del Toro / Hogan Die Nacht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-07191-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 3, 432 Seiten
Reihe: The Strain
ISBN: 978-3-641-07191-2
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sie waren immer hier. Unter uns. Sie haben gewartet. In der Dunkelheit. Jetzt ist ihre Zeit gekommen ... Durch ein Virus haben sich die Vampire rund um die Welt ausgebreitet und die menschliche Zivilisation in weiten Teilen vernichtet. Dem Anführer der Vampire ist es sogar gelungen, die anderen Vampir-Clans soweit zu schwächen, dass er die alleinige Herrschaft über den Planeten antreten kann. Doch er hat nicht mit Ephraim Goodweather, einst Chef der New Yorker Seuchenpräventionsteams, gerechnet. Goodweather stemmt sich mit aller Kraft dem Ansturm der Vampire entgegen. Wird es ihm gelingen, die Menschheit zu retten? Und welche Rolle spielt dabei ein sagenumwobenes Buch, das auf geheimnisvolle Weise in Goodweathers Besitz gelangt ist?
Chuck Hogan ist Autor internationaler Thriller-Bestseller wie 'Endspiel' und 'Mördermond'. Für 'Endspiel' wurde er mit dem renommierten Hammett Award ausgezeichnet. Chuck Hogan lebt in Massachusetts.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kelton Street, Woodside, Queens
Ein Schrei erklang in der Ferne und riss Ephraim Goodweather aus dem Schlaf. Er fuhr blitzschnell auf, rollte sich von dem Sofa, auf dem er lag, griff nach dem Silberschwert, das aus der Tasche auf dem Boden ragte, und ließ – alles in einer einzigen fließenden Bewegung – die Klinge durch die Luft zischen.
Sein heiserer, sich überschlagender Kampfschrei, Nachhall seiner Alpträume, brach jäh ab. Das Schwert zitterte in seiner Hand.
Er war allein.
Kellys Wohnzimmer … Kellys Sofa … All die vertrauten Dinge … Er war im Haus seiner Exfrau. Und der Schrei, den er im Traum gehört hatte, war der Ton einer Sirene, die einige Straßen weiter losgegangen war.
Wieder dieser Traum! Von Feuer und Gestalten aus glänzendem Licht, die vage an Menschen erinnerten. Ein Kampf. Im Traum kämpfte er mit diesen Gestalten – bis das Licht so gleißend wurde, dass es alles verschluckte. Und immer wachte er völlig erschöpft auf, als ob er tatsächlich mit jemandem gekämpft hätte. Der Traum kam wie aus dem Nichts; er träumte auf die normalste Weise vor sich hin – er war bei einem Picknick oder steckte in einem Verkehrsstau oder saß im Büro –, und plötzlich wurde alles ganz hell, und die silbrig glänzenden Gestalten erschienen.
Er tastete nach den anderen Waffen in der umgerüsteten Baseballtasche, die er in einer geplünderten Modell’s-Filiale auf der Flatbush Avenue gefunden hatte. Er war in Queens. Okay? Okay! Allmählich kam die Erinnerung zurück. Und mit ihr die Kopfschmerzen – er hatte gestern Abend, wie so oft in letzter Zeit, zuviel getrunken und einen Blackout gehabt. Er steckte das Schwert in die Tasche zurück, setzte sich auf das Sofa und legte den Kopf in die Hände, als wäre er eine zerbrechliche Kristallkugel. Sein Haar fühlte sich wirr und borstig an, seine Schläfen pochten.
Die Hölle auf Erden. Ja, das ist es!
Die Wirklichkeit war der eigentliche Alptraum. Eph war noch am Leben und er war noch ein Mensch – das war nicht viel, aber immerhin.
Ein weiterer Tag in der Hölle …
Das Letzte, an das er sich von seinem Traum erinnerte, jener Teil, der an seinem Bewusstsein haftete wie eine klebrige Nachgeburt, war ein Bild von Zack. Sein Sohn Zack – umgeben von gleißendem, silbernem Licht. Und aus diesem Licht waren die Gestalten gekommen. »Dad!«, hatte Zack gerufen oder geflüstert, und sein Blick hatte sich an den seines Vaters geklammert, und dann hatte das Licht sie alle verschluckt.
Der Gedanke daran ließ Eph zittern. Warum fand er keine Ruhe, keinen Trost in seinen Träumen? Waren Träume nicht dafür da? Sollten sie nicht diesem Gefängnis, das sich Realität nannte, Bilder vom Entkommen entgegensetzen? Was hätte er nicht für einen jener rührseligen Träume von früher gegeben, für einen Löffel Zucker für sein geplagtes Unterbewusstsein:
Eph und Kelly kurz nach dem Collegeabschluss, wie sie händchenhaltend über einen Flohmarkt schlendern und nach billigen Möbeln und anderem Krimskrams Ausschau halten, mit dem sie ihre erste gemeinsame Wohnung einrichten wollen …
Zack als Dreikäsehoch, der mit seinen dicken Füßen durch das Haus stapft, ein kleiner Tyrann in Windeln …
Eph und Kelly und Zack beim Abendessen, die Hände vor den Tellern gefaltet, während Z mit ernster Miene das Gebet aufsagt, das er auswendig gelernt hat …
Nein, jetzt waren Ephs Träume ganz anders, glichen eher verwackelten Snuff-Filmen. Menschen aus seiner Vergangenheit – Freunde oder Bekannte oder Feinde – wurden gejagt und verschleppt, und er musste dabei zusehen, unfähig, ihnen zu helfen, unfähig, sich abzuwenden …
Er stand wieder auf, versuchte das Gleichgewicht zu halten. Ging zu dem großen Fenster, von dem aus man den Hinterhof sah. Der LaGuardia Airport war nicht weit entfernt, aber der Anblick eines Flugzeugs, das Geräusch eines Düsenjets – das alles war inzwischen äußerst selten geworden. Die Lichter waren vom Himmel verschwunden. Eph musste an den 11. September 2001 denken – jenen Tag, an dem der leere Himmel ihnen allen so unwirklich erschienen war – und daran, was es für eine Erleichterung gewesen war, als eine Woche später die Flugzeuge zurückgekehrt waren. Jetzt gab es keine Erleichterung. Keine Rückkehr zur Normalität.
Wie spät war es wohl? Irgendwann am Vormittag – das sagte ihm jedenfalls seine innere Uhr, die noch nach dem Tag-Nacht-Rhythmus funktionierte. Und es war Sommer, zumindest dem Kalender nach, also hätte die Sonne hoch und heiß am Himmel stehen sollen.
Stattdessen war es dunkel. Eine ewige Dunkelheit, so schien es. Die natürliche Abfolge von Tag und Nacht war aufgehoben; die Sonne wurde von einem düsteren Schleier aus Asche verdeckt, der sich am Himmel ausgebreitet hatte – die Folge der weltweiten Nuklearexplosionen und Vulkanausbrüche – und kein Licht und keine Wärme mehr durchließ. Der Planet hatte sich in ein blasses, ausgemergeltes Niemandsland verwandelt, eine Welt aus Kälte und Finsternis.
Der perfekte Lebensraum für Vampire.
Und wenn man den allerletzten Live-Nachrichten Glauben schenken wollte – die wie Pornos im Internet hin und her geschickt worden waren –, dann war es überall auf der Erde dasselbe: ein sich verdunkelnder Himmel, schwarzer Regen, finstere Wolken, die sich zusammenballten und wie riesige Felsen in der Luft hingen … Zog man die Rotation und die Windverhältnisse auf dem Planeten in Betracht, so waren der Nord- und Südpol die einzigen Orte, an denen noch wie früher die Sonne schien. Theoretisch. Denn niemand wusste das genau.
Der radioaktive Fallout nach den Explosionen und Kernschmelzen an den zahllosen »Ground Zeros« war äußerst intensiv gewesen; Eph und die anderen hatten beinahe zwei Monate tief unter der Erde verbringen müssen, im North River Tunnel unter dem Hudson. Erst als Stürme und Windböen den kontaminierten Staub in der Atmosphäre verteilt und schwere Regenfälle die Radioaktivität aus der Luft gewaschen hatten, war es wieder möglich, zumindest jene Gebiete zu betreten, die den Explosionen nicht direkt ausgesetzt gewesen waren.
Die langfristigen Folgen dieses brutalen Eingriffs in das Ökosystem des Planeten würden verheerend sein: die Auswirkungen auf die menschliche Fortpflanzungsfähigkeit, die Schäden im Genom, die Krebserkrankungen … Aber niemand machte sich über die Zukunft Gedanken – zwei Jahre nach den Explosionen, zwei Jahre nach der Machtübernahme der Vampire lebte die Menschheit in einer ewigen Gegenwart. In einem ewigen Alptraum.
Die Sirene verstummte. Diese Alarmsysteme, die früher dazu gedacht gewesen waren, vor menschlichen Eindringlingen zu warnen, schlugen immer noch gelegentlich an; aber längst nicht mehr so oft wie in den ersten Tagen nach den Explosionen, als sie ständig geheult hatten – wie der Todesschrei einer sterbenden Spezies, einer vergehenden Zivilisation.
Nun, da es wieder still war, lauschte Eph seinerseits auf Eindringlinge. Durch Fenster, durch modrige Keller, durch staubige Dachböden – die Vampire konnten von überall her kommen. Selbst in den wenigen Stunden am Tag, in denen die Sonne durch die Asche brach – ein fahles bernsteinfarbenes Licht, das irgendwie unnatürlich wirkte –, war man nicht sicher vor ihnen. Dies waren die einzigen Stunden, in denen sich Eph und die anderen in der Stadt bewegen konnten, ohne eine direkte Konfrontation mit den strigoi zu riskieren, aber es waren auch die gefährlichsten Stunden, denn die Straßen wurden von Überläufern bewacht – Menschen, die glaubten, ihrem Schicksal entgehen zu können, indem sie den Vampiren zu Diensten waren.
Er drückte die Stirn gegen das Fenster. Das Glas war kalt und fühlte sich gut an; es linderte das Dröhnen in seinem Kopf.
Das Schlimmste war zu wissen. Zu wissen, dass man verrückt war, machte einen nicht weniger verrückt; zu wissen, dass man ertrank, ließ einen nicht weniger ertrinken, ganz im Gegenteil: Es trug dazu bei, dass man noch panischer wurde. Zu wissen, dass es einmal eine bessere, hellere Welt gegeben hatte, war ebenso ein Grund für Ephs Qual wie die Vampirseuche selbst.
Er brauchte Essen. Proteine. Aber in diesem Haus war nichts mehr; schon vor Monaten hatte er sämtliche Nahrungsmittel verbraucht, die Kelly gelagert hatte – inklusive des Alkohols. Ja, er hatte sogar einen geheimen Butterfinger-Vorrat entdeckt, den Kellys damaliger Freund Matt in seinem Zimmer gehortet hatte.
Eph wandte sich vom Fenster ab und blickte sich im Wohnzimmer um, als würde er es zum ersten Mal sehen. Wie war er nur hierher gekommen? Warum war er hierher gekommen? Er sah die Kratzer an der Wand, dort, wo er Matt – Matt, den Vampir – getötet hatte. Geköpft hatte. Das war in jenen Anfangstagen gewesen, als einen Vampir zu töten genauso beängstigend gewesen war wie der Gedanke, von einem Vampir verwandelt zu werden. Selbst wenn in diesem Fall der Vampir der Freund seiner Exfrau gewesen war, der Eph als Vaterfigur in Zacks Leben zu ersetzen gedroht hatte.
Aber dieser Reflex einer nur allzu menschlichen Moral gehörte längst der Vergangenheit an. Die Welt hatte sich verändert, und Dr. Ephraim Goodweather, einst ein bedeutender Epidemiologe in Diensten der amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC, hatte sich mit ihr verändert. Das Vampirvirus hatte die gesamte Menschheit befallen. Hatte die menschliche Zivilisation ausgelöscht. Wer sich gegen die Seuche zur Wehr gesetzt hatte – und war er noch so stark gewesen...