E-Book, Deutsch, 336 Seiten
de Waal Donnerstags bei Kanakis
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-552-05685-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-552-05685-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wien, 1950er Jahre: Jeden Donnerstag treffen sich bei Theophil Kanakis Künstler, Schauspielerinnen, Journalisten. Von den Verfolgungen der Kriegszeit spricht hier keiner; neu beginnen will auch Kuno Adler, jüdischer Wissenschaftler, zurückgekehrt aus dem Exil. Er hofft, seine Arbeit dort weiterführen zu können, wo er sie verlassen musste. Aber er trifft auf Ausflüchte, Geringschätzung und Feindseligkeit. Und da ist Marie-Theres, das Mädchen aus Amerika. Sie gerät in ein Milieu voller moralischer Zweideutigkeit und geht an ihrer eigenen Arglosigkeit zugrunde. De Waals Roman ist vieles zugleich: scharfsichtiges Sitten- und Zeitporträt, Milieuschilderung und elegischer Abgesang.
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Vorwort
Ich habe diesen Roman meiner Großmutter Elisabeth wieder und wieder gelesen. Mein Vater hatte mir das mit etlichen Tippex-Korrekturen versehene vergilbte Typoskript übergeben, zusammen mit einem Bündel von Elisabeths Zeugnissen aus dem Wiener Schottengymnasium und einem braunen Umschlag mit Seminararbeiten über Ökonomie aus ihrer Studienzeit an der Universität. Dabei waren auch ein paar geistreich funkelnde Seiten aus einer Autobiografie, die ihre Kindheit um die Jahrhundertwende im Palais Ephrussi an der Ringstraße schilderten – die Kutschpferde, die endlosen Nachmittagstees mit Großtanten –, und ein Häufchen Briefe, die sie mit einem Lieblingsonkel gewechselt hatte. Sonst jedoch gab es sehr wenig. Mein Vater hatte in dem Schwellenmoment, als er mir die Mappen gab, gescherzt, ich sei nun der Hüter des Archivs. In den vielen, vielen Monaten, die ich danach in Archiven und Bibliotheken verbrachte, als ich auf der Suche nach der für mich so zwingend gewordenen Familiengeschichte durch die Straßen von Wien, Paris und Odessa streifte, wurde mir klar, dass diese archivalische Kargheit vollkommen sinnvoll war. Meine Großmutter hatte ihr Leben im Transit zwischen Staaten verbracht; sie behielt nur die Dinge, die ihr wichtig waren. Und diese Blätter waren es. Der unbenannte Roman, der nun den Titel »Donnerstags bei Kanakis« trägt, wurde zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht. Wenn ich mich mit ihr über die Bedeutung des Schreibens unterhielt, verriet sie nie, was es für sie bedeutete; erst vor kurzem fand ich diese einzelne, außergewöhnliche Seite: »Warum bemühe ich mich so sehr, strenge meine Ausdauer und Energie so sehr an, um dieses Buch zu schreiben, das niemand lesen wird? Warum muss ich schreiben? Weil ich immer geschrieben habe, mein ganzes Leben lang, weil ich es immer im Sinn hatte, und immer habe ich unterwegs gezögert und kaum je ist es mir gelungen, publiziert zu werden … Was fehlt? Ich habe ein Gefühl für Sprache … Aber ich glaube, ich schreibe in einer vergeistigten Atmosphäre, mir fehlt die Menschennähe, es ist alles zu fein destilliert. Ich handle mit Essenzen, deren Geschmack zu subtil ist, um auf der Zunge wahrgenommen zu werden. Es ist die Quintessenz von Erfahrungen, es sind nicht die Erfahrungen selbst … ich destilliere zu sehr.« Das ist Elisabeths Stimme, streng und selbstkritisch, unfähig zum Selbstmitleid; aber man spürt auch ihr tief empfundenes Bedürfnis zu schreiben. Sie behielt es für sich, während sie eine Enttäuschung nach der anderen erlebte, als die Manuskripte ihrer Romane (fünf insgesamt, drei auf Englisch und zwei auf Deutsch) abgelehnt wurden. Was sie zu verfassen vorhatte, waren Ideenromane; in ihrem Schreiben versuchte sie eine Balance zwischen einer bestrickenden Kombination aus intellektuellen und emotionalen Einflüssen, der diamantharten Exaktheit ihres akademischen Daseins und dem lyrischen Imperativ ihrer Existenz als Lyrik- und Prosaautorin. In »Donnerstags bei Kanakis« setzen die beiden Hauptpersonen, Resi, das junge, schöne Mädchen, und Professor Adler, der exilierte Wissenschaftler, diese beiden Teile ihres Lebens in Szene. Und es war ein Leben von großer Dramatik. Elisabeth de Waal war Wienerin, und dies ist ein Roman über das Wienersein. Als solcher ist es ein Roman über Exil und Rückkehr, über die widerstreitenden Kräfte von Liebe, Zorn und Verzweiflung angesichts eines Ortes, der zur eigenen Identität gehört, der einen aber auch abgewiesen hat. Dieser zu Lebzeiten meiner Großmutter nie veröffentlichte Roman ist sich solcher Komplexität bewusst und fungiert, indem er diese Emotionen auslotet, in Teilen als Autobiografie. Sie wurde 1899 als Elisabeth von Ephrussi in eine jüdische Familiendynastie hineingeboren, die sich dreißig Jahre zuvor Wien zur Heimat erwählt hatte. Es war ein außergewöhnlicher Geschichtsmoment an einem außergewöhnlichen Ort. Ihr Heim war das Palais Ephrussi, ein riesiges, karyatidengeschmücktes Stück Neoklassik an der erst kürzlich angelegten Ringstraße, jenem Bogen aus öffentlichen Gebäuden und imperialen Monumenten, der errichtet wurde, um den Ruhm des Habsburgerreiches zu spiegeln. Das marmor- und goldstrotzende Gebäude war eine von einer unendlich reichen und aufstiegsorientierten Familie von Geldleuten errichtete Visitenkarte, eine von vielen an jener Straße, die man in der Stadt spöttisch Zionstraße nannte: die Straße der Juden. Elisabeths Mutter, eine schöne jüdische Baronesse, war im wenige hundert Meter entfernten Palais Schey geboren worden. Cousins und Cousinen lebten nebenan. Es war eine sichere – wenn auch vielschichtige – Welt, um hineingeboren zu werden. Diese fragile Kombination aus Geld und Status, die Frage, wo man herkam und wo man hingehörte, war Teil der Verfasstheit Wiens. In der Hauptstadt der Monarchie wimmelte es auf den Straßen von allen Nationalitäten und ethnischen Gruppen. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus, man sah von dort über die Äste der Ulmen hinüber zur Universität, konnte Elisabeth die aus einer breiten Schneise des europäischen Kontinents stammenden kaiserlichen Regimenter vorbeimarschieren sehen und hören. So grübelt einer der Protagonisten ihres Romans, Professor Adler, in den schlaflosen Stunden vor seiner Rückkehr: »… aus allen Himmelsrichtungen waren sie gekommen, um ihr Glück zu suchen – Tschechen, Polen und Kroaten, Magyaren und Italiener, und natürlich Juden, um diese deutsche Stadt zu durchmischen, zu nähren und zu bereichern, die durch sie einzigartig und wahrhaft imperial wurde.« Elisabeths Erinnerungen handelten von einer polyglotten Erziehung in einer polyglotten Stadt. Und ihr Schreiben war aus einer intuitiven Ungezwungenheit in verschiedenen Sprachen geboren. Sie konnte wählen, in welcher Sprache sie schreiben oder in welcher sie lesen wollte: »Ich wurde in Wien geboren und lebte dort, also war Deutsch die Sprache, die mich umgab, das österreichische Deutsch mit seinen weichen und manchmal rauhen Vokalen und abgemilderten Konsonanten, eine Sprache, die derb sein konnte, wenn auch niemals schneidend, jedenfalls die Bildungssprache. Für mich als Heranwachsende war es die Sprache von Goethe und Schiller, später von Rilke und Thomas Mann, Kant und Schopenhauer, und die Sprache, in der Reinhardts Stücke aufgeführt wurden. Aber es war nicht die Sprache meiner kleinen, unmittelbaren und intimen Welt als Kind. Das war Englisch.« Elisabeths Kindheit in diesem außerordentlich privilegierten Haushalt, umringt von Dienerschaft, war auch eine von schrecklicher gesellschaftlicher Konventionalität. Ihre Eltern – ein gelehrter Vater mit einer wunderbaren Bibliothek, eine Salonlöwin als Mutter mit einem unvergleichlichen Boudoir – stritten sich heftig wegen ihrer Erziehung. Elisabeth setzte sich durch und erhielt die Erlaubnis, bei Lehrern aus dem Schottengymnasium, der angesehenen Knabenschule gegenüber dem Haus der Familie, Unterricht zu nehmen. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, die Monarchie zerfiel in Unruhen und Fahnenflucht, legte Elisabeth die Matura ab. In ihrem Zeugnis findet sich eine lange Reihe von »Sehr gut«. Das ermöglichte es ihr, an die Universität zu gehen, um Philosophie, Jus und Wirtschaft zu studieren. In einer Hinsicht war das eine sehr jüdische Wahl: In allen drei Fächern waren Juden an den Fakultäten stark vertreten. Doch es war auch eine zutiefst persönliche Entscheidung. Sie liebte die Art, wie Ideen wirken, und durch dieses rigide akademische Training fühlte sich Elisabeth im philosophischen Diskurs vollkommen zuhause. In ihrer lebenslangen Korrespondenz mit dem herausragenden Wiener Politikwissenschaftler Ludwig von Mises und dem politischen Philosophen Eric Voegelin ist das zu erkennen. Aber Elisabeth hatte noch eine weitere Schreibexistenz: Sie war Dichterin. Wie viele ihrer Generation war sie hingerissen von der lyrischen Poesie Rilkes, des großen und radikalen Dichters jener Tage. In seiner Poesie verband Rilke Direktheit des Ausdrucks mit einer intensiven Sinnlichkeit. Seine Gedichte sind voller Epiphanien, Momenten, in denen die Dinge zum Leben erwachen. Elisabeth lernte sein Werk durch einen Onkel kennen und begann einen für sie äußerst bedeutsamen Briefwechsel; sie schickte Gedichte, um sie von Rilke beurteilen zu lassen, und erhielt lange und eingehende Antworten, oft zusammen mit Abschriften der Gedichte, an denen er gerade arbeitete. Sieht man sich die gesammelten Briefe Rilkes an, dann merkt man, dass viele seiner Briefpartner und -partnerinnen jung, poetisch angehaucht und adelig waren; Elisabeth war eine von vielen. Aber das Bündel Briefe, das sie auf all ihren lebenslangen Reisen von Wien nach Paris, in die Schweiz und dann in ihr neues Leben in England mitnahm, hatte für sie eine tiefe symbolische Bedeutung. Es war eine Sanktionierung eines Schriftstellers für sie als Schriftstellerin. Elisabeths Sprachkenntnisse gaben ihr in literarischen Dingen eine atemberaubende Spannweite. Nachdem sie meinen Großvater Hendrick de Waal kennengelernt und geheiratet hatte, lernte sie Holländisch; in dieser Sprache verfassten sie füreinander Gedichte. Als sie in den 1930er Jahren in Paris lebte, schrieb sie für den Figaro. Und in den 1950er Jahren schrieb sie für das Times Literary Supplement Kritiken über französische Romane. Ihre ersten beiden Romane wurden auf Deutsch verfasst, die letzten drei auf Englisch. Kein Wunder, dass ich ihre Bücherregale so verwirrend fand. Wenn ich, damals Student der englischen Literatur, sie besuchte, schweifte die Unterhaltung quer über die Genres und Länder – eine hingeworfene Bemerkung über Goethe beschwor die Schlussszene aus »Faust« herauf, die sie achtzig Jahre zuvor gelernt hatte. Wir sprachen über Rilke und Hugo von...