E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Decker Nietzsche und Wagner
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8437-0339-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte einer Hassliebe
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0339-0
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kerstin Decker, geboren 1962 in Leipzig, ist promovierte Philosophin, Reporterin des Tagesspiegel und Kolumnistin der taz. Sie lebt in Berlin. Im Propyläen Verlag erschienen von ihr Biographien über Heinrich Heine, Paula Modersohn-Becker, Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salomé und die Doppelbiographie über Nietzsche und Wagner.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Geschichte der Musik Geschichte der Musik: Romantik (ca. 1830-1900)
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Einzelne Komponisten und Musiker
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Deutsche Literatur
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: 19. Jahrhundert
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
Weitere Infos & Material
Der Kanonier Friedrich Nietzsche,
23 Jahre alt, drei Monate vor
seiner ersten Begegnung mit
Richard Wagner.
Die Einladung
Von dem Augenblick an, wo es einen Klavierauszug
des Tristan gab – mein Kompliment,
Herr von Bülow! –, war ich Wagnerianer.
Friedrich Nietzsche, Ecce homo
Am frühen Abend des 8. November 1868 steht ein durchnässter Schneidergeselle vor der Tür eines Leipziger Studenten, überm Arm die Lieferung seines Meisters. Ein rätselhafter Ausdruck von Dankbarkeit, ja von grenzenloser Erleichterung erscheint im Gesicht des Hereinbittenden.
Er hatte schon den ganzen Nachmittag gewartet und einem Freund, der sich nicht davon abbringen ließ, ihm Wissenswertes über die Entwicklung des Gottesbegriffs bis Aristoteles mitzuteilen, nicht recht zuhören können. Was ging ihn jetzt – bei Aristoteles oder sonst wem – das Höchste oder der Höchste an? Für ihn war das im Augenblick sein Schneider, und der hielt es genau wie jener andere gewöhnlich: Er erschien nicht.
Als es dunkel wurde, hatte der Student schließlich in höchster Ungeduld sein etwas zu großes, etwas zu leeres Zimmer in der Lessingstraße 22, zweiter Stock, verlassen, war durch Schnee, Regen und Wind gelaufen, um mit einer Miene, die weltuntergangskündender war als das Wetter, die Werkstatt des Schneiders zu betreten. Ich … fand seine Sclaven heftig mit meinem Anzuge beschäftigt.4 Keine Stunde mehr, und er sei fertig, versicherte der Meister.
Am Sonntag, hatte er gesagt, könne er liefern. Da wusste der studentische Auftraggeber der Festgarderobe noch nicht, wie dringend er sie genau an diesem Sonntag schon brauchen würde. Denn er ist eingeladen. Eingeladen, dem Mann zu begegnen, dem er alles auf Erden verdankt. Etwa die Tatsache, dass er seine Jugend überlebt hat.5 Ja, dem Gastgeber in spe ist es zu verdanken, dass der zu Bekleidende eine Heimat hat. Denn nur in Noten kommt der Mensch wirklich nach Hause.
Diese Überzeugung wird der Student der Altphilologie Friedrich Nietzsche ein Leben lang nicht aufgeben. Dabei bringt der Mann, dem er noch an diesem Abend gegenüberstehen soll, sie nur in eine höchst eigenwillige, viel beargwöhnte Reihenfolge. Dennoch, der Student könnte sogar so weit gehen wie ein anderer, fast gleichaltriger junger Mann – ein König sogar – und den Einladenden den »Grund meines Daseins« nennen. Nie hat er das tiefer empfunden als eben jetzt.
Vor ein paar Tagen erst, Ende Oktober, als die Leipziger »Winterkonzerte« begannen, hörte er das »Tristan«- und das »Meistersinger«-Vorspiel wieder. Ein Kritiker meinte bei Letzterem direkt dem Untergang Pompejis beizuwohnen, auch der Student spürte das Beben, aber wer sagt denn, dass Untergänge nicht die wahren Aufgänge sind: … jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lang nicht ein solch andauerndes Gefühl von Entrücktheit gehabt.6 Das war eine durchaus riskante Befindlichkeit, denn der Zuhörer wusste sich in unnachsichtigster Gesellschaft. Wenn seine Mitakademiker und er im Theater sitzen, so sitzen sie zu Gericht: unmittelbar vor mir … Bernsdorf, jenes signalisirte Scheusal, links neben mir Dr. Paul, jetzt Tageblattheld, 2 Plätze rechts mein Freund Stade, der für die Brendelsche Musikzeitung kritische Gefühle produzirt: es ist eine scharfe Ecke: und wenn wir Vier einmüthig mit dem Kopfe schütteln, so bedeutet es ein Unglück.7 Machten die anderen gar Pompeji-Gesichter? Und er, gewöhnlich weder zu Milde noch Schonung bereit, begabt mit einem Verstand wie ein Rasiermesser – er brachte die einfache Bewegung des Kopfes nicht zustande.
Vielleicht fiel es ihm schon schwer genug, einen möglichst überlegenen Gesichtsausdruck zu wahren, wie ihn nur besitzt, wer über den Dingen steht und sich nicht mitten in ihnen befindet.
Dingen? Nein, nichts Festes mehr; das war ein Meer, ein Meer aus Lust und Schmerz, und er war nichts als ein Stück Treibgut darin, ausgeliefert jedem neuen Wellenschlag. Das war sehr kränkend. Das war vollkommen inakzeptabel. Und doch, sollte das Glück am Ende eine Kränkung sein? Alles kam darauf an, seinen spastischen Zustand vor den drei Großkritikern zu verbergen.
Drei Viertelstunden noch, und der Frack ist fertig? Es gelang dem Schneider, seinen ungehaltenen Kunden zu besänftigen. Den Rückweg begann dieser betont langsam, um die längste aller Stunden abzukürzen. Schnee und Regen spürte er kaum noch, er flanierte durch das Jahresendtiefdruckgebiet. In seinem Lieblingscafé Kintschy überflog er die neueste Ausgabe des »Kladderadatsch«. Sie meldet, dass Richard Wagner in der Schweiz ist. Der Student lächelte leise. Das weiß er aber besser.
Niemand darf erfahren, dass Richard Wagner in Leipzig ist, schon gar nicht die Presse. Deshalb flüstern es sich die Leipziger nur zu; alle Dienstboten Brockhausens, bei dem er wohnt, sind stumm gemacht wie Gräber in Livree8, und auch er hatte zwei Tage zuvor nur eine Flüsterkarte erhalten, auf der stand: Willst du Richard Wagner kennenlernen, so komme um ½ 4 in das Café théatre. Er erschien, der Kontaktmann raunte: Morgen Nachmittag bei Brockhaus! Er kam, natürlich kam er, aber der Meister war schon wieder weg. Ausgegangen mit einem ungeheuren Hute auf dem großen Schädel, seinem Wotanshut.
War Friedrich Nietzsche enttäuscht? Oder fühlte er nicht vielmehr seinen Realitätssinn bestätigt? Selbst wenn einer wie Wagner tatsächlich in der Lage sein sollte, Menschengestalt anzunehmen, lässt sich diese doch nicht einfach so stellen, am Sonnabendnachmittag im Salon Brockhaus. Nun also Sonntag, Sonntagabend. Und der begann jetzt.
Alles Glück will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit, wird er kurz vor Ende seines bewussten Lebens notieren. Das eben ist der Unterschied: Das Glück will diese Frist nur, das Warten aber nimmt sie sich einfach, und wenn es nicht einmal eine Stunde ist. Zurück in der Lessingstraße 22, war der Schneider noch immer nicht da. Er zwang sich, eine Dissertation zu lesen: Die Vandalen plündern Rom und entführen Eudocia, die Tochter des weströmischen Kaisers Valentian III. Gellendes Läuten drang in kurzen Abständen in die Plünderung Roms und die Verzweiflung Eudocias. Bis der Student begriff, dass der Vandalenlärm nicht aus dem Rom des Jahres 455 kam, sondern von seiner Gartenpforte. Und wirklich, da stand er, ein dünner Alter mit Paket, schon sehr ungeduldig. Und er besaß keinen Schlüssel für die hintere Pforte. Der Student rief. Er winkte. Er schrie. Das ganze Haus geriet in Aufruhr. Nur der Bote hörte nichts.
Dann endlich zählte nur noch eins: Er war da – der neue Frack, die Ballgarderobe, sicher durch Regen, Schnee und Wind getragen, endlich!
*
Richard Wagner bestärkt nicht zuletzt Friedrich Nietzsches Ahnung, dass es mehr auf dieser Welt geben muss als die Altphilologie. Für einen Beststudenten der Altphilologie ist das kein ganz selbstverständliches Bewusstsein, andererseits hat er soeben auch erkannt, wer der wahre Heilige der Philologie ist, und einen alten Schulfreund gefragt: Weißt Du, wie er heißt? Wagner, Wagner, Wagner!9
Friedrich Nietzsche darf sicher sein, dass niemand außer ihm darauf gekommen wäre, den Empfänger des Wagner, Wagner, Wagner!-Briefes ausdrücklich eingeschlossen und seinen Professor erst recht. Aber das beunruhigt ihn nicht. Er hält die meisten Philologen ohnehin für Idioten, und selbst die größten seien am Ende nur Fabrikarbeiter, bis auf diesen einen echten und wirklichen Philologen10.
Dennoch, und das beobachtet er schon länger, meinen die geistigen Fabrikarbeiter – gerade sie –, ein Recht zu haben, auf ihn zu pissen. Also sprach der Student. Aber nun ist das vorbei, jetzt ist er da. Er passt auf. Er pisst zurück. Vielleicht hätte Friedrich Nietzsche diese Formulierung gebilligt.
… jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir … Es ist wohl wahr, der Urheber solch physiologischer Unordnung – der Betroffene wird diese Erfahrung bald in die unverfänglichere Wendung einer Rechtfertigung des Lebens durch die Kunst fassen – kann nicht nur die Welt der Körper durcheinanderbringen, sondern auch die der Zeit. Er komponiert sie einfach weg. Nichts anderes ist Erlösung. Doch im Augenblick kann niemand unerlöster sein als sein dankbarster Hörer.
Denn heute Abend wird der Meister nicht komponieren, heute wird er warten. Und zwar nicht zuletzt auf ihn. Das bedeutet Chronos statt Kairos, das bedeutet härtesten Wettlauf gegen die Uhr. Der noch immer Unbekleidete wird im Bericht dieses Abends gewissenhaft genug sein, die Zeit zu notieren. Es ist genau halb 7 Uhr, Zeit meine Sachen anzuziehn und Toilette zu machen11. Was, wenn die Festgarderobe nicht passt?
Welche Erleichterung, als er unter den dienstfertigen Handgriffen des Boten das Gegenteil feststellen darf. Ein Frack, der passt – auch das kann Erlösung sein. Jetzt sollte der Retter einsichtig sein und gehen. Aber er bleibt....