E-Book, Deutsch, 224 Seiten
De Santis Die Fakultät
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30613-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-293-30613-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Homero Brocca ist ein genialer Schriftsteller. Niemand hat ihn je gesehen, nirgends gibt es Bücher von ihm. Seine Texte existieren nur in unendlichen Varianten. Als der junge Esteban Miró seine erste wissenschaftliche Stelle im labyrinthischen alten Fakultätsgebäude antritt, in dem nur noch obskure Institute ihr Dasein fristen, ahnt er noch nicht, dass er in einen gnadenlosen Kampf um den seltsamen Autor hineingezogen wird. Die wissenschaftlichen Gralshüter von Broccas möglicherweise gar nicht existenten Werken schrecken vor nichts zurück. Das Verhältnis zwischen Literatur und Leben, Fiktion und Realität wird immer unentwirrbarer.
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Das Institut
Meinen ersten Arbeitstag an der Fakultät hatte ich eine Woche nach meinem dreißigsten Geburtstag. Das Gebäude im Bajo-Viertel war eine Außenstelle der Universität, die kaum noch genutzt wurde. Umgeben von den Glaspalästen der Banken, eleganten Restaurants für die Angestellten und anderen schicken Ladenlokalen, wirkte es noch verlassener und heruntergekommener. Es beherbergte noch das Musikseminar (es gab einen Konzertsaal, einen Flügel und eine Tamburinsammlung), die Verwaltungen der Institute und das Seminar für orientalische Sprachen. Die Studenten der Fakultät kamen selten, was den Eindruck erweckte, das Gebäude sei den Studien des Abwesenden vorbehalten. In einer Statistik, die ich mit der tröstenden Gewissheit zur Kenntnis nahm, dass sich unsere finstersten Prophezeiungen über den geistigen Niedergang der Jugend bestätigten, hieß es, siebzig Prozent der Studenten wüssten noch nicht einmal von der Existenz des Gebäudes. Ich hatte – ein wenig spät, wenn ich meiner Mutter glauben darf – jenen dunklen Moment bereits durchlebt, den der Erhalt eines akademischen Grades mit sich bringt. Mit dreißig Jahren hielt ich das pergamentene Blatt in den Händen und wusste, dass die erste Jugend vorbei war und dass nun, unwiderruflich, der Ernst des Lebens auf mich wartete und von mir forderte, eine Frau und Arbeit zu finden. Schon seit meiner frühesten Kindheit hatte ich Alpträume, man würde mich zwingen, in einer Fabrik, in einer Tischlerei oder als Maurer mein Geld zu verdienen, was zur Folge hatte, dass ich den Zeitpunkt, an dem ich dem so genannten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen würde, möglichst lange hinauszögerte. Mein materieller Bedarf war gedeckt. Ich lebte mit meiner Mutter in einer spärlich, aber komfortabel eingerichteten Wohnung, die wir uns dank ihrer Pension, die sie als ehemalige Dozentin bezog, und einigen Ersparnissen, die uns mein Vater hinterlassen hatte, leisten konnten. Trotzdem: Ich wollte ausziehen, und dafür brauchte ich Arbeit. Ich bat meine Mutter um Hilfe, ohne ihr den zweiten Teil des Plans zu verraten. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass der vollständige Name meiner Mutter in gelehrten Kreisen wohl bekannt ist: Ich spreche von der Studienprofessorin Estela Korales de Miró, deren Name sowohl auf dem Umschlag des Handbuchs der spanischen Sprache für das dritte Schuljahr als auch auf dem des Handbuchs für den Schüler aus der Provinz Buenos Aires prangt. Als Schuldirektorin verabscheute sie jede Form der Demagogie: Noch heute erinnere ich mich an die nächtlichen Übergriffe von Schülern, die mit ihren Methoden nicht einverstanden waren und Steine gegen unsere Fenster warfen. Nichts davon brachte sie von dem Weg ab, den sie sich für ihr Leben zurechtgelegt hatte. Somit konnte ich mir sicher sein, dass sie Wort halten würde, als sie versprach, mir Arbeit an der Fakultät zu besorgen. Meine Mutter hatte während ihrer Jahre im Bildungsministerium eine Menge Freundschaften geknüpft. Einer dieser Freunde war der Professor Emiliano Conde, Direktor des Instituts für Nationale Literatur und Mitglied der Academia de Letras. Ich rief ihn an, und er gab mir einen Termin für Ende April, morgens im Institut. Zu meinem ersten Bewerbungsgespräch trug ich einen alten, etwas zu großen Anzug meines Vaters sowie meine einzige Krawatte. Im Institut angekommen, empfing mich die Bibliothekarin, eine blasse Frau mit dicken Brillengläsern, mit der Nachricht, Doktor Conde habe angerufen und ließe sich entschuldigen, aber gern würde er mich in drei Tagen erwarten. Wieder Anzug, Krawatte, polierte Schuhe. Aber auch dieses Mal erschien Doktor Conde nicht. »Um ehrlich zu sein, er kommt nie«, sagte die Bibliothekarin. »Ich habe ihn schon seit einer ganzen Weile nicht gesehen. Ab und zu ruft er an oder schickt einen Zögling von der Akademie, um seine Post zu holen. Nicht mal in sein Büro kommt man rein, weil er niemandem den Schlüssel gibt. Seit Wochen ist dort weder gefegt noch gelüftet worden.« Bei meinem dritten Besuch im Institut richtete mir die Bibliothekarin, die Celia hieß, von Conde aus, ich hätte den Job. »Aber er kennt mich doch gar nicht …« »Egal, er wird sich deinen Lebenslauf angesehen haben. Heutzutage ist ein clever geschriebener Lebenslauf eine starke Waffe.« Ich wusste nicht, ob ein Lebenslauf eine starke Waffe war, aber ich war mir sicher, dass meine Mutter ungefähr die Schlagkraft der Roten Armee hatte. Der so lange gefürchtete Moment war eingetreten: Ich hatte Arbeit! Celia gab mir ein paar Papiere, die ich unterschreiben musste, schickte mich zur Vervollständigung weiterer Unterlagen in ein Büro im Erdgeschoss und zeigte mir hinterher die Küche am Ende des Flurs. Als wir zurückkamen, erklärte sie mir die Ordnung des Archivs. »Mit den Karteikarten musst du gut aufpassen. Doktor Conde besteht darauf, dass jedes neue Buch mit einer kurzen Zusammenfassung katalogisiert wird.« »Kommen viele?« »Kein einziges. Aber man weiß ja nie.« Das Institut für Nationale Literatur umfasste vier Räume: einen Empfangs- und Lesesaal, einen zweiten Lesesaal, einen dahinter gelegenen Raum, der für die Studenten mit spezifischen Forschungsvorhaben reserviert war, sowie das stets verschlossene Büro des Doktor Conde. Celia nannte diese Räume Empfang, Zweiter Saal, Höhle und Krypta. Die Nutzung der einzelnen Räume war nach einem streng hierarchischen Prinzip organisiert, das dem Status des jeweiligen Studenten entsprach. So arbeiteten im Empfangssaal Studenten, die man nicht kannte, im zweiten Lesesaal solche, die regelmäßig kamen oder denen man vertraute, in der Höhle saßen die Spezialisten und in der Krypta niemand. Nur Conde persönlich. Meine erste Woche verbrachte ich damit, ein voll gestopftes Regal mit vergilbten Feuilletons aus dem letzten Jahrhundert zu sortieren. Danach machte ich es mir zur Aufgabe, Platz für einen Stapel Zeitschriften aus den Zwanzigerjahren zu finden und die ältesten Karteikarten zu erneuern, die einem regelrecht zwischen den Fingern zerbröselten, wenn man sie anfasste. Am Freitag dann verkündete Celia, man hätte ihr eine bessere Stelle angeboten: Ab sofort gehörte das Institut mir allein. In ihren Augen aber hatte sie den Blick derer, die noch einmal voll Mitleid auf das sehen, was sie zurücklassen, und glauben, ein besseres Schicksal erwarte sie. Nachdem Celia gegangen war, hatte ich eigentlich nichts mehr zu tun. Meine Arbeitszeiten waren Montag bis Freitag, 16 bis 20 Uhr. Während dieser vier Stunden blätterte ich ausgiebig im Politikteil der Zeitung, las gelegentlich einen Roman oder löste Kreuzworträtsel. Ab und an stöberte ich in der Bibliothek nach Material für meine Doktorarbeit, einer Biografie über den Dichter und Psychiater Enzo Tacchi, der vierzig Jahre lang Arzt am Hospiz de la Merced war. Nach einem von ihm entwickelten stenografischen System war es Tacchi gelungen, die oft wirren Aussagen der Patienten zu dokumentieren. Häufig besuchte er auch Gefängnisse, um mit Mördern zu sprechen und die Form ihrer Schädel zu erforschen. Das Ergebnis waren Tausende, mit winzigen Buchstaben voll gekritzelte Karteikarten. Mir war es gelungen, einige von ihnen in Fotokopie zu erhalten, die ich geduldig übersetzte. Weil aber Tacchi seine Beobachtungen ständig nach einem anderen Prinzip zusammengetragen hatte, schritt meine Arbeit nur sehr mühsam voran. Gestört wurde meine Ruhe nur durch gelegentliches Klopfen an der Tür. Jedes Mal dachte ich, es sei Doktor Conde, doch es kamen lediglich Studenten, die ein Buch suchten, das sie in den anderen Räumen nicht finden konnten. Eines Nachmittags dann – ich war, wie ich es mir angewöhnt hatte, lange vor dem regulären Dienstschluss schon am Zusammenräumen – kam eine große, blasse, mit einem grünen Kostüm bekleidete Frau ins Institut. Um ihren Hals trug sie einen Kettenanhänger mit ägyptischem Motiv. »Und Celia?«, fragte sie laut, ohne zu grüßen. »Ist nicht mehr da. Gegangen für immer«, erklärte ich mit der Genugtuung, ihr eine auf ewig gültige Absage erteilt zu haben. »Ich will sterben.« Mit leerem Blick ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. »Sind Sie der neue Bibliothekar?«, fragte sie schließlich, als sie ihre Enttäuschung halbwegs überwunden hatte. »Ja.« »Hat Celia Ihnen von unserer Abmachung erzählt?« »Nein.« »Gut. Auch egal. Lass mich in die Höhle. Ich muss diese Woche arbeiten.« Unvermittelt war sie zum Du übergegangen, und ich wusste nicht, ob es daran lag, dass sie mir einen Befehl erteilte oder weil sie Vertrauen gefasst hatte. »Den Schlüssel zu Condes Büro hast du nicht, oder?« »Nein. Celia hatte ihn auch nicht.« »Zu dumm, Conde würde mich hineinlassen. Wir sind seit Jahren befreundet.« Ich öffnete die Tür zur Höhle. Die Frau gab mir die Hand. »Professor Selva Granados.« »Esteban Miró.« Selva Granados fing an, stoßweise Papiere aus ihrer Nylontasche zu ziehen und sie auf dem ganzen Tisch zu verteilen. »Was ist Ihr Gebiet?« »Ich habe mich auf Homero Brocca spezialisiert.« Sie wirkte enttäuscht, als sie merkte, dass mir der Name nichts sagte. ...