E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Decker Richard Wagner
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-949203-65-7
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit den Augen seiner Hunde betrachtet
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-949203-65-7
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schwäne, Riesenwürmer. Auch Pferde. Hunde aber hat Richard Wagner nie auf die Bühne gebracht. Und doch waren sie seine treuesten Begleiter. Oder müsste man sagen: Richard Wagner war der treueste Begleiter seiner Hunde?? Niemand kannte den Komponisten besser als Robber, Peps, Pohl und die anderen. Höchste Zeit, ihre Meinung zu hören. Kerstin Decker begegnet ihrem Gegenstand mit bewundernder Ironie. Denn Wagners Hunde - meist Neufundländer oder Jagdhunde, die es an Statur mit dem Chef aufnehmen konnten - fuhren mit ihm über die tosende See nach Paris, sie teilten sein Exil in der Schweiz und fanden am Ende ihre Ruhestatt neben ihrem Meister in Bayreuth. Richard Wagners Leben aus vierbeiniger Perspektive - das gab es noch nie.
»Das lustigste Wagnerbuch hat Kerstin Decker geschrieben.«
Elke Heidenreich, Die Welt
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, promovierte Philosophin, ist Autorin des »Tagesspiegel«. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter »Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich« und »Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe«. Zuletzt erschienen »Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow« (2015), »Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche« (2016) und »Die Geschichte des Menschen. Von einer Ratte erzählt« (2021). Kerstin Decker lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ROBBER ODER »DER FLIEGENDE HOLLÄNDER«
Achderarmehund
Vor der Tür des sechsundzwanzigjährigen Rigaer Kapellmeisters liegt ein großer schwarzer Hund, ein Riese selbst unter den Neufundländern. Er ist viel schöner als ich, sagt der Kapellmeister. Und stärker ist er wohl auch. Wie vermisst er seinen Namen. R-o-b-b-e-r. Aber wenn andere ihn rufen, hört er es fast nicht. Sie nennen ihn ohnehin kaum noch Robber, nur Achderarmehund. Achderarmehund, sagen die Nachbarn. Achderarmehund, sagt der Hauswirt. Robber wartet. Er durchwartet die Tage, er durchwartet die Nächte. Im Umgang mit den Menschen, das weiß er, helfen nur Nachsicht, Geduld und Beharrlichkeit. Es hat lange gedauert, bis der Kapellmeister einsah, dass dieser Hund sein Hund war. Er konnte es unmöglich wieder vergessen haben. Vielleicht hatte Richard Wagner irritiert, dass Robber dem Kaufmann Armistead gehört. Von ihm hat er auch seinen fremden Namen: Robber. Räuber. Aber ein Hundeleben ist viel zu kurz, um es bei einem Herrn zuzubringen, der nicht zu einem passt. Wie der Kaufmann Armistead. Der mündige Hund wählt seinen Herrn selbst. Ein späterer Freund des Kapellmeisters würde einmal die ganze Philosophie des Abendlandes überprüfen, um am Ende einen kategorischen Imperativ einzuführen: Folge nicht mir, folge dir nach! – Aber das tat er doch jetzt schon. Darum musste er den Kaufmann verlassen. Außer sich selbst folgte er nun auch dem Kapellmeister nach, und das war nicht Nachlässigkeit oder Schwäche, das war Konsequenz. Bisher kannte der Kapellmeister nur Pudel, wenn wir von seinem Versuch absehen wollen, einen jungen Wolf zu zähmen, der allerdings die Gemütlichkeit unsres häuslichen Lebens, wie sein Besitzer bald einsah, nicht vermehrte. Die Tatsache wog umso schwerer, da seinem häuslichen Leben von Anfang an eine entschiedene Tendenz zum Ungemütlichen innewohnte, was nicht zuletzt am Temperament des Ehemannes und seiner Begabung zur Eifersucht lag. Allerdings hatte er Gründe, denn seine Frau war schon zweimal mit ihrem Liebhaber geflohen. Kurz: Pudel waren besser. Der erste hörte auf den Namen Rüpel, sonst hörte er eigentlich nicht; die beiden anderen hießen Dreck und Speck, waren schwarz wie Robber, hatten aber schneeweiße Nasen. Pudel sind ein Irrtum, weiß Robber. Richard Wagner hat keine Pudelseele. Wenn einer unter allen Einwohnern Rigas eine Neufundländerseele besitzt, stark und schön wie die seine, dann der Kapellmeister. Ging er aus dem Haus, war Robber schon an seiner Seite. Ging er zurück ins Haus, blieb er davor und wich keinen Schritt. Der Erwählte nannte das förmliche Belagerung. Ich lieg’ und besitz’, lasst mich schlafen, wird später ein zum Lindwurm gekrümmter Riese in seiner längsten Oper sagen, im »Ring«. Genauso war das schon jetzt. Aber Robber versperrte die Tür vor allem, damit der Inhaftierte genug Muße hatte, nachzudenken. Etwa darüber, dass man Erwählungen nicht ablehnen kann. Vielleicht auch darüber, ob es möglich ist, so viel zu dirigieren wie sein Hund frisst. Aber das würden sie zusammen tun. Was heißt, ein Hund gehört nicht auf eine Orchesterprobe? Ein Blick hatte genügt, um zu wissen, worauf es hier ankam. Mit einem lächerlich kleinen Stab versuchte sein armer Herr, eine ganze bewaffnete Meute zusammenzuhalten. Was hier fehlte, war er, erkannte der Hund und postierte sich mit finsterer Entschlossenheit neben dem Dirigentenpult. Gemeinsam würden sie die Widerstrebenden in Schach halten. Er achtete vor allem auf die Kontrabässe, die waren am bedrohlichsten. So war es gewesen. So würde es sein. Sie würden wieder gemeinsam dirigieren. Er musste nur warten können. Der Kapellmeister hat ihn beim Namen gerufen, er ist sein Hund. R-o-b-b-e-r. Manchmal möchte er fast aufspringen, meint er den vertrauten Schritt, die vertraute Stimme schon zu hören, aber dann ist es jedes Mal nicht wahr. Es sind Dämmertage. Der Hund träumt. Der Kapellmeister ruft nicht mehr. Warum öffnet sich diese Tür nie? Weil er nicht drin ist, natürlich. Sind Belagerungen nur dann welche, wenn der zu Belagernde zu Hause ist? Damals war er gefangen, jetzt ist die Wohnung bald leer. Robber hat selbst gesehen, wie Hausrat hinausgetragen wurde. Aber was heißt das? Er ist da!, verrät noch immer jede Nachforschung seiner Hundenase. Er muss warten. Es ist Juni, es ist unerträglich heiß. Und er ist ein Badehund, sogar im Winter. Nie ist er mit dem Kapellmeister in die Stadt gegangen, ohne im Festungsgraben zu schwimmen. Neufundländer gehören zu den Amphibien. Er hat schon lange nicht mehr gebadet. Achderarmehund! Der Hauswirt bleibt nachdenklich stehen. Und dann streichelt er ihn. Das heißt nur, wenn er es zulässt. Dem Tonfall nach zu urteilen, ist Achderarmehund! keine Beförderung. Robber weiß, wie Respekt klingt, so klingt er nicht. Aber was ist es dann? Käme der Kapellmeister gleich wieder, er würde es an den Stimmen ringsum erkennen. Er hat ein sehr gutes Gehör für Töne. Der Kapellmeister sagt, er habe noch nie einen so musikalischen Hund gesehen. Und er hat ihn auch nie spüren lassen, dass er mehr fraß als er. Hätte Robber den Kontrabassisten verschonen sollen? Er hört ihn noch schreien: »Herr Kapellmeister, der Hund!« Aber da war es schon zu spät. Nichts mehr zu machen. Ihn hatte der tückische Stock nicht täuschen können, zwar bewegte er sich meist langsam, aber immer in seine Richtung, und dann plötzlich wurde die Bewegung stärker. Das ist ein Bogen, sagen die Musiker, aber Stock bleibt Stock, und als er wieder vorschnellte, diesmal heftiger, aggressiver als vorher, sprang Robber los. Direkt auf den Kontrabass. Der Kapellmeister war verstimmt, ja, er war böse, obwohl er selbst erklärte, der Hund hätte recht gehabt: Der Bass sei zu schnell gewesen. Aber böse war er trotzdem. Meine vortreffliche Bestie, hatte er manchmal gesagt, und es war eine Zärtlichkeit gewesen. Jetzt ließ er das »vortrefflich« weg. Das machte Robber sehr traurig. Der lädierte Kontrabass war auch böse, wagte aber nicht, das zu zeigen. Vielleicht sollten Sie, lieber Leser, wissen, dass wir Neufundländer keine gewöhnlichen Hunde sind. So wie der Kapellmeister, aber ich glaube, das wissen Sie, auch kein gewöhnlicher Kapellmeister ist. Wir sehen nur das ein, was wir wollen. In unserer tiefsten Neufundländerseele sind wir Anarchisten. Nur Anarchisten können wirklich treu sein. Gehorsam ist eine Eigenschaft von Kreaturen, keine von Neufundländern. Aber das mit dem Kontrabass war wirklich falsch. Ich beließ es seitdem bei Blicken, denen der Rekonvaleszente unmissverständlich entnehmen musste, dass das Vorgefallene jederzeit wieder geschehen kann. Man kann seine Frau verlassen, vielleicht sogar seine Kinder, aber niemals seinen Hund. Herr und Hund. Ich habe schon angedeutet, dass diese Worte lächerlich sind, wenn von uns beiden die Rede ist. Und nicht nur, weil nicht der Kapellmeister sich einen Hund aussuchte, sondern der Hund sich einen Kapellmeister. Wie oft hat er mir gesagt, dass ich der einzige Mensch bin, mit dem man sich hier vernünftig unterhalten kann. Und dass er sehr allein sei: Von nirgends her trat mir eine auch nur im mindesten anregende Persönlichkeit entgegen,1 wird er später etwas unpräzise zu Protokoll geben, richtig lautet der Satz: Von mir abgesehen, trat ihm von nirgends her auch nur eine im Mindesten anregende Persönlichkeit entgegen. Habe ich Sie erschreckt und Sie fragen sich, ob jetzt schon die Hunde beginnen, Sachbücher zu verfassen? Niemand kannte den Kapellmeister so gut wie wir. Und wir sind genaue Beobachter, zumal wir ebenjene kritische Distanz zu den menschlichen Dingen besitzen, die man von einem richtigen Sachbuch verlangen muss. Doch wir können auch, was den Menschen so schwer gelingt: einfach mal das Maul halten. Wir sind die idealen Co-Autoren. Der Hund träumt. Nichts freut ihn mehr, nicht Fressen, nicht Baden, solange der Kapellmeister nicht zurückkehrt. Er wird warten. Einmal muss jeder nach Hause kommen. Die Selbstberufung
Fünfundvierzig Kilometer vor Riga liegt Mitau, wo die Mitauer jetzt die Opern hören, die das Rigaer Theater schon im Winter spielte. Meyerbeers »Robert, der Teufel« gilt als Höhepunkt, aber der Kapellmeister hält das wohl bereits jetzt für einen fahrlässigen Irrtum des Publikums. Am 24. Juni 1839 muss er Beethovens »Fidelio« dirigieren, die Oper, die ihn zum Musiker gemacht hatte. Nie klang eine Rettung zarter und gewalttätiger zugleich. Und wenn er, kurz vorm Ende, der Trompete das Zeichen zu ihrem Freiheitsruf geben muss, wird es zugleich die Fanfare seiner eigenen Befreiung sein. Und nur er weiß es. Leonore befreit Florestan, er spricht sich selbst frei! Wenige Tage noch, und er ist weg! Es gibt nur eine Schwierigkeit. Was er vorhat, ist mindestens so unmöglich wie...