E-Book, Deutsch, Band 4, 352 Seiten
Reihe: Ein Fall für Liewe Cupido
Deen Die Lotsin
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86648-853-3
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 4, 352 Seiten
Reihe: Ein Fall für Liewe Cupido
ISBN: 978-3-86648-853-3
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mathijs Deen, geboren 1962, ist Autor von Romanen, Kolumnen und einem Band mit Kurzgeschichten, der für den renommierten AKO-Literaturpreis nominiert war. 2018 wurde ihm für die literarische Qualität seines Werks der Halewijnpreis verliehen. 2024 erhielt er für »Der Taucher«, den zweiten Teil seiner beliebten Krimireihe um den »Holländer« Liewe Cupido, den renommierten niederländischen Krimi-Preis De Gouden Strop.
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6. AUGUST 2017
SONNTAG
EAST GREENLAND ICE-CORE PROJECT FIELD STATION
Die Forschungsstation, die im Nordosten Grönlands auf der Eisfläche steht, erinnert aus der Ferne an eine riesige Handgranate. Es ist eine pechschwarze, sich nach unten verjüngende Kuppel, vierzehn Meter hoch, und der mehreckige Aufbau ganz oben, die Auslösemechanik der Granate ohne Sicherungsstift und -hebel, erweist sich bei näherem Hinsehen als Aussichtsplattform, zu der die Forscher hinaufsteigen können, um durch mannshohe Fenster in alle Himmelsrichtungen zu spähen.
Fast nie steigt jemand dort hinauf, vor allem, weil nichts zu sehen ist als Schnee bis zum Horizont, ohne Orientierungspunkte, ohne Farbabstufungen. Rings um das Bauwerk stehen eine Eisbohranlage, ein paar Schneemobile, Schlafbaracken, Fahnenstangen und WC-Container.
Die kilometerdicke Eisschicht, auf der die Station steht, ist auf dem Weg in Richtung Meer. Folglich driftet die gesamte Niederlassung, auch wenn das wegen der Langsamkeit des Geschehens nicht zu hören oder zu spüren ist. Nicht einmal für die Schlaflosen, die nachts, den Schlafsack bis zum Kinn geschlossen, in die leblose Stille horchen. Sie liegen wach, kämpfen mit dem Tageslicht, das nicht weichen will, oder mit Zwangsvorstellungen, die sie heimsuchen wie Gespenster. Wer schlafen kann, träumt von warmen Abenden und Sternenhimmeln.
Währenddessen kriecht die Station mit allen Fahnenstangen, Baracken und Schneemobilen, mit allen Forschern, Ingenieuren, Technikern und dem Versorgungspersonal in jeder Stunde ein paar Millimeter nach Nordosten. Auch die Bohranlage, mit der die Bohrtechniker im Schichtdienst Meter für Meter in die Tiefe vordringen und Eisbohrkerne für die Forscher heraufholen, reist mit.
Mit immer tieferen Bohrungen in immer älteren Eisschichten unternehmen die Bohrtechniker eine Zeitreise rückwärts. Die heraufgeholten Bohrkerne sind in den Laborräumen in der richtigen Reihenfolge ausgelegt. Es ist ein tiefgefrorener Zeitstrahl, dick wie ein Oberarm, und erzählt denen, die seine Sprache verstehen, eine Geschichte von zig Jahrtausenden Wintern. Die Forscher und Forscherinnen sind aus allen Weltgegenden gekommen, um ein paar Monate lang die Proben zu datieren. Sie zählen die Eisschichten wie die Jahresringe eines Baumes. Oder sie analysieren die Gasbläschen und Staubschichten, die wie Sedimente im Eis gefangen sind, Körnchen, die, wenn man Glück hat, bei einem bekannten, datierten Vulkanausbruch oder Meteoriteneinschlag in ferner Vergangenheit in die Atmosphäre geschleudert wurden und auf den Eisschild niedergegangen sind. In den Laboren, die als geräumige Keller ins Eis gegraben wurden, herrscht klirrende Kälte, und die Forscher haben sich in viele Schichten Kleidung eingepackt: Thermowäsche, dicke Socken, Pullover, Daunenjacken, in denen man aussieht wie ein Michelin-Männchen. Sie sind kaum voneinander zu unterscheiden.
Außer sonntags. Dann sind die Laborkeller verlassen, und das Leben spielt sich im Bauch der Kuppel ab. Dort ist der Gemeinschaftsraum, von dem endlosen Tag durch eine fensterlose schwarze Haut getrennt, die das kalte Sonnenlicht in Wärme umwandelt. Die Michelin-Jacken werden gegen das eleganteste oder extravaganteste Outfit eingetauscht, das die Männer und Frauen zur Station mitgebracht haben. Die beiden Köche bekommen frei, und eine zum Küchendienst eingeteilte Gruppe von Forscherinnen und Forschern bereitet ein festliches Mittagessen zu.
Es ist halb zwölf am 6. August, und Ole Dansgaard, der wissenschaftliche Leiter der Station, steigt auf einen Stuhl und bittet um Aufmerksamkeit. Mit beiden Händen hält er eine Flasche Sekt vor seinen Bauch, der sich ein wenig über den eng geschnallten Gürtel wölbt. Ein Pflaster auf einer Wange verdeckt eine Schnittwunde vom Rasieren.
»Gestern am späten Abend haben die Bohrtechniker einen anderthalb Meter langen Bohrkern heraufgeholt, und ich kann euch jetzt sagen: Wir haben die Kilometergrenze überschritten.«
Es wird gejohlt.
»Um genau zu sein, mit dem neuesten Bohrkern sind wir bis zu einer Tiefe von 1007 Metern ins Eis vorgedrungen. Wir sind auf halbem Wege. Applaus für die Bohrtechniker!«
Die Bohrtechniker, die im kleinen Kreis beieinanderstehen, nicken den Applaudierenden zu.
»Sie haben es nicht immer leicht gehabt, wir hatten schlechtes Wetter, immer wieder einmal ging etwas kaputt, aber sie haben für alle Probleme eine Lösung gefunden. Sie lassen sich durch nichts entmutigen, durch nichts abschrecken, sie bohren immer weiterrrr.«
Neuer Applaus. Der wissenschaftliche Leiter hebt die rechte Hand, damit man ihm wieder zuhört. »Und … und … und … Sie sind eigensinnig, diese Bohrtechniker, niemand braucht ihnen zu sagen, was sie zu tun haben, man versucht es auch besser nicht, wie ich lernen musste …« Er betastet das Pflaster.
Gelächter.
»… aber das ist nicht das Einzige, was ich sagen wollte, wir haben noch mehr zu feiern, noch eine Grenze wurde überschritten. Wo ist Iona?«
Er blickt suchend in die Runde. »Die Analyse der vulkanischen Partikel im vorletzten Kern ermöglicht uns eine genaue Datierung der Schicht, bei der wir angekommen sind … Iona Grimstedt … Wo steckst du? Iona? Ist Iona nicht hier?«
Iona, bisher verborgen hinter zwei bärigen Glaziologen aus Kanada, tritt einen Schritt vor und knickst mit ausgebreiteten Armen.
»Ach, da bist du ja … Iona konnte die Tephra im Eis des vorletzten Kerns einem Ausbruch des Torfajökull zuordnen, und das bedeutet, dass wir vorgedrungen sind bis zur Zeit vor … wann genau war dieser Ausbruch noch, Iona?«
»55,4«, antwortet Iona.
»… fast fünfundfünfzigeinhalbtausend Jahren. Wir haben also auch die Fünfzigtausend-Jahre-Grenze längst überschritten, und der Bohrkern der vergangenen Nacht hat uns noch ein Stück weitergebracht.«
Auch diese Nachricht, eigentlich allen schon bekannt, wird mit wohlwollendem Johlen begrüßt. Dansgaard hebt die Sektflasche, er ruft die Bohrtechniker und Iona nach vorn, alle nehmen sich ein Glas, der Korken fliegt durch den Raum, und kurz danach posiert Iona in einem Halbkreis mit den Bohrtechnikern für den Fotografen, der im Auftrag von National Geographic für eine Fotoreportage über das Leben und Leiden auf der Station eingeflogen wurde. Weil die Bohrtechniker mit ihren Jeans, T-Shirts und Holzfällerhemden gegen den sonntäglichen Dresscode verstoßen, sticht Iona in ihrem schwarzen Galakleid mit dem perlweißen Schal auf den nackten Schultern besonders heraus.
Dann sind plötzlich weitere Sektflaschen da, Korken knallen. Ein Schweizer Klimatologe hilft dem wissenschaftlichen Leiter vom Stuhl herunter.
Eine knappe halbe Stunde später – die meisten sitzen am Tisch und essen – steht Iona nach einem Blick auf die Uhr über der Küchentür auf und geht zum Hausmeister der Station.
»Ich kann doch um zwölf telefonieren, oder? Meine Tochter hat Geburtstag, und ich habe versprochen, um vier Uhr anzurufen. Vier Uhr bei ihr, meine ich.«
»Natürlich«, antwortet der Hausmeister. »Das Telefon liegt im Büro bereit.«
Doch als Iona das Büro betreten will, hört sie, dass schon jemand anders das einzige Telefon der Station benutzt. Auf dieser Eisfläche hat man keinen Mobilfunkempfang. Wer dringend telefonieren muss, kann das nur mit dem Satellitentelefon. Und mit dem telefoniert gerade der Fotograf. Iona zögert, schaut auf die Uhr, öffnet dann doch die Tür.
Der Fotograf dreht sich von ihr weg, dämpft die Stimme. Dann bittet er Iona, draußen zu warten.
Sie schließt die Tür, schaut noch einmal auf die Uhr, öffnet die Tür wieder. »Two minutes«, sagt sie leise zum Fotografen und zieht die Tür erneut zu, aber nicht ganz. Sie horcht, blickt dabei zunächst auf die Uhr, doch dann schweifen ihre Gedanken ab. Sie zieht die Schultern ein wenig hoch, sieht auf den Boden und wartet. Als sich nach fünf Minuten die Tür öffnet und der Fotograf ihr das Telefon hinhält, lächelt sie, nimmt den Apparat, betritt das Büro und schließt die Tür hinter sich.
Um halb eins sind alle mit Essen fertig. Der Hausmeister kehrt von einem Gang nach draußen zurück und bittet laut um Aufmerksamkeit. »Hören Sie bitte einen Moment zu. Alle! Wir erwarten einen Whiteout. Niemand darf allein ins Freie.«
Alle Anwesenden kennen die Regeln, man hat sie ihnen bei der Ankunft auf der Station eingeschärft. Bei einem Whiteout, wenn das Sonnenlicht zum Beispiel durch Nebel gedämpft ist, verschwindet von einem Moment zum anderen der Horizont, der weiße Boden und der Himmel sind nicht mehr zu unterscheiden, man verliert völlig die Orientierung. Am besten geht man gar nicht nach draußen und wartet das Ende des Whiteouts ab; notfalls geht man mindestens zu zweit auf den markierten Wegen von der Kuppel zur Bohranlage, den Toiletten oder den Schlafbaracken.
»Sind alle drin?« Der Hausmeister blickt sich um, geht dann zum Büro, klopft an und öffnet die Tür. »Iona?«
Aber Iona ist nicht im Büro. Das Telefon liegt auf der Ladestation. Er schließt die Tür, geht zurück, blickt sich wieder suchend um. »Hat jemand Iona gesehen?« Und dann lauter: »Hat irgendjemand Iona Grimstedt gesehen?«
Es wird still. Niemand hat Iona gesehen.
»Hat jemand mitbekommen, dass sie nach draußen gegangen ist? Hat sie jemandem gesagt, wo sie hinwollte?« Niemand hat sie weggehen sehen, sie hat niemandem etwas...




