E-Book, Deutsch, Band 14, 152 Seiten
Delitz Arnold Gehlen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7445-0055-5
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 14, 152 Seiten
Reihe: Klassiker der Wissenssoziologie
ISBN: 978-3-7445-0055-5
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Arnold Gehlen (1904–1976) gilt neben Max Scheler und Helmuth Plessner als berühmter und umstrittener Vertreter der Philosophischen Anthropologie und ebenso als brillanter Soziologe. Heike Delitz zeigt mit dieser Einführung in Leben und Werk Arnold Gehlens, dass dieser eine grundlegende soziologische Theorie und damit auch eine veritable ›Wissenssoziologie‹ entwickelte: eine Theorie der menschlichen Welt- und Selbstbilder und ihrer institutionell verankerten 'Leitideen'. Gehlens Perspektive ist die der Philosophischen Anthropologie, die beschreibt, wie sich der Mensch von anderen Lebewesen unterscheidet: Die Besonderheiten des Menschen als 'nicht festgestellten Tieres' erfordern und ermöglichen die 'Institutionen', also subjekt- und weltformende soziale Verpflichtungen. Ins Zentrum rückt Heike Delitz Gehlens bahnbrechendes Buch ›Urmensch und Spätkultur‹ sowie die dafür grundlegende Anthropologie 'Der Mensch'. Vor diesem Hintergrund macht sie Gehlens Kunst- und Moralsoziologie als differenzierte Gesellschaftsdiagnosen der Moderne sichtbar.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wissenssoziologie, Wissenschaftssoziologie, Techniksoziologie
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Geschichte der Human- und Sozialwissenschaften
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziologie Allgemein Geschichte der Soziologie
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II Akademisches Leben und Wirkung
»Der Verfasser dieser Arbeit, Arnold Gehlen, wurde am 29.1.1904 als Sohn des Verlagsbuchhändlers Dr. Max Gehlen in Leipzig geboren. Ostern 1923 verließ er mit dem Zeugnis der Reife das Thomasgymnasium. Auf den Universitäten Leipzig und Köln studierte er Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik. Den Herren Professoren Driesch, Litt und Hartmann verdankt er entscheidende Förderung und Belehrung« (Gehlen 1927). So fasst Arnold Gehlen selbst sein Leben bis zur Dissertation 1927 zusammen. Zu ergänzen sind – neben einer kurzen Zeit als Bankangestellter und Buchhändler vor dem Studium – Studien der Psychologie und in den »naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern« (vor allem der Zoologie) (ebd.). Gehlens akademischer Lehrer war Hans Driesch, bei dem Helmuth Plessner 1913 noch Biologie studiert hatte, und bei dem Gehlen nun, 1927, seine philosophische Dissertation über dessen Erkenntnistheorie schrieb (Zur Theorie der Setzung und des setzungshaften Wissens bei Driesch, 1978a). 1930 wurde Gehlen habilitiert, begutachtet von Driesch, Hans Freyer, Felix Krueger und Theodor Litt (Wirklicher und unwirklicher Geist, 1978c). 1933 vertrat er bereits eine Professur, nämlich den Frankfurter Lehrstuhl von Paul Tillich (den dieser wegen des nationalsozialistischen Berufsbeamtengesetzes hatte räumen müssen, Tilitzki 2002: 600f.). 1933/34 war Gehlen Assistent Freyers am Institut für Kultur- und Universalgeschichte der Universität Leipzig. Es folgte die steile Karriere eines gerade einmal 30jährigen Philosophen: 1934 erhielt Gehlen seinen ersten Lehrstuhl für Philosophie, nämlich den seines Hochschullehrers und Doktorvaters Driesch – eine Hausberufung, skeptisch beäugt von den Parteigängern, deren Kritik das Idealismus-Buch (Theorie der Willensfreiheit, 1980a) auf sich zog (vgl. Tilitzki 2002: 633ff.). 1938 wurde Gehlen nach Königsberg auf den renommierten Kant-Lehrstuhl berufen; 1940 ging er nach Wien. Die dortige Lehrtätigkeit (im Fach Psychologie) sei »überaus erfolgreich« gewesen, seine »enorme Begabung als Kathederredner und der wissenschaftliche Gehalt seiner Vorlesungen zogen viele Hörer an« (Rehberg 1993: 753.37). Zwischenzeitlich, 1941/42, war er in der Prager Personalprüfstelle des Heeres. Er ließ sich hier als Heerespsychologe vom Wehrdienst freistellen, wurde 1943 aber einberufen und noch 1945 schwer verwundet. Diese Karriere machte den für die Soziologie der Bundesrepublik wichtigen und erfolgreichen Autor stets zu einem heißen Eisen. Gehlen trat 1933 in die NSDAP ein; er unterzeichnete wie Heidegger, Gadamer und 900 andere Professoren das »Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat«. »Obwohl der Landeskommissar für die politische Säuberung in Rheinland-Pfalz Arnold Gehlen 1948 als ›Nichtschuldigen‹ einstufte, lag seine ›Nazi-Vergangenheit‹ als ein dunkler Schatten auf seinem Werk. Und während andere mehr oder weniger offen über ihre Verstrickungen in das Naziregime sprachen, schwieg Arnold Gehlen beharrlich über seine Rolle in der NSDAP. Zugleich machte er keinen Hehl aus seiner Ablehnung der neuen Verhältnisse der Bundesrepublik. Sie war für ihn eher ein »Sozialverein, der alle möglichen Interessengruppen bediente, als der starke Staat, der den Pluralismus moderner Subjekte zu bändigen, zu regulieren und vernünftig auszurichten in der Lage ist […]. Es ist dieses sperrige politische Profil gewesen, das seine wissenschaftliche Leistung bis zu seinem Tode 1976 überdeckt hat und auch bis heute eine gründliche und kritische Sichtung seiner Schriften erschwert« (Eßbach 2009: 147f.). Gehlen war fasziniert von der Disziplinierungsdynamik des Nationalsozialismus; einem Philosophen kann man dies am wenigsten verzeihen. Gleichwohl entzieht sich das Werk der nationalsozialistischen Identifikation (auch im Nachhinein). Gehlen ist spätestens in seiner Philosophischen Anthropologie »kein NS-Philosoph« gewesen (Rehberg 1994c: 130).10 Selbst wenn die erste Auflage von Der Mensch 1940 mit opportunen Formulierungen schließt (die der Autor mit der Gewagtheit einer Theorie des universell verstandenen Menschen rechtfertigt), handelt es sich an keiner Stelle um eine rassistische Anthropologie. Dies hat auch der marxistische Philosoph Wolfang Harich stets betont (Harich 2004: 136). Bereits die Theorieanlage, die Argumentationsweise, selbst die Begriffe (›Mängelwesen‹) widersprachen dem nationalsozialistischen Denken, was zu entsprechenden Rezensionen Anlass gab.11 Nachdem Versuche scheiterten, ihn in Wien weiter zu beschäftigen, erhielt Gehlen 1947 an der von der französischen Militärregierung neu gegründeten Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer ein Ordinariat für Philosophie, Psychologie und Soziologie. 1948 wurde er ›entnazifiziert‹. »Davon, daß Herr Professor Gehlen sich in seinen Schriften als ›überzeugter Anhänger der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erwiesen hätte‹, kann gar keine Rede sein«, schrieb Nicolai Hartmann 1946 im Gutachten (in Holz 1993; vgl. Rehberg 2004a: 642.10). Von 1962 bis 1969 lehrte er schließlich Soziologie an der Technischen Hochschule Aachen. Eine Berufung nach Bonn (auf den Lehrstuhl Rothackers) scheiterte am Widerspruch von Adorno und Horkheimer; eine Berufung nach Heidelberg (auf den Lehrstuhl Löwiths) an dem von König und Plessner. Plessner bezeichnet Gehlen hier als politische Gefahr (in König 2000: 253); er schimpft ihn darüber hinaus wegen dessen Zitier- oder eher Verschweige-Strategie einen »Lump« (Dietze 2006: 462). Wenig später, nach Erscheinen der Zeit-Bilder, will er ihn andererseits zu seinem Nachfolger in Göttingen machen: »Gehlen ist der beste Mann!« (zit. in Fischer 2008a: 292; vgl. Rehberg 1994c: 130). Den verschlossenen Möglichkeiten standen also neue Wege akademischen Lebens gegenüber. Schüler im eigentlichen Sinne, Promovierende, Habilitierende und Assistenten Gehlens waren zunächst Helmut Schelsky und Gotthard Günther. Schelsky habilitierte bei Gehlen 1941 in Königsberg mit einer Arbeit über Hobbes, in welcher vier implizite Menschenbilder des politischen Denkens identifiziert werden, von denen Hobbes das ›aktivistische‹ zugeordnet wird. Zugleich bezog Schelsky hier seine »politische Position« (Schelsky 1981: 11).12 Günther promovierte 1933 über Die logisch-methodischen Voraussetzungen zu Hegels Theorie des Denkens. Der Kritiker des dualistischen Denkens und Begründer einer mehrwertigen Logik – den Luhmann schätzte – hat mit Hegel und Gehlen eine Theorie der Kybernetik entfaltet, in welcher der »Dualismus von Leib und Seele […] gegenstandslos« ist (Günther 1963: 201). Gehlen habe gezeigt, dass der Mensch in einem »Begriffssystem beschrieben werden kann, das den Unterschied von Leib und Seele nicht mehr kennt«. Kybernetisch reformuliert hört sich Gehlen dann so an: Es gibt ein »geschlossenes System […], das regulierte Kontaktstellen mit der Außenwelt besitzt. Jeder solche Kontakt muß als Information verarbeitet werden können. Und das geschlossene System muß ein Informationssystem von in sich reflektiertem Charakter sein« (ebd.). Gehlen selbst hat im Übrigen 1957 seine Beschreibung des Menschen als die eines »rückgekoppelten Systems« bezeichnet (1983h: 211), als »Kreisprozess« (1983e: 157). Nach 1945 sind es Hanno Kesting und Friedrich Jonas, in denen Gehlen seine potentiellen Nachfolger sah. Jonas trat 1968/69 mit einer vierbändigen, in ihrem Detailreichtum vielleicht bis heute unübertroffenen Geschichte der Soziologie hervor; Kesting arbeitete (vor seiner Zeit bei Gehlen, zusammen mit Hans Paul Bahrdt, Heinrich Popitz und Ernst August Jüres) an der berühmten Studie zu Gesellschaftsbild und Selbstverständnis der Arbeiter im Nachkriegs-Ruhrgebiet: Industriearbeit und Technik und Das Gesellschaftsbild des Arbeiters (Popitz u.a. 1957a, 1957b). Von Friedrich Jonas stammt auch eine der ersten Einführungen in Gehlens Werk, gegen die verkürzte Rezeption anschreibend: Die »Bestimmung des Menschen als eines ›Mängelwesens‹« weise vielmehr auf die »spezifischen und großartigen Leistungen«, zu denen der Mensch im Unterschied zum Tier fähig ist (Jonas 1966: 79). Der letzte Doktorand Gehlens, Karl-Siegbert Rehberg, ist Herausgeber der kommentierten Werkausgabe im Verlag Klostermann. Er hat Gehlens Institutionentheorie seit seiner Dissertation (1973) kritisch weiterentwickelt, indem er der entlastenden Leistung der Institutionen ihre belastenden Effekte zur Seite stellte. Die so korrigierte, zudem soziologisierte und historisierte sowie durch Aspekte von Luhmann, Cassirer und Foucault ergänzte »Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen« wurde zur Theoriegrundlage im interdisziplinären Forschungsverbund des Sonderforschungsbereiches »Institutionalität und Geschichtlichkeit« der Technischen Universität...