Demand / Knörer MERKUR 2/2025, Jg.79

Nr. 909, Heft 02, Februar 2025

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches

ISBN: 978-3-608-12436-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Begriff der "Ansteckung" ist in erster Linie aus dem Bereich des Gesundheitswesens vertraut – hat aber in jüngerer Vergangenheit darüber hinaus Karriere gemacht: Caspar Hirschi hat sich das für den Bereich der Ausbreitung von Gewalt und des Finanzwesens genauer angesehen. Sandra Fluhrer gibt einen Überblick über aktuelle Bücher und Diskussionen zum Thema Landwirtschaft und Agrarwesen. Durch die neuesten Debatten zur Künstlichen – und Künstlichen Künstlichen – Intelligenz führt Bernhard J. Dotzler. Stefan Hirschauer sieht die nun verabschiedete Antisemitismus-Resolution des Bundestags außerordentlich kritisch.
 
Anders unsere neue Rechtskolumnistin Marietta Auer, die daran aus juristischer Sicht wenig zu beanstanden hat. In seiner Europa-Kolumne setzt sich Martin Höpner mit der (juristisch demnächst zu entscheidenden) Frage auseinander, ob Malta das Recht an seiner (und damit der EU-)Staatsbürgerschaft verkaufen darf. Jeremy Harding stellt den jung verstorbenen kenianischen Autor Binyavanga Wainaina vor.
 
Der Politikwissenschaftler Jannik Oestmann fragt sich, ob Christoph Möllers nicht vielleicht recht hat, wenn er das vielzitierte Böckenförde-Diktum als "Midcult" – also mehr Schein als Sein – bezeichnet. Helmut Müller-Sievers schildert, was die Trump-Wahl für ihn und seinen Bekanntenkreis in Boulder, Colorado, bedeutet. In ihrer Schlusskolumne schickt Anke Stelling News aus ihrer selbst auferlegten Nachrichtensperre.
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Weitere Infos & Material


ESSAY

 

Caspar Hirschi                                           

Neo-Kontagionismus in Krisen.

Ansteckung als Syndrom

 

Sandra Fluhrer                                        

Der Bauer in uns

 

Bernhard J. Dotzler                                

Künstliche Künstliche Intelligenz.

Vom Double zum Twin und Alien

 

Stefan Hirschauer                                   

Wer definiert, was Antisemitismus ist?

 

 

KRITIK

 

Marietta Auer                                           

Definiere Antisemitismus.

Rechtskolumne

 

Martin Höpner                                           

Darf Malta die Unionsbürgerschaft verhökern?

Europa-Kolumne

 

Jeremy Harding                                         

Dieser Typ.

Über Binyavanga Wainaina

 

 

 

MARGINALIEN

 

Jannik Oestmann                                       

Der Böckenförde-Midcult

 

Helmut Müller-Sievers                          

Sezession der Gemüter                                            

 

Anke Stelling                                            

RIP


Beiträge
DOI 10.21706/mr-79-2-5 Caspar Hirschi Neo-Kontagionismus in Krisen
Ansteckung als Syndrom Krisen entstehen durch Ansteckung. Es hätte keine Pandemie gebraucht, um dieser Sicht zum Durchbruch zu verhelfen. Sie war in wissenschaftlichen Kreisen schon verbreitet, als die erste Welle des Covid-19-Virus über die Welt rollte. Ob Desinformationskampagnen oder Drogensucht, Börsen-Crashs oder Bankenkollapse, Seuchen oder Krieg, überall werden Ansteckungsketten mit exponentiell steigendem Schadenspotential diagnostiziert und modelliert, mit dem Ziel, sie so früh wie möglich zu unterbrechen. Es geht in diesen verschiedenen Krisenfeldern, so der Anspruch, nicht um ein Sprechen in bildkräftigen Metaphern, sondern um das Abbilden der harten Realität. »Gewalt ist eine ansteckende Krankheit«, postuliert der Epidemiologe Gary Slutkin: »Sie erfüllt die Definition einer Krankheit und der Ansteckungsfähigkeit – das heißt, Gewalt wird von einer Person auf eine andere übertragen.« Dass die Aussage wörtlich zu verstehen ist, verdeutlicht Slutkin mit einem Vergleich: »Krankheitserreger können über die Atemwege, den Darm, die Haut oder andere Wege eindringen und dann Funktionsstörungen oder Fehlregulationen in einem oder mehreren Organen verursachen. Im Fall von Gewalt haben wir es mit einem Prozess zu tun, der eindeutig durch das Gehirn vermittelt wird, wobei die Übertragung auf mindestens zwei Wegen zu erfolgen scheint: visuelle Beobachtung und direkte Viktimisierung. Ein dritter Mechanismus kann als absichtliches Training, zum Beispiel durch das Militär, angesehen werden.«1 Slutkin gehört zu den Gründern von »Cure Violence«, einer 1999 in Chicago lancierten Initiative mit wissenschaftlichem Anspruch, die Gewaltherde nach dem Vorbild der Eindämmung von Epidemien »heilen« möchte. »Cure Violence« etablierte sich mit Unterstützung des amerikanischen Justizdepartements und der UNICEF zu einer globalen Organisation mit Projekten in zahlreichen Städten der Vereinigten Staaten und mehreren Ländern auf fünf Kontinenten. Slutkins eigene Gewaltexpertise ist von epidemiologischer Feldarbeit abgeleitet. In den 1980er Jahren bekämpfte er Seuchen in mehreren afrikanischen Ländern, darunter Cholera-Ausbrüche in Somalia und die Aids-Epidemie in Uganda. Auf die Idee, dass die räumliche Häufung von Gewalttaten den gleichen Gesetzen gehorche wie die Ausbreitung ansteckender Krankheiten, kam er erst nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten, als er Mitte der neunziger Jahre an der Universität von Illinois eine Professur für Epidemiologie antrat. Er betrachtete die Gewaltviertel von Chicago durch die gleiche Brille wie Seuchengebiete in Afrika. Um die Identität der Krisenmechanismen zu illustrieren, brachte er einzelne Gewaltereignisse mit den klassischen Visualisierungsmethoden der Epidemiologie in einen Zusammenhang. Er bildete die Frequenz von Tötungen auf einer Zeitachse ab, so dass der Eindruck von »Gewaltausbrüchen« mit einer anschließenden »Epidemie von Morden« entstand, die sich in mehreren Wellen ausgebreitet habe. Und er trug die Schauplätze von Gewaltverbrechen auf einer geografischen Karte ein, so dass sich Delikte, die in räumlicher Nähe zueinander verübt wurden, zu Gewalt-Clustern verdichteten wie beim Ansteckungsherd einer Cholera-Epidemie. Slutkins kartografische Inszenierung der Schießereien und Tötungen in Chicago von 2008 erinnert denn auch an die legendäre Karte des Londoner Stadtteils Soho aus dem Jahr 1854, auf welcher der Arzt John Snow die Wohnorte aller Todesopfer eines Cholera-Ausbruchs eingetragen hatte. Snow wollte mit der Karte den Nachweis erbringen, dass sich die Krankheit über eine verseuchte Wasserpumpe ausgebreitet habe und Cholera damit eine ansteckende Krankheit sei.2 Der Kontagionismus war im 19. Jahrhundert eine Theorie mit beschränktem Geltungsanspruch und, zumindest bei seinen Gegnern, mit reaktionärem Geruch. Er wurde allein auf Gesundheitskrisen bezogen und stand bei liberalen Medizinern auch nach Snows Publikation oft im Ruf der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Rückständigkeit. Kontagionisten sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, einem despotischen Staat mit uneingeschränkten Machtbefugnissen das Wort zu reden, um Quarantänen und Handelssperren im Stile frühneuzeitlicher Herrscher im Kampf gegen die Pest zu verhängen. Der Neo-Kontagionismus von heute jedoch ist eine Universaltheorie zur Beschreibung und Bewältigung von Gefahren mit krisenhaftem Eskalationspotential und hat in vielen Politikfeldern den Geschmack der wissenschaftlichen Fundiertheit und politischen Fortschrittlichkeit. Da Neo-Kontagionisten unterschiedlicher Disziplinen aber kaum als geschlossenes Denkkollektiv auftreten, werden sie auch selten als Einheit wahrgenommen, so dass der weitreichende Geltungsanspruch ihres Ansatzes bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Um dessen Dimension zu erfassen, muss man zu einem Buch greifen, das im Windschatten der Covid-Pandemie auf Englisch und Deutsch erschienen ist: The Rules of Contagion des britischen Epidemiologen Adam Kucharski.3 Kucharski ist ein ebenso kundiger wie unkritischer Anhänger des Kontagionismus, den er schon deshalb nicht als solchen bezeichnet, weil es sich dabei in seinen Augen um ein Naturgesetz und keine Weltanschauung handelt. Sein Buch wirkt wie der Bericht einer Entdeckungsreise zu Schauplätzen, auf denen sich Ansteckendes abspielen soll. Eine Anthropologie der Nachahmung
Kucharski verhilft auch Slutkin und seinem Gewaltheilungsprojekt zu einem prominenten Auftritt. Er präsentiert ihn als neuen John Snow einer medizinisch gewendeten Kriminologie für das 21. Jahrhundert. Wie Snow die falsche Miasmenlehre von der »schlechten Luft« als Krankheitsursache bekämpft habe, so bekämpfe Slutkin die Fehldiagnose vom »schlechten Menschen« als Gewaltursache. Mit seiner wissenschaftlichen Entschlüsselung der Ansteckungsketten zwischen den Schießereien in Chicago bestelle er ein Feld neu, das »im Moralismus feststecke« und Menschen im Zusammenhang mit Gewalt nach dem Kriterium einteile, wer gut und wer böse sei. Slutkins Krisendiagnose wird entsprechend als Sieg der wissenschaftlichen Wahrheit über »moralistische Diagnosen« sowie als Möglichkeit gesehen, langwierige »Probleme der Menschheit« endlich zu lösen. Zu diesen Problemen zählen Kucharski und Slutkin nicht bloß chronisch hohe Verbrechensraten in bestimmten Stadtvierteln, sondern auch akute Gewaltausbrüche mit hoher Infektiosität, kurzer Inkubationszeit und tiefer Immunität, mit anderen Worten: Krieg. So erscheint der Erste Weltkrieg bei Slutkin als eine tödliche Seuche, die sich nach ihrem Ausbruch noch rascher ausgebreitet hat als die Spanische Grippe ein paar Jahre später. Dass der neue Kontagionismus wörtlich verstanden werden will, hängt mit dem Versprechen seiner hohen Problemlösungsfähigkeit zusammen. Es geht darum, reale Ansteckungsketten wissenschaftlich zu erfassen und einzudämmen. Wäre »Ansteckung« nur eine heuristische Metapher, um auf Ähnlichkeiten von sozialen Dynamiken in verschiedenen Gesellschaftssystemen aufmerksam zu machen, könnte kaum ein legitimer Anspruch erhoben werden, zur Unterbrechung von Ansteckungsketten massiv ins gesellschaftliche Gefüge einzugreifen. Im gleichen Licht ist auch die Überzeugung zu sehen, mit dem Neo-Kontagionismus trete ein wissenschaftlicher Umgang mit hohen Schadensrisiken an die Stelle eines alten Moralismus, der nach Sündern suche und Strafen verhänge. Sie stützt sich auf ein methodisches Vorgehen, das auf der Erhebung großer Datenmengen beruht, die sowohl für die Modellierung eines möglichen Infektionsgeschehens in der Zukunft als auch für die Überprüfung der eindämmenden Wirkung von Gegenmaßnahmen in der Vergangenheit genutzt werden können. Dadurch wird es theoretisch möglich, sich...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.


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