme von Gerechtigkeit und Friedfertigkeit zu vertrauen, sondern dass es noch nie einen guten Grund dafür gegeben habe.1 Solche prinzipiellen Vorbehalte gegen die Vorstellung, die menschliche Geschichte lasse sich als ein Prozess des moralischen Fortschritts begreifen, werden gegenwärtig mit sehr unterschiedlichen Argumenten begründet.2 Ein erster Einwand liegt auf der Hand, und er wurde auch schon lange vor der heute grassierenden Kritik vorgetragen. Er verweist auf die Tatsache, dass es regelmäßig dramatische und bis heute fortwirkende Rückschläge bei den Anstrengungen gegeben habe, den Kreis der Menschen zu erweitern, die in den Genuss moralischer Rücksichtnahme gelangen und daher als sich-selbst-bestimmende Wesen anerkannt werden sollen.
Nun verwirft diese empirische Kritik allerdings lediglich die rückwärtsgewandte Vorstellung moralischen Fortschritts; mit Blick auf die Zukunft wird ein solches Anvisieren moralischer Verbesserungen dagegen gemeinhin für nicht nur möglich, sondern häufig sogar für notwendig erachtet. Dieser Zwiespalt ergibt sich daraus, dass auch der hartgesottenste Kritiker der Idee, nach der die Vergangenheit empirisch als ein Prozess des moralischen Fortschritts betrachtet werden sollte, auf keinen Fall verhindern möchte, von heute aus Pläne für eine zukünftige Ausweitung von sozialer Gerechtigkeit und individueller Freiheit zu schmieden. In der Brust aller Verfechterinnen einer empirischen Kritik der Idee moralischen Fortschritts wohnen gewissermaßen zwei Seelen: Für die Vergangenheit wollen sie nicht annehmen müssen, dass es einen objektiv feststellbaren Fortschritt in der Beförderung des allgemeinen Wohls durch die Ausdehnung von Verhaltensnormen der moralischen Rücksichtnahme gegeben habe, für die Zukunft aber möchten sie eine solche Ausdehnung gerne ins Auge gefasst wissen, weil auch sie nicht umhin können, für die bislang unterdrückten und geknechteten Menschen weltweit ein Leben in gesicherter Anerkennung ihrer individuellen Freiheit herbeizuwünschen. Diese ungelöste Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen der Untersagung rückwärtsgewandter und der Erlaubnis zukunftsgerichteter Fortschrittsvorstellungen, bildet aber die Crux der empirischen Kritik an der Idee moralischen Fortschritts; denn es wird darin stets unterstellt, dass wir nur in Hinblick auf die Zukunft ein praktisches Interesse an moralischen Verbesserungen besitzen, während unsere Rückschau auf die menschliche Geschichte von allen solchen praktischen Interessen vollkommen frei sein soll. Nach meinem Dafürhalten aber ist es um das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft im Falle der Beteuerung eines geschichtlichen Fortschritts der Moral wesentlich komplizierter oder »dialektischer« bestellt: Das Eine, das Anvisieren moralischer Fortschritte in der Zukunft, ist ohne das Andere, die Vergegenwärtigung solcher Fortschritte in der Vergangenheit, nicht zu haben.
Mit ganz wenigen Ausnahmen, die nahezu alle dem Zeitalter der europäischen Aufklärung angehören,3 hat sich die rückwärtsgewandte Frage nach einem möglichen Fortschritt in der Geschichte immer erst dann gestellt, wenn es in der Gegenwart unklar oder strittig war, welche Schritte zu moralischen Verbesserungen man in der Zukunft ergreifen sollte. Dabei verhält es sich ähnlich wie bei allen Lernprozessen: Man weiß zwar, dass man nur aus Fehlern lernt, aber diese wiederum erkennt man als »Fehler« nur in Erinnerung an die Vorsätze, bei deren Realisierung man zuvor gescheitert war und die entsprechenden Fehler also begangen hatte; wissen wir nicht, woran wir mit unseren Handlungsabsichten vorher gescheitert sind, werden wir auch keine Kenntnis davon besitzen, was als nächstes zur Verbesserung unserer Erfolgsaussichten zu tun ist.
Sofern dieser Vergleich stimmt, ist es aber grundsätzlich falsch, die rückwärtsgewandte Suche nach Indizien eines moralischen Fortschritts in einem empirischen, ja wissenschaftlichen Interesse begründet zu sehen; wer solchen Bemühungen vorhält, sie kümmerten sich zu wenig um die historischen Tatsachen oder widersprächen ihnen sogar an vielen Stellen, verkennt, dass sie gar nicht auf objektives, empirisch überprüfbares Wissen abzielen; ihnen geht es nicht um historische Richtigkeit, nicht um Faktenwissen, sondern um praktische Einsichten, die helfen sollen, anhand einer idealisierten Geschichte der schrittweisen Überwindung vergangener Fehler in der Auslegung der Moral eine Richtschnur für moralische Verbesserungen in der Zukunft zu gewinnen.
Halten wir also fürs Erste fest, dass die empirische Kritik an der Idee des moralischen Fortschritts deren eigentliche Absicht grundsätzlich missversteht. Schon Kant hat sich über diejenigen seiner Zeitgenossen mokiert, die voller Ernst die These vertraten, die menschliche Geschichte habe bislang faktisch eine Entwicklung hin zu mehr Gerechtigkeit, wechselseitiger Achtung und sozialer Verträglichkeit genommen;4 und selbst Hegel, dem man gerne vorwirft, er habe in Form einer objektivistischen Teleologie von einem moralischen Fortschritt in der Geschichte sprechen wollen, war der Überzeugung, etwas Derartiges ließe sich nur aus der Perspektive einer Parteinahme für die Vernunft und daher nicht in einem vollkommen wertneutralen, szientifischen Sinn behaupten.5 Es wäre aus der Sicht beider Philosophen abenteuerlich, angesichts der Komplexität des historischen Prozesses und seines tatsächlichen, Gräueltaten und Ungerechtigkeiten anhäufenden Verlaufs davon auszugehen, die menschliche Geschichte habe sich tatsächlich nur permanent hin zum moralisch Besseren und zu größerer Freiheit entwickelt; nach ihrer beider Überzeugung bedarf es vielmehr erst eines Perspektivenwechsels weg von der theoretischen Objektivität hin zur Parteilichkeit für die Durchsetzung des moralisch Guten, um an der menschlichen Geschichte die Zeichen und Einschnitte erkennen zu können, die uns signalisieren, dass wir dabei auf dem richtigen Weg sind....