Das Leben des B. B. King
E-Book, Deutsch, 697 Seiten
ISBN: 978-3-15-962117-3
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniel de Visé, Journalist, Buch-Autor und Pulitzer-Preisträger, arbeitet u. a. für die 'Washington Post'und den Miami Herald. Sein Buch über B.B. King stand auf der Longlist für die 'PEN America Literary Awards 2022' und wurde von 'Kirkus' als Best 'Nonfiction Book of the Year 2021' und vom amerikanischen 'Library Journal' als 'Best Book 2021' ausgezeichnet.
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Einleitung
Noch einmal ins Gefängnis zu gehen, das war wirklich das Letzte, was B.B. King wollte. Er hatte nur eine einzige Nacht in einer Zelle verbracht, nachdem ihn ein weißer Polizist auf einem Mississippi-Highway angehalten hatte, weil er 80 Meilen pro Stunde in einer 60-Meilen-Zone gefahren war. Das war 1950 gewesen. Damals rackerte sich B.B. als Musiker ab, war ein unterbezahlter Radio-DJ Mitte zwanzig, der immer noch Baumwolle pflückte, um über die Runden zu kommen, und raste in einem geliehenen Auto zum nächsten Auftritt. Das Bußgeld betrug 90 Dollar. Diese Summe konnte B.B. nicht aufbringen, und das wusste der ungemütliche, weiße Polizist. Zwei Jahrzehnte später, am 10. September 1970, stand B.B. kurz vor seinem 45. Geburtstag. In diesen 45 Jahren war Riley B. King vom mittellosen Sharecropper*,1 Straßenmusiker und Sänger mit ersten Erfolgen in den Charts zum König des Blues aufgestiegen. Um 1970 definierten Gitarrenhelden das, was Pop- und Rockmusik war, und B.B. King war der erste Gitarrenheld. B.B.s Geschichte ist die Geschichte der Großen Migration, jener nordwärts ausgerichteten Wanderungsbewegung, die Millionen von Afroamerikanern von den Plantagen des Südens in den städtisch geprägten Norden führte. B.B. hatte Mississippi per Anhalter verlassen, brachte es in Memphis zu Ruhm und tourte dann in einem Bus namens Big Red quer durch das Land. Nach zwei Jahrzehnten auf dem legendären schwarzen Chitlin’ Circuit* war ihm das Crossover, der Sprung aus dem eigenen Lager heraus, gelungen, und diesen symbolischen Durchbruch krönte er 1967 mit einer triumphalen Darbietung vor einer Menge weißer Hippies in San Francisco, genauer: im von Marihuana geschwängerten Fillmore Auditorium im Jahre 1967. Nach dieser Show hatte B.B.s Publikum die Farbe gewechselt. Von da an spielte er vor allem für die Weißen. Doch war dieser Auftritt irgendwie anders: eine Show im berüchtigten Cook County Jail in Chicago. Die Anregung dafür war von einem Wärter afroamerikanischer Herkunft gekommen; 2400 Insassen sollten unterhalten werden, von denen die meisten ebenfalls Afroamerikaner waren. B.B. frohlockte, wieder vor einem schwarzen Publikum spielen zu können. B.B. und seine Band betraten das Gefängnis an jenem Morgen gegen elf Uhr. Wärter mit versteinerten Mienen klopften die Musiker ab und führten sie durch schwere Stahltüren, die mit einem widerwärtigen Scheppern ins Schloss fielen. Die Band folgte dem Verlauf von schier endlosen, fensterlosen Gängen, vorbei an Verwaltungszimmern und Zellen und dem elektrischen Stuhl der Anstalt, bis zu einer Kantine – wohin die Musiker auch gingen, ihnen folgten Augenpaare, die »ausdruckslos waren und nur einen tiefen, betäubten Schmerz« erkennen ließen, wie sich ein Musiker erinnert. B.B. plauderte mit den Insassen, versuchte, die Urangst niederzuringen, in einem Gefängnis eingesperrt zu sein, an einem Ort, der »etwas Endgültiges hatte« und sich »angsteinflößend und knochenhart« anfühlte. Ein stämmiger Wärter wich dem Bluesmann nicht von der Seite, seine Augen unermüdlich auf der Suche nach der aufblitzenden Klinge eines improvisierten Messers. Die meisten der Männer waren jung genug, um B.B.s Kinder sein zu können. Einer nach dem anderen erzählten sie ihre Geschichten: wie sie über Monate in den Zellen schmachteten, auf eine Verurteilung warteten, keine Kaution hinterlegen konnten und nicht in der Lage waren, die Strafanstalt zu verlassen. Nach einer faden Mahlzeit brachten die Aufseher die Band ins Freie, auf einen trostlosen und windigen Innenhof. Die Entourage begab sich zu einer kleinen Bühne, einer erhöhten Plattform, auf der einst abgeurteilte Männer gehenkt worden waren. Ein widerspenstiger Wind riss den Musikern die Noten von den Ständern, wehte die Blätter über die abschreckende, 30 Fuß hohe Steinmauer. Doch eine warme Herbstsonne schien in den Hof, die Temperatur lag bei angenehmen 20 Grad. Das Wetter hielt sich, und das war gut so, denn die Organisatoren hatten an diesem Tag alles unternommen, damit ein Konzert stattfinden konnte. B.B. spielte ohne Gage, aber sein Plattenlabel hatte 10 000 Dollar für Transportkosten, Gehälter und Ausrüstung investiert, um den Auftritt aufzunehmen – für eine mögliche Veröffentlichung als Live-Album. Die Musiker spielten sich ein, machten einen Soundcheck und jammten eine Weile mit einigen Männern der Gefängnisband, während die Zuhörer nach und nach den Hof füllten. Mehr als 200 inhaftierte Frauen saßen links von der Bühne auf Klappstühlen. Mehr als 2000 Männer verteilten sich auf der grasbewachsenen Fläche, die mit Seilen abgesperrt war. Die Männer im Todestrakt mussten in ihren Zellen bleiben, konnten nur durch geöffnete Fenster lauschen. Das Konzert begann um ein Uhr. »Hallo, alle zusammen«, rief eine Frau der Gefängnisverwaltung. Sie stellte der Menge in Overalls den weißen Sheriff und einen bekannten weißen Richter vor und löste damit aggressive Buhrufe aus, die weit über den Innenhof hallten. 50 Aufseher mit dicken Schlagstöcken und halbautomatischen Gewehren Kaliber 50 streiften über das Gelände oder hatten ringsum die Wachtürme besetzt. Wirklichkeitsgesättigter konnte kein Konzert sein. Da die Sprecherin merkte, dass Spannungen in der Luft lagen, kürzte sie die Ankündigung ab und rief: »Würden Sie dann bitte vortreten, Mr King?« Und dann steigt B.B. auf das alte Schafott, gekleidet in einen karierten, olivgrünen Anzug. Ein Knallen von Sonny Freemans Snare Drum kündigt den ersten Song an: »Every Day I Have the Blues«. Die sechsköpfige Band setzt sich in Szene, die Mitglieder nehmen ihre Plätze ein – und shuffeln in taubenblauen Anzügen, befeuert von Freemans galoppierendem Swing Beat. B.B. dreht den Lautstärkeregler auf, um Lucille aus ihrem Schlummer zu wecken, seine kurvenreich-symmetrische Gibson-Gitarre. Er spielt die ersten Töne, klettert zu einer »blue note«*, verschiebt die Saite mit seinen kräftigen Fingern, um vom Des einen Halbton höher zum D zu gelangen, ehe er zurücktänzelt und die Solophrase auf einer endlos gehaltenen Note ausklingen lässt. B.B. lässt sein linkes Handgelenk auf und ab wedeln, um das schimmernde Vibrato zu erzeugen, sein Markenzeichen. Er hat das Gefühl, dass er und Lucille mit einer Stimme sprechen: Ein Teil macht dort weiter, wo der andere aufhört. Einige Takte später ist B.B. an der Reihe. »Ev’ry day, ev’ry day I have the Blues«, singt er mit einem kräftigen, volltönenden Bariton, der weit hinten in der zusammengedrückten Kehle geformt wird. Zwei Minuten später ist der Song schon zu Ende, und der Innenhof bricht in Applaus und Jubelrufe aus. Dieses Publikum konnte sich mit dem Blues in Verbindung bringen. Jetzt geht die Band über zu B.B.s Song, der sein Markenzeichen geworden war: »How Blue Can You Get«. Lucille entfacht ein Feuerwerk für die Ohren, das die Geschichte des urbanen Blues neu erzählt, und vieles zu dieser Geschichte hatte B.B. eigens auf seiner Gitarre beigetragen: ansteigendes Saitendehnen und Bending, Schnellfeuer-Staccato-Salven und gehaltene, sanft vibrierende Töne. Und dann singt B.B.: »I’ve been downhearted, baby, ever since the day we met«, faucht er und ruft seinem Publikum in Erinnerung, dass er nicht nur der weltbeste Blues-Gitarrist, sondern auch ein archetypischer Rhythm-&-Blues-Sänger ist. B.B. singt, und Lucille weint, und die Menge spricht mit ihm und jault und ruft zurück. Als B.B. ein wenig das Tempo herausnimmt und in eine affektierte, feminine Lesart der kulminierenden Bridge des Songs übergeht, droht das Lärmen des Publikums die Band zu übertönen – eine Freisetzung reiner, elektrisierender Energie, die B.B. wie Sauerstoff einatmet. So sehr die neuen weißen Fans B. B. auch bewunderten, sie wussten nicht, wie man bei einer B.B. King-Show mitgeht, wie man sich einbringt, genauso wenig, wie sie gewusst hätten, was man bei einem Gottesdienst einer afroamerikanischen Gemeinde zu tun und zu lassen hat. Doch hier im Gefängnis, als die Band mit einer etwas obskuren Single aus den 1950ern mit dem Titel »Worry, Worry, Worry« weitermacht, ruft B.B. das Publikum an, und die Leute antworten ihm, einzeln und gemeinsam. »Throw your arms around him«, heult er, und die Menge ruft zurück: »Yeah!« »Hold him close to you!« »Yeah!« »Look him straight in the eye!« »Yeah!« Der Song endet. Jetzt greift B.B. zurück auf Material, das fast 20 Jahre alt ist, um seine ersten großen Hits vorzutragen: »3 O’Clock Blues« und »You Know I Love You«; Songs, die er meist für ein schwarzes Publikum zurückhielt, wusste er doch, dass es viele in dieser Menge gab, die diese Hits schon damals in den 1950ern gehört hatten. Dies war B.B. King, der Blues Crooner. »Vergiss nicht, ›Sweet Sixteen‹ zu spielen«, ruft ihm jemand zu. »All right, Baby«, gurrt B.B. Und spielt genau diesen Titel. Die lautesten Jubelrufe kommen von einigen verstreut stehenden männlichen Insassen, die Kleider und Perücken tragen. Zunächst hatte die Band sie für Frauen gehalten. Das Konzert erreicht seinen...